Kitabı oku: «Ius Publicum Europaeum», sayfa 32
I. Einleitung
Der Beitrag wurde redaktionell bearbeitet von Nele Yang. Übersetzung aus dem Französischen von Dr. Karin Oellers-Frahm.
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Im vorliegenden Beitrag werden bestimmte Begriffe verwendet, deren konzeptionelle Abgrenzung einleitend geklärt werden soll. Der Begriff Verfassungsrechtsprechung (justice constitutionnelle) bezeichnet die Gesamtheit der Funktionen, die Rechtsprechungsorgane zur Gewährleistung der Verfassung wahrnehmen, unabhängig von der Art der Gerichtsbarkeit (Zivil-, Straf-, Verwaltungs- oder Verfassungsgericht). Mit anderen Worten steht der Begriff Verfassungsrechtsprechung für alle Erscheinungsformen innerhalb der französischen Rechtsordnung, in denen ein Gericht dazu beiträgt, Verfassungsrecht zu sprechen (dire le droit constitutionnel) und damit die Verfassungsrechtsprechung (jurisprudence constitutionnelle) zu entwickeln. Im Unterschied hierzu bezieht sich der Begriff Verfassungsgerichtsbarkeit (juridiction constitutionnelle) auf ein in der Verfassung vorgesehenes Rechtsprechungsorgan, dessen Aufgabenbereich ausschließlich auf die Verfassungsrechtsprechung beschränkt ist und welches damit bei ihrer Entwicklung eine besondere Rolle spielt. Dieses Organ wird allgemein als Verfassungsgericht oder Verfassungsgerichtshof, im französischen Verfassungssystem hingegen als Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) bezeichnet.
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Diese ungewöhnliche Bezeichnung hat materielle Relevanz; sie soll von vornherein dem Missverständnis vorbeugen, unter Verfassungsrechtsprechung ausschließlich Verfassungsgerichtsbarkeit zu verstehen und damit Verfassungsrechtsprechung in Frankreich mit dem Conseil constitutionnel gleichzusetzen. Zwar ist der Conseil constitutionnel ein Gericht, das fast ausschließlich auf Verfassungsrechtsprechung spezialisiert ist; er hat aber nicht das Monopol der Verfassungsrechtsprechung. Auch die Fachgerichte – die ordentlichen Gerichte ebenso wie die Verwaltungsgerichte – üben Verfassungsrechtsprechung aus und genießen dabei durchaus in gewissem Umfang Autonomie gegenüber dem Conseil constitutionnel. Die Fachgerichte tragen in Ausübung ihrer verfassungsrechtsprechenden Funktionen entscheidend zur sog. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung bei. Einen weiteren starken Impuls für die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung markierte 2008 die Einführung eines Verfahrens zur konkreten Normenkontrolle in die Verfassung in Form der „vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit“ (question prioritaire de constitutionnalité), das seit 1. März 2010 in Kraft ist. Dieses im französischen Recht neuartige Instrument hat, wie weiter unten noch ausführlich dargelegt wird, nicht nur die systemische Rolle des Conseil constitutionnel gestärkt, sondern auch die Einbindung der Fachgerichte in die Verfassungsrechtsprechung intensiviert – insbesondere der Cour de cassation und des Conseil d’État. Die gesamte Verfassungsrechtsprechung hat also von dieser einschneidenden Änderung des französischen Verfassungsrechts profitiert.
