Kitabı oku: «Ius Publicum Europaeum», sayfa 26
3. Europäisierung und Konstitutionalisierung als Hintergrund der neuen Verfassung aus dem Jahr 2000
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Während der Zwischenkriegsjahre wurden einige Versuche unternommen, die ex post-Verfassungskontrolle durch den Obersten Gerichtshof einzuführen. Jedoch reagierte die politische Mehrheit entschieden negativ. Manche Verfassungsrechtler versuchten, das Interesse an gerichtlicher Kontrolle bereits während der 1920er Jahre zu wecken, fanden aber wenig Resonanz. In seiner Stellungnahme zu einem Gesetzesentwurf im Jahr 1931 beurteilte das Parlament, in Übereinstimmung mit dem Bericht des Grundgesetzausschusses, den Vorschlag als so tiefgreifend und unvorhersehbar in seinen Auswirkungen, dass es vorzugswürdig sei, die Entscheidung über das legislative Verfahren in der Verantwortung der gesetzgebenden Körperschaft zu belassen.[10] Diese Aussage belegt eindeutig, dass man die wesentliche Bedeutung der ex ante-Verfassungskontrolle in Verfahrensbedingungen, nicht etwa in substantiellem Schutz von Grundrechten sah.
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Die Debatten vor und nach der „Regierungsform“ von 1919 fanden in der Tat nur wenig Anhaltspunkte im internationalen Vergleich; tatsächlich regelten zu dieser Zeit nur die Verfassungen der Schweiz (1875) und Kretas (1906) die gerichtliche Kontrolle ausdrücklich.[11] In den Diskussionen in Finnland zog man ein getrenntes Verfassungsgericht gar nicht in Betracht. Aus internationaler Sicht betrachtet ist das nicht sehr überraschend; das goldene Zeitalter der Verfassungsgerichte dämmerte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zumeist als Reaktion auf den Zusammenbruch demokratischer Systeme und die darauf folgenden erheblichen Menschenrechtsverletzungen. In der Zwischenkriegszeit blieben Österreich und die Tschechoslowakei einsame Ausnahmen, und selbst deren Verfassungsgerichte hatten vor allem institutionelle Konflikte und nicht Grundrechtsfragen im Blick.
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In Finnland ruhte die Frage der Verfassungskontrolle im Großen und Ganzen bis zum Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als man den Versuch einer umfassenden Verfassungsreform in die Wege leitete. In den fünfziger Jahren wurde sie jedoch bereits unter Verfassungsrechtlern diskutiert. Einige Rechtsgelehrte äußerten auch Zweifel hinsichtlich der vorherrschenden Ansicht, die den Gerichten die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen verbot. Immerhin war dieses Verbot nicht ausdrücklich in der Verfassung niedergeschrieben und man konnte behaupten, dass die „Regierungsform“ von 1919 die Frage offen gelassen und sie der Lösung durch die nachfolgende Rechtsprechung überantwortet hatte. Daher argumentierte Paavo Kastari, Professor für Verfassungsrecht an der Universität von Helsinki, wie folgt:“Wenn trotz allem der Gesetzgeber von seiner etablierten Praxis abweichen sollte und bewusst ein Gesetz mit einfacher Mehrheit annähme, das einer qualifizierten Mehrheit bedurft hätte, könnte dies eine schwere Verfassungskrise hervorrufen, in der der in der Öffentlichkeit tief verwurzelte Respekt für die Verfassung selbst die Gerichte dazu bringen würde, diese Frage zu überdenken.“[12]
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In der Nachkriegszeit brachte man sogar die Alternative eines Verfassungsgerichts in die Diskussionen ein. Dies beruhte auf den internationalen Entwicklungen und der Einführung von Verfassungsgerichten in Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Italien. Vor allem die Entwicklungen in Deutschland erregten wegen der traditionellen, jedoch in den Nachkriegsjahren erheblich geschwächten Vorherrschaft der deutschen Rechtskultur sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht Finnlands Interesse. Im Jahre 1969 wurde in Zusammenhang mit dem fünfzigjährigen Jubiläum der „Regierungsform“ ein Komitee von der Regierung eingerichtet, das aus den Vertretern der großen politischen Parteien bestand und die Verfassung überarbeiten sollte. Einzelne Stimmen erhoben sich, um die Idee eines Verfassungsgerichts zu unterstützen; der berühmteste Vertreter einer solchen verfassungsrechtlichen Neuerung war Veli Merikoski, zusammen mit Kastari der führende Verfassungsrechtler und außerdem ein liberaler Politiker. Aber dies war zumindest unter den damit befassten Politikern eindeutig eine Mindermeinung. Alles in allem stellte die Verfassungskontrolle eher eine Randfrage dar; die Beziehungen zwischen dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament sowie deren jeweilige Befugnisse beherrschten die Debatten. Außerdem erfreute sich das etablierte System, das auf einer ex ante-Normenkontrolle durch den Grundgesetzausschuss fußte, eines breiten Konsenses über das ganze politische Spektrum hinweg. In der Mitte der siebziger Jahre brachen die Vorhaben einer Verfassungsreform ab, vor allem wegen Präsident Kekkonens Widerstand gegen jegliche Schwächung der präsidentiellen Befugnisse.
