Kitabı oku: «Das schwarze Herz», sayfa 2
Drittes Kapitel
Am Abend dieses denkwürdigen Tages sahen sich Albrecht und Julius bemüßigt, den Mordfall für einige Zeit Mordfall sein zu lassen und in die schillernde Welt der preußischen Gesellschaft einzutauchen. Die Markgräfin Dorothea von Sternau, eine ebenso vermögende wie schrullige alte Jungfer, hatte die Schönen und Reichen zu einer Soiree auf ihren Landsitz geladen. Anlass zur Feier gab der Geburtstag ihrer Schoßhündchen, zweier kleiner und verwöhnter Promenadenmischungen, welche die ehrenwerte Dame vor einigen Jahren beim Prenzlauer Tor aufgelesen hatte. So exzentrisch und verschroben der Grund für dieses fröhliche Beisammensein auch war – den beiden Freunden war es einerlei; sie nutzten die Gunst der Stunde, um Beziehungen zum Hochadel zu knüpfen.
Die Huld ihres Besuches in diesem ausgewählten Zirkel lag in einem äußerst delikaten Fall begründet, den Julius und Albrecht einst mit Bravour und zur völligen Zufriedenheit der alten Gräfin gelöst hatten: Sternaus Liebesbriefe waren verschwunden gewesen. Diener und Hausgesinde wurden verdächtigt. Die adlige Herrin beschuldigte Sekretäre und Köche, Diebe der verfänglichen Korrespondenz zu sein. Sie verstieg sich gar so weit, Spione und ausländische Kriminelle für das Verschwinden ihrer amourösen Zeilen verantwortlich zu machen.
Da ihm seine Zeit zu kostbar war, um sie mit derartigen Belanglosigkeiten zu vertrödeln, übergab Kommissar Horlitz den Fall seinen zwei Adepten. Diese fassten die Gelegenheit beim Schopf. Binnen weniger Stunden hatten Albrecht und Julius den ganzen Sachverhalt entwirrt, und die Lösung hatte ihre Ursache in einem ganz profanen Umstand: Gräfin Dorothea, die vergessliche Jungfer, hatte schlicht und einfach die Briefe verlegt. Sie steckten als Lesezeichen in einem Buch, das Julius in ihrer Bibliothek auf der Lesekommode fand – pikanterweise in Abbé Prévosts unrühmlicher Geschichte des Chevaliers des Grieux und der Manon Lescaut. Die Ausgabe war völlig zerlesen und ihre erotischsten Stellen mit roter Tinte umrandet.
Wie dem auch sei, jedenfalls quetschten sich die zwei Freunde gegen acht Uhr abends zwischen geparkten Kutschen und Droschken hindurch, bis sie vor dem schmiedeeisernen Eingangstor der Villa Sternau standen, und zeigten einem der Türsteher, die man in lächerliche silberne Fantasie-Uniformen gesteckt hatte, ihre mit Blattgold umrandeten Einladungen.
Der Diener begutachtete die krakelige Handschrift seiner Herrin, blickte Julius leicht irritiert an und reichte ihm die Karte wortlos zurück. Der Tatortzeichner lächelte sinnig, denn er wusste um den kuriosen Inhalt des Textes:
Ich werde tunlichst darauf achten, dass die Luft in meinem Salon Ihren kriminellen Spleen verscheuchen wird.
Herzlichst, Ihre Gräfin D.
Es erübrigte sich zu sagen, dass der Unterschied zwischen »kriminell« und »kriminalistisch« noch nicht in die Hautevolee vorgedrungen war.
Julius und Albrecht betraten das Grundstück und fanden sich in einem der schönsten Gärten außerhalb der Berliner Zoll- und Akzisemauer wieder. Sorgfältig gestutzte Buchsbäume bildeten mehrere Quadrate, in denen die Gemüsebeete nicht bloß nützlich sein sollten, sondern ein dekoratives Element abgaben. Das Blaugrün des Lauchs stach ab vom lichten, hellen Grün des winterlichen Feldsalats. Dazwischen hatte man Rosenkohl und ein paar Steckrüben eingebettet und an den Ecken und Kreuzungen der Vierecke kleine Teiche ausgehoben, die von hölzernen Stangen überdeckt waren, welche ihrerseits von Kletterrosen überwuchert wurden. Auf mit Kies bestreuten Pfaden zwischen den Quadraten hindurch verlief der Weg zum Haus. Alles war von unzähligen Fackeln beleuchtet und in ein irisierendes Licht getaucht. Im Frühling und Sommer, wenn bei den meisten Pflanzen die Blütezeit gekommen war, würde die Anlage ein unvergessliches Bild abgeben.