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Auch wenn eine Art „dogmatische Vulgata“ in der französischen Rechtsliteratur bestrebt war, die Verfassungsrechtsprechung ausschließlich auf die Zuständigkeit zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu reduzieren, muss noch einmal mit Nachdruck betont werden, dass der Begriff Verfassungsrechtsprechung im vorliegenden Beitrag wesentlich weiter gefasst wird. Wenn man unter Verfassungsrechtsprechung die Garantie der Verfassung im Wege der Rechtsprechung versteht, beschränkt sie sich, wenn es sich um Normenkontrolle handelt, nicht nur auf die Überprüfung von Gesetzen im formellen Sinn. Vielmehr betrifft sie auch von der Exekutive erlassene Rechtsverordnungen, Satzungen von Gebietskörperschaften oder öffentlich-rechtlichen Anstalten und sogar, noch allgemeiner, Verwaltungs- und Justizakte. Aber Verfassungsrechtsprechung erschöpft sich auch nicht in der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von normativen Akten oder Entscheidungen der öffentlichen Gewalt. Die Garantie der Verfassung schließt auch die Garantie der grundlegenden verfassungsrechtlichen Entscheidungen und Kompetenzverteilungen ein. In Bundesstaaten spielt z.B. die Beilegung föderativer Streitigkeiten eine wesentliche Rolle in der Verfassungsrechtsprechung. Dieses Problem stellt sich in Frankreich natürlich nicht. Jedoch sind auch die gerichtliche Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Parlamentswahlen und von Volksentscheiden im Allgemeinen, die Gewährleistung der Gewaltenteilung sowie die Garantie der persönlichen Integrität oberster Exekutivorgane des Staates – man denke z.B. an Anklagen gegen den Staatspräsidenten oder Minister – konstitutive Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung. Einige dieser Aufgaben werden ausschließlich vom Conseil constitutionnel wahrgenommen (z.B. Überprüfung der Wahl zum Parlament). Jedoch sind auch andere Verfassungsorgane mit Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung betraut. Ein Beispiel sind Anklagen gegen den Staatschef oder Minister, die in die ausschließliche Zuständigkeit von Sondergerichten, dem Hohen Gerichtshof (Haute-Cour, zuständig für Anklagen gegen den Präsidenten der Republik) und den Gerichtshof der Republik (Cour de la justice de la République, zuständig für Ministeranklagen), fallen. Bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Normen und Entscheidungen beschränkt sich die Zuständigkeit des Conseil constitutionnel auf die Prüfung formeller Gesetze. Die Kontrolle von Rechtsverordnungen und Satzungen, von Akten der Verwaltung und gerichtlichen Entscheidungen entzieht sich seiner Zuständigkeit; gleiches gilt für die Überprüfung eines formellen Gesetzes auf seine Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen. Schließlich ist der Conseil constitutionnel auch nicht der Hüter der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte und -freiheiten, sondern nur einer von mehreren: Die Garantie der Grundrechte ist das Fundament einer freiheitlich-demokratischen Verfassung; hierbei kommt dem Conseil constitutionnel zwar eine bedeutende, aber keineswegs die ausschließliche Rolle zu.
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Die französische Verfassung vom 4. Oktober 1958 setzt ausdrücklich den Präsidenten der Republik als das Organ ein, das „über die Einhaltung der Verfassung“ wacht (Art. 5 der Verfassung). Der Präsident ist also von Amts wegen der „Hüter der Verfassung“. Diese Bestimmung ist jedoch keine Kompetenznorm, sondern kann nur herangezogen werden, um Ziel und Zweck bestimmter Kompetenzen des Staatspräsidenten zu präzisieren. So obliegt es nach Art. 16 der Verfassung dem Präsidenten, den Notstand zu erklären und auf dieser Grundlage alle zur Wiederherstellung des Normalzustands erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der Conseil constitutionnel hat entschieden, dass es nach Art. 16 in Verbindung mit Art. 5 der Verfassung nicht zulässig ist, während der Anwendung von Art. 16 die Verfassung zu ändern.[1] Art. 16 in Verbindung mit Art. 5 setzt also den Präsidenten als Hüter der Verfassungsordnung im Notstand ein. Er kann die Situation aber nicht nutzen, um ein Verfahren zur Verfassungsänderung in Gang zu setzen. Die Verfassung der V. Republik gibt auch keinen Anlass, an die berühmte Diskussion zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen anzuknüpfen.