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Erst nach dem Ende von Kekkonens langer Präsidentschaft war eine Verfassungsreform möglich. In einer ersten Phase in den achtziger Jahren lag dabei der Schwerpunkt darin, die präsidentiellen Befugnisse, von denen Kekkonen regen Gebrauch gemacht hatte, zu verringern und die parlamentarischen Elemente des politischen Systems zu stärken. In den neunziger Jahren war die Parlamentarisierung von zwei anderen Prozessen begleitet, die die verfassungsrechtliche Entwicklung beeinflussten: Zum einen bewirkte eine starke Veränderung in der Grundrechtskultur – was man auch als „Bruch“ bezeichnen könnte – eine Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung und gleichzeitig führten zum anderen der Beitritt Finnlands zum Europarat (1990) und zur Europäischen Union (1995) zu einer weitgehenden Europäisierung. Beide Prozesse bezeugen die zunehmende Wichtigkeit internationaler und transnationaler Faktoren bei der Bestimmung der Verfassungsrechtsentwicklung auch in Finnland. Beide haben die Bedeutung von Gerichten erhöht und den Weg für die Einführung eines begrenzten Systems der gerichtlichen ex post-Kontrolle durch die Verfassung von 2000 vorbereitet. Ich werde deshalb an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung dieser Faktoren, beginnend mit der Europäisierung der Rechtsordnung, einfügen.
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Die Europäisierung des Rechts schritt sehr schnell voran. Mit dem Begriff der Europäisierung beziehe ich mich auf beide Zweige des europäischen Rechts: sowohl das Recht der Europäischen Union (Unionsrecht) als auch das Recht des Europarates, das sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) konzentriert. Hinsichtlich der Rechtskultur ist das Unionsrecht eine eigenwillige Mischung von angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Einflüssen. Die Schlüsselstellung des Luxemburger Gerichtshofes bei der Entwicklung des Unionsrechts ähnelt einem common law System. So sind die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts überwiegend von der Rechtsprechung entwickelt worden. Dies gilt zunächst für den Charakter des Unionsrechts und sein Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen, wie beispielsweise sein Status als eigenständige Rechtsordnung, die unmittelbare Anwendbarkeit vor nationalen Gerichten, unmittelbare und mittelbare Wirkung sowie der Anwendungsvorrang vor nationalem Recht. Selbst die Europäische Grundrechtecharta, die seit dem Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich ist, kodifiziert zu einem großen Teil lediglich, was der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits als allgemeine Rechtsgrundsätze angewendet hatte. In seiner Rechtsprechung hat der EuGH außerdem so grundlegende Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit und den Schutz berechtigter Erwartungen (Vertrauensschutz) formuliert. Wenn die aktive Rolle des Gerichtshofes auf das angloamerikanische common law verweist, so stammen die wesentlichen Anregungen für materielle Prinzipien aus der römisch-germanischen Rechtsfamilie.