Ein weiterer Diener empfing sie an der Eingangspforte und führte sie ins Gebäude, das aus ockerfarbenem Stein bestand. Der weitere Weg ging vorbei an prächtigen Möbeln und hinein in einen mondän eingerichteten Saal, dessen Fenster hin zum Garten zeigten. Etliche Gäste waren bereits anwesend, und der Diener kündete Bentheim und Krosick an, wie es einst wohl ein sklavischer Nomenklator der alten Römer gemacht haben würde: Laut und deutlich rief er ihren Vor- und Zunamen und räusperte sich, bevor er die Berufe des Tatortfotografen respektive Tatortzeichners erwähnte, die hier, bei den oberen Zehntausend, nicht gerade als gesellschaftsfähig galten.
Die Damen und Herren drehten sich für einen Augenblick zur Tür und bedachten ihre Wenigkeit mit einem belanglosen Nicken, und dann kam auch schon Gräfin Dorothea angerauscht, ihre zwei obligaten Schoßhündchen auf den Armen. Julius begrüßte sie warmherzig und kramte eine Bockwurst aus der Hosentasche hervor, die er speziell für diesen Augenblick eingepackt hatte.
»Sieh an, ein Geburtstagsgeschenk für meine Lieben!«, entfuhr es der erfreuten Dame. »Ach, es ist erbärmlich«, plauderte Gräfin Dorothea drauflos, »ich kokettiere und kokettiere, aber niemand würdigt mich auch nur eines Blickes. Glauben Sie, ich finde hier einen Gatten?« Und ohne dass der Angesprochene auch nur eine Silbe hätte antworten können, fuhr sie fort. »Dort drüben, sehen Sie, Julius? Dort steht Hermann von Thile, einer unserer Unterstaatssekretäre. Daneben parlieren die Herren Fontane, Möllhausen und Galen. Gehen Sie nicht hin, ich warne Sie; die reden ohne Unterbruch über ihre miesen Texte. Und da hinten, der mit dem Sektglas in der Hand, das ist ein Minister. Aber fragen Sie mich jetzt nicht, was er ministriert; ich bin doch immer so zerstreut und vergesse diese Dinge gleich wieder. Sowieso, diese Politik … Haben Sie übrigens meine neue Fassade bewundert?«
Bentheim verneinte.
»Das ist schade«, bemerkte sie mit Nachdruck. »Äußerst bedauerlich. Die Steine habe ich extra aus La Gaude kommen lassen. Das liegt in Frankreich, müssen Sie wissen. Aber Sie sind ein Studiosus; ich rede und rede, und Sie wissen das bestimmt besser als ich.«
Julius hüstelte leicht irritiert, streichelte ihren Hunden über die Köpfe und entschuldigte sich mit dem Verweis, einen Bekannten unter den Gästen entdeckt zu haben, den Journalisten Friedrich Goedsche. Gräfin Dorothea nahm ihm die Notlüge ab.
Wenig später, nach einer Anstandspause von fünf Minuten, die Julius und Albrecht im Eingangsflur auf und ab gehend hinter sich gebracht hatten, betraten sie erneut den Raum. Albrecht schnappte sich ein Glas Champagner von einem der Tabletts und gesellte sich mit Julius zu einer Ansammlung Männer und Frauen, die gerade dabei war, heftig über die weltpolitische Lage und insbesondere über die neu gegründete preußische Provinz Hessen-Nassau zu disputieren. Das Gespräch zog sich hin und wurde allgemein, bis schlagartig die Damen der Runde verstummten. Ihre Augen waren auf die Saaltür gerichtet, wo soeben ein junger, dandyhaft wirkender Gentleman Stellung bezogen hatte. Groß und dominant, mit viriler Ausstrahlung, betrachtete er herausfordernd die Gesellschaft.
»Das ist er«, seufzte die Frau zu Albrechts Linken. »Er sieht verdammt gut aus. Wenn er nur nicht diesen Pakt geschlossen hätte …«
»Verzeihen Sie. Aber welchen Pakt?«, erkundigte sich der Tatortfotograf.