[2] Der Staatspräsident ist nur in den engen Grenzen der ihm übertragenen Kompetenzen Hüter der Verfassung. Im Laufe der Entwicklung des Rechts und der Verfassung wurden auch den Gerichten, dem Conseil constitutionnel und den Fachgerichten, umfangreiche Zuständigkeiten zur Garantie der Verfassung übertragen. So kann der Präsident der Republik die Verkündung eines Gesetzes nicht mit der Begründung ablehnen, dass es verfassungswidrig sei: Hat er Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, kann er vom Parlament eine – und nur eine einzige – neue Beratung verlangen (Art. 10 der Verfassung) oder den Conseil constitutionnel befassen, der verbindlich über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes entscheidet (Art. 61 Abs. 2 Verfassung). Der Präsident kann jedoch die Unterzeichnung bestimmter Exekutivakte verweigern, die unter seinem Vorsitz im Ministerrat beschlossen wurden. In diesem Fall hat er das letzte Wort, da es kein gerichtliches Verfahren gibt, um die Verweigerung anzufechten. Allerdings gibt es hierfür nur äußerst wenig praktische Beispiele, die zudem allesamt in die Zeit der „Kohabitation“[3] fallen. Da die Verweigerung nicht rechtlich begründet werden muss, kann sie auf der Verfassungswidrigkeit des Aktes oder auf rein politischen Erwägungen beruhen. In dieser Situation liegt es völlig im Ermessen des Präsidenten, als Hüter der Verfassung zu agieren.
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Nach diesen einführenden Bemerkungen werden im Folgenden die Geschichte der Verfassungsrechtsprechung in Frankreich vom Ancien Régime bis zur V. Republik dargelegt, die Verfassungsgerichtsbarkeit der V. Republik, d.h. der Conseil constitutionnel, und schließlich das System der Verfassungsrechtsprechung unter der V. Republik im weiteren Sinn, wobei nicht nur der Conseil constitutionnel, sondern das Gesamttableau zu betrachten ist, um die Interaktionen zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den anderen Akteuren der Justiz verständlich zu machen.
§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › II. Entstehung und Entwicklung
II. Entstehung und Entwicklung
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Die große Zeitspanne vom Ancien Régime bis zur V. Republik kann in vier Abschnitte unterteilt werden. Vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Französischen Revolution entstand durch zunehmende Anerkennung der Souveränität des Königs und seiner Gesetzgebungsbefugnis allmählich der Staat in Frankreich. Als Reaktion hierauf etablierte sich eine durch Gerichte verkörperte Gegengewalt (1.). Die Revolution markierte sodann aufgrund der tiefgreifenden Änderung, dem der Begriff „Verfassung“ unterzogen wurde, eine erhebliche Zäsur, so dass die Justizorgane nicht als natürlicher Richter dieser als Ausdruck nationaler Souveränität eingesetzten Verfassung angesehen werden konnten. Die Frage der „Verfassungsgarantie“ musste völlig neu gedacht werden (2.). Das 19. Jahrhundert, von 1799 bis 1875, musste das Vermächtnis der Revolution aufarbeiten und ihre Auswirkungen ordnen, was alternierend durch monarchischen Cäsarismus und Konservatismus geschah, und nur durch die drei Jahre republikanischen Interims nach der Revolution von 1848 unterbrochen wurde. Die Einsetzung besonderer Organe zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Akten der Verwaltung scheiterte sowohl an der Fehlkonstruktion dieser Organe als auch an der Tatsache, dass ein Hüter der Verfassung hinter einem Fassadenkonstitutionalismus logischerweise überflüssig ist. Indes konnte die ordentliche Gerichtsbarkeit eine zwar begrenzte, aber dennoch bedeutende Rechtsprechung entwickeln oder fortschreiben, die bestimmte justizielle Garantien der Verfassung betraf (3.). Im Rahmen der dauerhaften Etablierung der demokratischen Republik 1875, die vom nicht schriftlich niedergelegten aber politisch bedeutsamen Prinzip der parlamentarischen Souveränität geprägt war, fand die Frage der Verfassungsrechtsprechung nur minimale Antworten, da die Überprüfung von Gesetzen und parlamentarischen Akten verboten war (4.).