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Bekanntlich spielt der Europäische Gerichtshof eine herausragende Rolle in der Entwicklung des Unionsrechts, so dass er auf EU-Ebene mit der Tendenz zur Vergerichtlichung verknüpft wird. Des Weiteren hat die Zusammenarbeit des Europäischen Gerichtshofes mit den nationalen Gerichten, vor allem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, die Stellung der Letzteren in den nationalen Rechtsordnungen gestärkt: Die Gerichte tragen zur Entwicklung des Unionsrechts bei, wodurch die sonst dazwischengeschaltete Legislative umgangen wird. Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte von der mitgliedstaatlichen Legislative wird weiter gestärkt dadurch, dass sie nationales Recht im Einklang mit Unionsrecht auslegen müssen: Vor allem verpflichtet sie das Vorrangprinzip, alles entgegenstehende nationale Recht unangewendet zu lassen, einschließlich des später ergangenen nationalen Rechts oder des Verfassungsrechts. Dieses Prinzip war für einige Mitgliedstaaten schwer anzuerkennen, insbesondere Mitgliedstaaten, in denen der Vorrang der Legislative sakrosankt war wie etwa das Vereinigte Königreich mit der Lehre der Souveränität des Parlaments oder Frankreich mit der Rousseau’schen Vorstellung, dass die Legislative die volonté générale verkörpere.[13]
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In den nordischen Ländern war der Widerstand geringer, obwohl man auch hier die Legislative und nicht die Richter traditionellerweise als an der Spitze stehend ansah. In Finnland gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Gerichte die Grundlagen des Unionsrechts, wie etwa seine unmittelbare Anwendbarkeit und den Vorrang vor nationalem Recht, herausgefordert hätten. Die Unterordnung der Gerichte unter die Legislative zeigt sich nicht nur in dem hohen Stellenwert der Gesetze, sondern auch dem der travaux préparatoires als Rechtsquelle. Im Unionsrecht haben die travaux préparatoires kaum Bedeutung; hingegen stellt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eine weitaus wichtigere Rechtsquelle dar. Das Unionsrecht wird wahrscheinlich die nordische Rechtsquellenlehre dahingehend verändern, dass die Bedeutung der Präzedenzfälle zu- und die der travaux préparatoires abnimmt. Jedenfalls auf lange Sicht ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Gerichte in Unionsrechtsfällen eine deutlich andere Rechtsquellenlehre anwenden als in Fällen des nationalen Rechts.
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Die EMRK bildet den Kern des anderen Zweigs des europäischen Rechts. Wie bei internationalen Menschenrechtsverträgen üblich, sind die Bestimmungen der Konvention vage und lassen viel Spielraum für die Interpretation durch die Rechtsprechung. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine wichtige Rolle gespielt, nicht nur bei der Überwachung der Einhaltung der Konvention, sondern auch dabei, die genauen normativen Inhalte auszuarbeiten. Soweit die EMRK von nationalen Gerichten angewendet wird – entweder direkt oder durch die Interpretation des nationalen Rechts – entsteht ein Wechselspiel zwischen einem transnationalen Gericht und nationalen Gerichten, das die Entwicklung des transnationalen und nationalen Rechts ohne Intervention der Legislative beeinflusst.
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Das finnische Beispiel bezeugt dieses Wechselspiel. Die herrschende Meinung ist, dass sich die völkerrechtliche Verpflichtung Finnlands auf die EMRK bezieht, so wie sie durch den Straßburger Gerichtshof ausgelegt wird. Die EMRK ist in die finnische Rechtsordnung durch ein Parlamentsgesetz inkorporiert worden und dieses nationale Gesetz wird entsprechend der Rechtsprechung aus Straßburg ausgelegt. Somit definiert der EGMR als transnationales Gericht die Inhalte der finnischen Rechtsordnung immer wieder neu. Außerdem stellen die Konventionsrechte nach herrschender Meinung einen Mindeststandard dar, der durch die entsprechenden Verfassungsnormen gewährleistet sein muss. Deshalb hat die Rechtsprechung des EGMR einen unmittelbaren Einfluss auf das finnische Verfassungsrecht. Dementsprechend beruft sich der Grundgesetzausschuss des Parlaments in seiner ex ante-Verfassungskontrolle regelmäßig auf die Urteile des EGMR. In einigen jüngeren Präzedenzfällen hat auch der Oberste Gerichtshof Finnlands die Straßburger Rechtsprechung zitiert, z.B. als er bei der Anwendung einer strafrechtlichen Norm über eine Verletzung der Privatsphäre das Recht auf Privatsphäre mit der Pressefreiheit als allgemeine Prinzipien abgewogen hat. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof hat sich ebenfalls in mehreren Urteilen auf die EMRK und die Straßburger Rechtsprechung berufen, als er den Inhalt von Grundrechtsbestimmungen präzisiert hat.[14]
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Somit beeinflusst die Rechtsprechung des EGMR das durch die nationalen Gerichte angewendete Recht unmittelbar, ohne dass der Gesetzgeber intervenierend eingreift. Das Recht der EMRK erhöht – so wie auch das Unionsrecht – die Unabhängigkeit der Gerichte von der Legislative. Wahrscheinlich wird es auch die Rechtsquellenlehre verändern, zumindest in den nordischen Ländern. Die Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, das nationale Recht konform mit den Menschenrechten auszulegen, stärkt die Stellung von EGMR-Entscheidungen gegenüber den travaux préparatoires, deren traditionell starke Position dem Vorrang der Legislative und der auf das Parlament zentrierten Demokratie in den nordischen Ländern entspricht. In vielerlei Hinsicht ähnelt der Mechanismus des EMRK-Rechts, Einfluss zu nehmen, dem des Unionsrechts. Allerdings spielen nationale Gerichte im EMRK-Recht eine passivere Rolle als im Unionsrecht: Dadurch, dass das EMRK-Recht nur einen Mindeststandard sichert, legen die nationalen Gerichte zwar das Schutzniveau des Verfassungsrechts fest, jedoch neigen sie hinsichtlich der transnationalen rechtlichen Entwicklung dazu, nur Empfänger zu sein.