Die Dame starrte ihn verständnislos an.
»Sie kennen den Vicomte de Rastignac nicht?«
»Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«
»Meiden Sie ihn!«, befahl ihm die Frau mit Nachdruck. »Man erzählt sich, er pflege Freundschaft mit Werwölfen. Er steht mit dem Bösen im Bunde.«
Obgleich es sich einer Dame gegenüber nicht ziemte, lachte Julius, der dem Gespräch gefolgt war, unwillkürlich auf.
»So, so«, meinte Albrecht süffisant. »Trägt Ihr Vicomte denn ein Kainsmal? Als Franzose wird er am Ende gar ein Katholik sein. Das wäre bei uns bereits Grund genug, ihn aufzuhängen.«
»Zwei Gründe«, warf Julius leichthin ein. »Franzose und Katholik.«
»Sie belieben zu scherzen«, entgegnete die Frau sichtlich verärgert, bevor sie sich brüsk abwandte.
Julius zuckte mit den Achseln und schickte sich in eine weitaus interessantere Konversation mit einem alten Baron, der zufällig in der Nähe stand.
Drei Stunden später, als die Soiree zu Ende war und die letzten Gäste das Haus verließen, sollte jener besagte Vicomte tatsächlich vor dem Tatortzeichner Aufstellung beziehen und ihn in ein völlig unerwartetes Gespräch verwickeln. Sie standen auf dem Gehweg vor der Villa Sternau: Julius, Albrecht und der Franzose. Die Haare des Ausländers waren leicht pomadisiert, der Anzug tadellos geschnitten, das Gesicht glatt rasiert und die Augen stechend.
»Dacascos Rastignac«, stellte er sich freundlich lächelnd vor, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, seinen Titel oder zumindest sein Adelsprädikat zu nennen. »Und Sie sind die Herren Bentheim und Krosick, nicht wahr? Die berühmten Polizeiaspiranten, wie mir die reizende Gräfin Dorothea heute mitgeteilt hat.«
Er besaß den unvermeidlichen Akzent all jener, die hinter Lothringens Nordosten lebten. Das I betonte er, das R sprach er viel zu oft mit, wo es im Deutschen oft verschluckt wird, und das im Französischen stumme Anfangs-H übersah er auch in seinen Übersetzungen.
Mit der gebotenen Bescheidenheit fügte Julius an, dass sie bloß ihre Arbeit taten wie jeder andere anständige Mann auch. Sein Gegenüber erschien Bentheim trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner Jugend einnehmend und liebenswürdig zu sein. Um den Hals des Franzosen hing ein grauer Schal, der auf Höhe der Schultern mit einem roten Tatzenkreuz geschmückt war. An den Fingern der rechten Hand glänzten zwei teure Ringe.
»Ich habe heute Morgen die Gazetten gelesen, Herr Bentheim, die National-Zeitung, die Vossische und die Spenersche. Ich muss schon sagen, diese Geschichte mit dem toten Herzog hat ein richtiges Rauschen im Blätterwald verursacht. Haben Sie bereits einen Anhaltspunkt?«
»In Bezug auf wen oder was?«
Julius gab sich wortkarg. Langsam fröstelte er ein wenig.
»Natürlich in Bezug auf den Täter«, lachte der junge Vicomte auf. »Solche Mördergeschichten interessieren mich ungemein. Sie wissen schon: Marie-Catherine Cadière und Jean-Baptiste Girard, die Marquise de Brinvilliers und der Chevalier Godin de Sainte-Croix, Catherine Monvoisin oder Gilles de Rais und so weiter und so fort.«
»Leider muss ich Sie insofern enttäuschen, als ich verpflichtet bin, zu unseren laufenden Ermittlungen keine Auskünfte zu geben.«
»Wie schade, wie betrüblich«, sinnierte der Franzose, der diese Floskel zweifellos erwartet hatte. »Aber ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise und verabschiede mich gleichzeitig von Ihnen. Ich sehe, mein Kutscher fährt gerade vor.«
Als ob es den Moment abgepasst hätte, raste ein Viergespann um die Ecke. Schnaubend blieben die Klepper vor den drei Männern stehen, ihre Nüstern tropften, ihr Atem qualmte in den Schwaden. Die Kalesche war gänzlich in Schwarz gehalten, die Insignien an der Seite zeigten zwei Ritter auf einem Pferd, darunter standen Name und Nummer des Gefährts; es war eine Velid 13-666, eine edle und keineswegs billige Sonderanfertigung. Vicomte Dacascos griff nach dem Schieber, der die Tür entriegelte, und bestieg den Wagen. Ein letzter Gruß noch aus dem Inneren, und dann stob das Gespann davon.