§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › II. Entstehung und Entwicklung › 1. Die Verfassungsrechtsprechung im Ancien Régime
1. Die Verfassungsrechtsprechung im Ancien Régime
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Seit Ende des Mittelalters verpflichtete der König von Frankreich als „fons iustitiae“ die Richter, königliche Akte jeglicher Art in Form königlicher Briefe (lettres royales) nur zu befolgen, wenn diese Briefe „angemessen und vernünftig“ waren (civiles et raisonnables), wie es die berühmte Verordnung von Montil-les-Tours von König Karl VII. aus dem Jahre 1453 bestimmte.[4] Diese Verordnung wiederholte nur eine von den Königen Frankreichs zumindest seit Mitte des XIV. Jahrhunderts vertretene Haltung.[5] Es handelte sich dabei zweifellos nicht um eine Kontrolle der „Verfassungsmäßigkeit“, da seinerzeit der Begriff „Verfassung“ noch nicht die heutige Bedeutung hatte. Die königlichen Akte wurden auf ihre Vereinbarkeit mit dem ius civile und ius naturale überprüft und die Gerichtshöfe mussten es ablehnen, einen unangemessenen oder unvernünftigen Brief zu registrieren oder anzuwenden. Die Parlements und andere oberste Gerichtshöfe schickten den Brief an den Rat des Königs (Conseil du Roi) zurück und gaben dabei die Gründe (remonstrances) für die Ablehnung der Registrierung an. Die remonstrances wurden nicht veröffentlicht, die Beratung zwischen der königlichen Entourage und der Justiz war vertraulich. Die Gerichtshöfe übten jedoch nur justice retenue aus. Der Monarch konnte sie jederzeit zwingen, seine lettres royales zu registrieren und anzuwenden, denn die Gerichte waren ausschließlich in Ausübung der königlichen Souveränität tätig. Ihre Rechtsprechung bezog Autorität allein aus der Person des Königs, der seine Legitimität wiederum aus dem traditionellen Bild des Prinzen als Gerichtsherrn herleitete. Der lettre de jussion oder in ganz außergewöhnlichen Fällen der lit de justice[6] zwang die Richter zum Gehorsam gegenüber dem Willen des Königs, der die Souveränität des Staates verkörperte.
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Damit waren die Grundlagen des Systems gelegt, das bis zur Revolution von 1789 galt, auch wenn es zunehmend unter den wachsenden Spannungen zwischen den Parlements und dem Monarchen litt, die unter der Regentschaft von Ludwig XIV. ihren Höhepunkt erreichten und gegen Ende der Herrschaft von Ludwig XV. sowie unter Ludwig XVI. erneut aufbrachen.[7] Eine wesentliche Ursache für diese Spannungen lag in der Entwicklung der Macht des Monarchen. Die Beibehaltung der absoluten Monarchie seit Ende des 16. Jahrhunderts gab dem Bild der Macht des Königs ein neues Gepräge: Er war nicht mehr nur König und Gerichtsherr (roi-justicier), sondern nunmehr auch Hüter des Staates und somit Depositar der „Staatsräson“ – eine Aufgabe, die mit seiner richterlichen Funktion in Konflikt geraten konnte.[8] Die Parlements, die ihre Ermächtigung zur richterlichen Tätigkeit durch den König erlangten und ihr Amt unter seiner Aufsicht ausübten, wurden damit zu der Instanz, die durch ihre remonstrances (siehe oben Rn. 7) die Macht des Königs sozusagen mit sich selbst in Widerspruch setzten: Justiz vs. Staatsräson. Im Verlauf des Grand Siècle verkörperte der Monarch die Moral der Helden von Corneille:[9] So wie Liebe ohne Ehre keine Liebe wäre, wäre Rechtsprechung ohne Würde des monarchischen Staates keine Rechtsprechung.[10] Während der König der Bedeutung der Staatsräson deutlichen Vorrang einräumte, orientierten sich die Gerichtshöfe unter Einfluss des Jansenismus eher an Racine: Die Liebe zur Rechtsprechung darf nicht dem Ruhm des Staates geopfert werden.[11] Damit wurde der Konflikt unvermeidlich, der unter der Herrschaft von Ludwig XIV. (1643–1715) seinen Höhepunkt erreichte. Ludwig XIV. untersagte den Parlements ausdrücklich, Gesetze des Königs auszulegen, und schränkte das Recht der remonstrances erheblich ein, das erst nach seinem Tod 1715 wieder völlig hergestellt wurde und damit den Konflikt am Ende des Ancien Régime wieder aufleben ließ.