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Der Bedeutungszuwachs der Menschenrechte ist untrennbar mit der zweiten wichtigen Tendenz verbunden, welche die finnische Rechtsordnung seit den 1990ern prägte: der Konstitutionalisierung. Es ist fast ein Allgemeinplatz geworden, von einem „Bruch“ in der finnischen Grundrechtskultur zu sprechen, der mit der Reform des Grundrechtskatalogs der „Regierungsform“ von 1919 seinen Höhepunkt erreichte. Diese Reform, deren formaler Hintergrund der Beitritt Finnlands zur EMRK war, trat 1995 in Kraft. Natürlich stand kein abrupter, revolutionärer Wandel im Raum, denn frühe Symptome eines Wandels konnte man schon zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erkennen, zuerst in der Praxis des Ombudsmanns und in der Rechtswissenschaft. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof begann in den siebziger und achtziger Jahren Urteile zu fällen, die sich auf die Grundrechte der „Regierungsform“ von 1919 bezogen.[15]
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Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung wurde dadurch gestärkt, dass bedeutende Elemente der Grundrechtslehren des deutschen Bundesverfassungsgerichts übernommen wurden. Dies sind beispielsweise das Verständnis der Grundrechte nicht nur als individuelle subjektive Rechte, sondern auch als rechtliche Prinzipien mit Relevanz für die gesamte Rechtsordnung, die Drittwirkung der Grundrechte und die Schutzpflicht des Staates. In deutschen Diskussionen haben Kritiker des Bundesverfassungsgerichts diese Lehren als Hauptgrund der angeblichen Vergerichtlichung gesehen, einer Entwicklung hin zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“. Wie ich unten ausführen werde, hat in Finnland die eher restriktive gerichtliche ex post-Verfassungskontrolle, die durch die Verfassung von 2000 eingeführt wurde, entsprechende Tendenzen begrenzt. Aber die Zeichen der Konstitutionalisierung sind klar ersichtlich in der schnell zunehmenden Argumentation der Gerichte mit Grundrechten und der Einführung von grundrechtsbezogenen Prinzipien in allgemeinen Doktrinen in praktisch jedem Rechtsgebiet.
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Die neue Verfassung, die im Jahr 2000 in Kraft trat, kodifiziert die zahlreichen teilweisen Verfassungsreformen. Sie wurde entworfen von einem Komitee, das aus Vertretern politischer Parteien sowie Verfassungsrechtlern bestand. Das Parlament nahm die Verfassung mit nur einer Gegenstimme, also beinahe einstimmig, an. Zumindest auf einer grundsätzlichen Ebene lief die neue Verfassung auf eine bedeutende Kehrtwendung in der Verfassungskontrolle hinaus. Art. 106 der Verfassung gab den Gerichten ausdrücklich die Macht, ex post-Kontrollen in Bezug auf Parlamentsgesetze auszuüben, obwohl man auf der anderen Seite die Rolle des Grundgesetzausschusses in der ex ante-Kontrolle beibehielt. Dieser Aspekt der Verfassungsreform führte praktisch zu keiner Diskussion – was nur 15 Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Nur die Veränderungen in der Rechtskultur, welche die Prozesse der Europäisierung und Konstitutionalisierung angestoßen haben, können dies erklären.