Der schwarz gekleidete Kutscher, der bislang Bentheims Sichtwinkel verborgen geblieben war, schwang die Peitsche, und dem Tatortzeichner war es, als ob der nach hinten gerutschte Jackenärmel des Mannes einen dunklen, dicht behaarten Arm entblößte. Im Schein der nächsten Laterne kehrte die Kalesche um und preschte erneut an Julius und Albrecht vorüber.
Eiskaltes Grauen und Entsetzen packten Bentheim, als das Wesen auf dem Kutschbock dicht an ihnen vorbeiratterte. Lange blieben die Freunde reglos stehen, um sich über das soeben Erlebte klar zu werden. Ein Frösteln fuhr Julius den Rücken hinab. Er hatte einen Blick auf den fletschenden Rachen eines Wolfsmenschen erhascht; das Gesicht von dichten Haarbüscheln verklebt, die Augen leuchtend und stechend, und als die Kutsche im Nebel verschwand, war aus der Ferne ein Heulen zu vernehmen, das kurz darauf verebbte.
Viertes Kapitel
In dieser Nacht bekundete Julius Mühe, geruhsam zu schlafen. Er wälzte sich hin und her und sah es ganz und gar als ein Ding der Unmöglichkeit, Zeuge dieses seltsamen Zwischenfalls geworden zu sein. Werwölfe gab es nicht, konnte es nicht geben, und so schob er die Erklärung für seine Beobachtung dem nicht gerade sparsamen Umgang mit dem Champagner zu und schlief wieder ein. Am nächsten Morgen stand er auf, körperlich zwar müde, aber zumindest geistig wieder frisch.
Neben sich erblickte er den kleinen Körper seines dreieinhalbjährigen Sohnes auf der Matratze. Im Schlaf bewegte Edwin den Mund. Seine Hand schnellte unbewusst vor, um nach dem Vater zu greifen. Die Morgenstunden waren mithin das Schrecklichste in Julius’ Leben. Wenn Edwin die unergründlich tiefen Augen öffnete, die er von seiner Mutter geerbt hatte, erinnerten sie den Tatortzeichner unweigerlich an Filine, seine allzu früh verstorbene Frau. Kurz nach Edwins Geburt, als ihr Körper schwach und entkräftet gewesen war, hatte die Schwindsucht sie hinweggerafft.
Den Sohn an der Hand stieg Julius Bentheim die Treppen seiner Unterkunft hinab und betrat, durchs Vestibül kommend, die Küche. Seine Vermieterin, die rüstige Offizierswitwe Amalia Losch, begrüßte herzlich die beiden. Der auf Besuch gekommene Albrecht Krosick saß bereits auf der Eckbank.
Wie gewohnt ließ Julius seinen Sohn bei Amalia zurück, die in ihrer Rolle als Ersatzmutter beseligt aufging. Als die beiden Freunde das Haus verließen, beschlossen sie, Horlitz über das kuriose Erlebnis vom Vortag zunächst im Unklaren zu lassen. Den Spott und die bissigen Kommentare des Kommissars fürchtend, stürzten sich die zwei erneut in die Arbeit.
An den folgenden Tagen jedoch stagnierten die Untersuchungen im Mordfall Gerolstein. Gideon Horlitz sah vorerst von einem Zugriff auf den Hausdiener ab. Nach wie vor war der Kommissar davon überzeugt, dass dieser, wenngleich er den Herzog nicht umgebracht habe, dennoch etwas vor den Beamten verschweige. In der Folge wurden verschiedene Polizeiagenten auf den Diener angesetzt, die abwechselnd den mittlerweile beschäftigungs- und stellenlosen Mann beschatten sollten. Sogar Horlitz persönlich hängte sich verbissen an die Observierung, aber zu seiner Enttäuschung verließ der Hausdiener äußerst selten das Anwesen des verblichenen Herzogs.