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Zwei weitere Aspekte sind im Kontext der Überprüfung königlicher Akte durch die Gerichtshöfe von Bedeutung. Zum einen wurde die Kontrolle von Gesetzen im 17. und 18. Jahrhundert allmählich auf ein legitimatorisches Fundament gestellt, indem die Parlements sich auf die Achtung der „Verfassung“ des Königreichs beriefen, wobei der Begriff „Verfassung“ eine wachsende Zahl von durch die Richter des Ancien Régime als „Grundgesetze des Königreichs“ definierte Gesetze bezeichnete. Die Verwendung des Begriffs „Verfassung“[12] ermöglichte es, bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von königlichen Akten einen bestimmten Maßstab anzulegen. Andererseits konnten die Gerichtshöfe – unabhängig von ihrer formellen Zuständigkeit zur Auslegung von Gesetzen – unter Berufung auf die „Verfassung“ auch deshalb königliche Akte bis hin zur Unkenntlichkeit ihres eigentlichen Sinns auslegen, weil ihre Urteile nicht der Begründungspflicht unterlagen. Unter diesen Einschränkungen und in diesen Grenzen kann man von einer Art gerichtlicher Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, Verordnungen und Akten des Königs sprechen.
§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › II. Entstehung und Entwicklung › 2. Die Revolution und die Frage der Verfassungsgarantie
2. Die Revolution und die Frage der Verfassungsgarantie
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Die Französische Revolution war bekanntlich vor allem gegen den monarchischen Absolutismus gerichtet. Das heißt aber nicht, dass die revolutionäre Ideologie nicht auch gegen die Macht der Richter und Parlements aufbegehrte. Denn diese hatten sich die Rolle der Repräsentanten der Nation angeeignet, eine Rolle, die nach der im Jahre 1789 herrschenden Meinung nur den legitim eingesetzten Organen zustand, die die volonté générale verwirklichen, also Gesetze erlassen sollten.[13] Mit dem Ancien Régime gingen auch die Gerichtsinstanzen unter; es stand nicht zur Debatte, den bisherigen Richtern Kontrollbefugnisse über Akte des Gesetzgebers oder auch der Verwaltung einzuräumen. Das Gesetz vom 16. und 24. August 1790 unterscheidet und trennt die rechtsprechenden von den administrativen und von den legislativen Organen: Die Gerichte „beteiligen sich weder direkt noch indirekt an der Ausübung der Gesetzgebung, noch verhindern oder suspendieren sie die Durchführung der vom König bestätigten Dekrete der Legislative, unter Androhung der Amtspflichtverletzung“ (Art. 10). Sie sind gehalten, Gesetze unverzüglich und ohne Beanstandung zu registrieren (Art. 11). Sie sind nicht befugt, Verordnungen zu erlassen und haben die Pflicht, sich bei Auslegungsschwierigkeiten von Gesetzen an das Legislativorgan zu wenden (Art. 12). Schließlich ist es ihnen untersagt, „in irgendeiner Weise die Tätigkeit der Verwaltung zu beeinträchtigen“ (Art. 13). Das Prinzip der Gewaltenteilung, das hier zum Ausdruck kommt, reduzierte die Justiz der Revolution auf eine „in gewisser Weise machtlose Gewalt“, die nur „der Mund des Gesetzes“ ist.[14] Diese strikte Trennung der drei Gewalten sollte die nationale Souveränität dadurch garantieren, dass es jedem nicht repräsentativen Organ formal untersagt war, durch Erlass von Verordnungen, Kontrolle oder Auslegung von Normen an der Äußerung der volonté générale teilzuhaben.