§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle
II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle
§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle › 1. Hybride Modelle der Verfassungskontrolle
1. Hybride Modelle der Verfassungskontrolle
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Die Debatten bezüglich einer Verfassungskontrolle gruppieren sich gewöhnlich um drei grundlegende Verfassungsmodelle: das US-Modell der dezentralen gerichtlichen Kontrolle; das deutsche konzentrierte Modell eines Verfassungsgerichts; und das (vor 1998 bestehende) britische Modell des parlamentarischen Vorrangs, das keine externe Kontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung zulässt. Jedoch haben die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg neue Zwischenformen oder hybride Formen hervorgebracht, die nicht in die konventionelle Standardauswahl der US-Variante, der deutschen Variante des gerichtlichen Vorrangs oder des traditionellen britischen Modells des legislativen Vorrangs zu integrieren sind. Sie werden in den kritischen Erörterungen oft nicht wahrgenommen, obwohl man sie als Versuche ansehen kann, die Gefahren der Vergerichtlichung zu vermeiden, vor denen Kritiker gewarnt haben, während man gleichzeitig die grundlegende Notwendigkeit einer Verfassungskontrolle anerkennt. Das gilt für die Erneuerungen, die Stephen Gardbaum unter der Bezeichnung des New Commonwealth Model of Constitutionalism zusammengefasst hat. Er spielt dabei auf Kanada, Neuseeland und das Vereinigte Königreich an. Dies sind „Staaten die zuvor unter den wenigen letzten demokratischen Bastionen des traditionellen legislativen Vorrangs [waren]“. Zwischen 1982 und 1998 „…haben [sie] ein neues drittes Modell des Konstitutionalismus geschaffen, das zwischen den zwei entgegengesetzten Modellen der verfassungsrechtlichen und legislativen Vorherrschaft steht“.[16]
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Vor dem Jahr 2000 hielt Finnland an dem Modell des legislativen Vorrangs fest: Das finnische System erlaubte keine ex post-Kontrolle durch die Gerichte bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsgesetzgebung. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit bestand ausschließlich aus einer ex ante-Überprüfung durch den Grundgesetzausschuss des Parlaments. Mit der neuen Verfassung aus dem Jahr 2000 wechselte das finnische Modell hin zu den hybriden Formen oder Zwischenformen. Seine Einzigartigkeit liegt in seiner besonderen Kombination der abstrakten parlamentarischen ex ante- und der konkreten gerichtlichen ex post-Kontrolle.
§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle › 2. Ex ante-Kontrolle durch den Grundgesetzausschuss
2. Ex ante-Kontrolle durch den Grundgesetzausschuss
a) Die Zusammensetzung, die Sekretäre und Experten des Ausschusses
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Der Grundgesetzausschuss ist eine besondere quasi-gerichtliche Körperschaft. Seine Zusammensetzung unterscheidet sich aber nicht von anderen Parlamentsausschüssen, da er aus Parlamentsmitgliedern besteht. Gemäß den Verfahrensregeln des Parlaments hat der Ausschuss 17 Mitglieder und neun Stellvertreter (Art. 7 Abs. 1), die von der Vollversammlung gewählt werden (Art. 35 Abs. 1 der Verfassung). Die Mitglieder des Ausschusses wählen dann selbst den Präsidenten und den Vizepräsidenten.
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Die Zusammensetzung des Ausschusses spiegelt seinen politischen Charakter wider. Im Regelfall schließt der Ausschuss einige Juristen ein, aber eine juristische Ausbildung ist keine formale Voraussetzung für die Mitgliedschaft. Während der ersten Jahrzehnte seiner Existenz befanden sich unter den Mitgliedern des Ausschusses Universitätsprofessoren der Rechtswissenschaft oder andere bedeutende Juristen und Verfassungsrechtsexperten, die natürlich die Autorität des Ausschusses stärkten. Bis vor 15 bis 20 Jahren waren die Mitglieder ältere Parlamentarier, die, auch wenn sie nicht Juristen waren, große Erfahrung und Wissen in Verfassungsrechtsfragen gesammelt hatten. Das hat sich allerdings geändert und derzeit sind die Mitglieder tendenziell weniger erfahren als früher. Der Grund hierfür mag in dem gesteigerten Arbeitspensum des Ausschusses oder im Reiz eines stärker politisch orientierten Ausschusses liegen. Wie dem auch sei, die Veränderungen in der Zusammensetzung des Ausschusses haben die Bedeutung der Sekretäre und Experten des Ausschusses gestärkt.