Falls sich trotzdem etwas regte und der Mann müden Ganges die Hauseinfahrt heruntertrabte, folgte ihm der Kommissar heimlich auf Schritt und Tritt. Er schlich ihm nach, hielt sich verdeckt im Hintergrund und beobachtete jede einzelne Bewegung, jedoch ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Julius und Albrecht hatten es sich unterdessen zur Aufgabe gemacht, etwas mehr über das Leben des Verblichenen in Erfahrung zu bringen. Als sie eines Abends wieder im Palais Grumbkow saßen, informierten sie Horlitz über den Stand der Ermittlungen.
»Herzog Rudolf von Gerolstein war der letzte Spross einer der ältesten preußischen Familien«, führte Albrecht aus. »Ursprünglich entstammte sie dem alten hugenottischen Adel, was aus ihrem Namen freilich nicht mehr ersichtlich ist. Aber das kennen wir ja von unserem lieben Freund Theodor Fontane her. In früheren Zeiten dehnte sich der Besitz derer von Gerolstein weit über den ganzen Bezirk hinweg aus, bis hin zu Heinersdorf und Blankenburg. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte aber zerrann der Reichtum der Familie unter den Händen des ermordeten Herzogs. Außer ein paar Feldern, einer abgewirtschafteten Fabrik in Malchow und dem alten Gutsbesitz blieb nicht mehr viel übrig von dem einst großen Hab und Gut der Familie. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und in Erfahrung gebracht, dass das vormals prächtige Vermögen zu einem kleinen Haufen zusammengeschrumpft ist. Der Herzog war so gut wie bankrott, wenn man dem Geschwätz der Leute Glauben schenken darf. Nichtsdestoweniger führte er einen ausschweifenden Lebensstil, hielt sich einen Hausdiener und sammelte jedes noch so ausgefallene Kuriosum, das ihm nur irgendwie in die Finger geriet. Seine frühen Mannesjahre verbrachte er in der französischen Hauptstadt, wo sein Auftreten dermaßen Furore machte, dass er offenbar dem Dichter Eugène Sue als Modell für die Hauptfigur in dessen Geheimnissen von Paris herhalten musste.«
Bei der Erwähnung des berühmtesten aller Kolportageromane kehrte schlagartig ein Leuchten in Bentheims Blick, das jedoch gleich wieder verschwand. Er zuckte müde mit den Schultern und legte den Kopf zurück. Auch Horlitz saß nachdenklich in seinem Sessel und zwirbelte sich ein ums andere Mal die Barthaare. Julius, der einen Seitenblick zu ihm hin warf, hielt es nicht für ratsam, dem Kommissar in dieser Verfassung Fragen zu stellen.
Schließlich meinte Gideon verschlafen: »Das wirft ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit, meinen Sie nicht auch? Nun bin aber ich an der Reihe, Ihnen von meinen Nachforschungen zu erzählen. Entweder ist unser Hausdiener viel zu schlau für uns und hält uns zum Narren oder er ist tatsächlich genauso unschuldig, wie er sich verhält. Jedenfalls lässt er sich nicht aufs Glatteis führen. Die einzigen Male, die er das Anwesen seines ehemaligen Herrn verlassen hat, nutzte er, um mit einer Mietdroschke hinauf zum Prenzlauer Windmühlenberg und zu den Schnapsbrennereien zu fahren, wo er Brot, Korn, Senf und ein paar Flaschen Getreidekümmel erstand.«
»Nicht gerade eine von Erfolg gekrönte Beschattung«, mokierte sich Albrecht, doch der Kommissar machte eine warnende Handbewegung.
»Ich würde keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Obwohl sich nicht der Diener verdächtig benommen hat, tat dies dafür ein mir noch unbekannter Mann, der sich ebenfalls für unseren Verdächtigen zu interessieren schien.«
Julius horchte auf.
»Noch ein Verfolger?«
»Es hat den Anschein. Zwar sah ich in den letzten Tagen nur ein altes, gebrechliches Mütterlein, einen forschen Milchmann sowie einen älteren Herrn mit Schnurrbart und grauen Haaren, die mir während der Beschattung des Dieners besonders ins Auge gefallen sind, doch die Gangart dieser drei eigentlich so unterschiedlichen Personen war von solch verblüffender Ähnlichkeit, dass ich nur den einen Schluss ziehen konnte: Es muss sich bei ihnen um ein und dieselbe Person handeln.«
»Wer sollte ein Interesse daran haben, den Hausdiener zu verfolgen?«, fragte Bentheim leicht verwirrt, worauf Horlitz entgegnete: »Genau das, meine Freunde, werden wir morgen herausfinden müssen.«
Fünftes Kapitel
Noch vor Sonnenaufgang lagen Julius Bentheim und Albrecht Krosick auf der Lauer. Sie hatten sich an einem der alten, weit ausladenden Bäume vor dem Anwesen des seligen Herzogs ins restlich verbliebene Herbstlaub des Wipfels hochgezogen und saßen nun in mehreren Fuß Höhe auf einem Ast, der gefährlich im Wind schwankte.