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Anders als lange behauptet, gab es aber auch zur Zeit der revolutionären Verfassungen – außer zur Zeit des Grande Terreur – Mechanismen der Verfassungsgarantie, die eine zwar beschränkte, aber dennoch wirksame Einhaltung der Verfassungsbestimmungen sicherstellten, insbesondere der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l’Homme et du Citoyen).[15] Einerseits überprüfte das Tribunal de cassation die Verfassungsmäßigkeit der ihm vorgelegten Urteile.[16] Andererseits zögerten zur Zeit der „administrateur-juge“ (Administrativjustiz) die höheren Verwaltungsbehörden nicht, die Verfassungsmäßigkeit von Akten unterer Behörden zu kontrollieren.[17] Und schließlich war zwar nach der Verfassung von 1791 „die Person des Königs unverletzlich und heilig“,[18] aber die Minister konnten für Vergehen gegen die nationale Sicherheit und die Verfassung verantwortlich gemacht werden.[19] Diese strafrechtliche Verantwortung wurde vor der Haute Cour nationale geltend gemacht, die ausdrücklich der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet war und mit Richtern des Tribunal de cassation und hauts-jurés (Oberschöffen) besetzt war.[20] Auch hier war also eine Art justizieller Verfassungsgarantie vorgesehen.
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Diese Grundsätze blieben mit Ausnahme einiger unerheblicher Änderungen auch unter der Verfassung vom 5. Fructidor, Jahr III (22. August 1795) in Kraft, d.h. während des Direktorialregimes.[21] Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Abbé Sieyès anlässlich der Ausarbeitung der Verfassung, ein neues Organ – „Jurie constituionnaire“ genannt – zu schaffen und mit der Aufgabe zu betrauen, verfassungswidrige Akte jeder der drei Gewalten auf Antrag eines Einzelnen oder einer der beiden Gesetzgebungskammern aufzuheben. Sieyès begründete seinen Vorschlag damit, dass eine Verfassung ohne derartiges Organ toter Buchstabe bleibe und sich die verfassten (constitués) Gewalten in einem „Naturzustand“, einem dauerhaften Kriegszustand, befänden. Die Jurie constitutionnaire solle hier die Funktion eines obersten Schiedsrichters wahrnehmen und müsse daher dieselbe Legitimität genießen wie die Gesetzgebungskammern, deren Akte sie aufheben könnte. Die Jurie müsse also auch ein Repräsentativorgan mit 108 Mitgliedern sein.[22] Für die Mehrheit der Mitglieder der Convention war das Konzept eines „repräsentativen Justizorgans“[23] oder eines Repräsentativorgans der Justiz unvorstellbar: Repräsentieren hieß für sie nicht Rechtsprechen, sondern Gesetzgeben. Außerdem wurde dem Vorschlag von Sieyès die Frage von Juvenal entgegengehalten: „Quis custodiet ipsos custodes?“. Aus diesen Gründen lehnte die Convention den Vorschlag von Sieyès ab und behielt im Wesentlichen die Regelungen von 1789/1791 bei.
§ 99 Verfassungsrechtsprechung in Frankreich › II. Entstehung und Entwicklung › 3. Die Verfassungsrechtsprechung zwischen Cäsarismus und konstitutioneller Monarchie