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Schon von Beginn an wurde der Ausschuss von einem Sekretär unterstützt, aber erst seit 1987 hat er einen eigenen Vollzeitsekretär. Ein Assistenzsekretär in Vollzeit wurde dem Personal im Jahr 2000 hinzugefügt.[17] Der Sekretär – und, seit kurzem, der Assistenzsekretär – sind zumeist erfahrene Verfassungsrechtsjuristen.
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Eine noch größere Rolle spielen die Verfassungsrechtsexperten, die vom Ausschuss hinzugezogen werden. Die Experten des Grundgesetzausschusses haben freilich weder einen offiziellen Status noch wird ihre Rolle in der Verfassung erwähnt. Die einzig relevante Norm ist die allgemeine Bestimmung des Art. 37 der Verfahrensordnung, die besagt, dass Ausschüsse des Parlaments Experten hinzuziehen können. Dennoch, wie im Folgenden klar werden wird, ist der Beitrag der Experten gewöhnlich recht bedeutsam und wird es allem Anschein nach auch bleiben. Er trägt wesentlich zum quasi-gerichtlichen Charakter des Ausschusses bei.
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Während der russischen Herrschaft oder dem Interregnum von 1917 bis 1919 zog der Ausschuss kaum externe Experten bei. Das ist insbesondere verständlich, weil einige der bedeutendsten Verfassungsrechtsexperten der Zeit in der Arbeit des Ausschusses als Mitglieder mitwirkten. Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden immer öfter Experten beigezogen. In den zwanziger Jahren wurden 80% der Angelegenheiten, die eine Verfassungsinterpretation beinhalteten, ohne eine Anfrage bei externen Experten beraten. In den dreißiger Jahren waren es 50%, in den vierziger Jahren 31%, in den Fünfzigern 12% und in den Sechzigern nur noch 5%. Der letzte Ausschussbericht, der sich mit dem Thema Verfassungskontrolle befasste, bei dem man keine auswärtigen Experten hinzuzog, wurde 1961 herausgegeben.[18] Zurzeit beruft man Verfassungsrechtsexperten bei allen Angelegenheiten ein, die eine Verfassungskontrolle beinhalten. In einem kleinen Land ist dabei die Anzahl an Experten nicht sehr groß, was den hohen Grad der Auftragskonzentration erklärt. In der Zeit von 1920 bis 1970 waren die drei bei weitem am häufigsten hinzugezogenen Experten Professoren für öffentliches Recht an der Universität Helsinki.[19] Diese Dominanz der akademischen Verfassungsjuristen hat sich fortgesetzt. In den Achtzigern und Neunzigern des 20. Jahrhunderts hatten die Verfassungsrechtsprofessoren der Universitäten von Helsinki, Turku und Rovaniemi[20] eine besonders starke Stellung; in den Neunzigern verfasste jeder von ihnen im Durchschnitt in etwa 25 Gutachten pro Jahr für den Ausschuss.[21] Jedoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der Experten erweitert und der Ausschuss versuchte bei seiner Expertenauswahl, mehr Gewicht auf die erhebliche Sachkunde als auf den akademischen Status zu legen. Dennoch ragen vier oder fünf Experten, allesamt Universitätsprofessoren für öffentliches Recht, als besonders angesehen und am häufigsten hinzugezogen heraus.[22] In den letzten Jahren sind selbst Professoren aus anderen Rechtsgebieten als dem Verfassungsrecht hinzugezogen worden; dies kann man als Zeichen einer allgemeinen Konstitutionalisierung der Rechtsordnung sehen.
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Der Ausschuss entscheidet von Angelegenheit zu Angelegenheit, welche Experten hinzugezogen werden. Üblicherweise hält sich der Ausschuss an den Vorschlag des Sekretärs, doch können auch Mitglieder selbst Kandidaten vorschlagen. In der Regel werden alle Experten, die von irgendeinem Mitglied vorgeschlagen worden sind, berufen. Allerdings verlangt man, wie der derzeitige Präsident des Ausschusses bemerkt hat, manchmal Gründe für die Einladung einer vorgeschlagenen Person. Dies kann zur Rücknahme des Vorschlags führen. Nur sehr selten stimmt der Ausschuss über die Experten ab.[23]