Krosick war in eine dicke Wolldecke eingehüllt, während Bentheim einen Wintermantel um den Körper geschlungen hatte. Schweigend sahen sie über die Grundstücksmauer und beobachteten die ausgedehnte Domäne, die in morgendlichen Nebel gehüllt war und bei beiden einen gespenstischen Eindruck hinterließ. Irgendwo in der Ferne heulte ein Tier, und von einem der nahen Bäume hallte ein Käuzchenschrei herüber.
Die Minuten vergingen. Minuten, die sie – beinahe steif gefroren – auf dem knarzenden Ast verbrachten. Einmal schlug ein Kaninchen seine Hacken über das Feld, ein andermal sauste raschelnd eine Feldmaus unter dem Baum vorbei. Dann herrschte wieder Ruhe, und nicht das leiseste Knistern und Raspeln war in den Baumkronen zu hören.
Plötzlich hob Albrecht den Arm und deutete auf die östliche Umgrenzung des Anwesens. Julius spähte hinüber und konnte gerade noch erkennen, wie sich jemand über die Mauerkrone hangelte. Soweit Bentheim seine Augen nicht täuschten, trug der Eindringling einen schwarzen Mantel. Es war zweifellos ein Mann: Statur und Körperbau des Fremden waren kräftig, seine geduckte Gangart ließ mitnichten auf das grazile Wesen einer Frau schließen. Geschickt verbarg der Unbekannte das Gesicht hinter einem ebenfalls dunklen Schal, seine Hosen waren eng anliegend, und unter seiner linken Achsel beulte sich der Mantel ein wenig.
»Er ist bewaffnet«, flüsterte Albrecht, der denselben Gedankengang hatte wie Bentheim.
Nervös blickte der Tatortzeichner zu seinem Freund hinüber, doch Krosick gab ein Zeichen der Zurückhaltung. Beherrscht hielt Julius den Atem an, als er von ihrem luftigen Versteck aus das Geschehen verfolgte.
Nebelschwaden zogen über die Wiese. Nur bedingt gaben sie die Sicht auf die sich entwickelnde Handlung frei. Hin und wieder erhaschte Julius einen Blick und sah, wie sich der Eindringling dem Haus näherte. Unsicher, als ob er die Anwesenheit der Polizeianwärter erahnte, schaute der Mann sich um. Dann schlich er wieder einige Fuß näher an das Gebäude heran, stets gebückt und mit angespannten Muskeln. Kurz bevor der Fremde das prächtige Anwesen erreicht hatte, gab Albrecht ein Zeichen.
Lautlos sprangen die Freunde vom Baum, kletterten über die Grundstücksmauer hinweg und ließen sich auf der anderen Seite ins nasse Gras fallen. Schwer atmend lag Julius hinter einem dichten Gebüsch in Deckung, während Albrecht auf allen vieren auf ihn zugekrochen kam. In seiner Stellung verharrend, beobachtete er das Gebäude, so gut es der Nebel zuließ, und stürzte dann völlig unerwartet aus ihrem Versteck heraus.
»Komm, Julius! Komm schon!«, rief er und eilte auf den Westflügel zu.
Nun war Bentheim klargeworden, dass der Unbekannte bereits in das Gebäude eingedrungen sein musste. Er hetzte seinem Freund nach, durch den Garten rennend, wich taufeuchten Ästen aus, die wie Fangarme nach ihm zu greifen schienen, trampelte über Blumenbeete und erreichte schließlich seinen Freund, der vor einem Fenster des Gebäudes kauerte. Der Rahmen wies die unverkennbaren Kratzspuren eines Dietrichs auf, wahrscheinlich von einem einfachen, aus einem Eisennagel hergestellten Sperrhaken. Das Fenster war von außen entsperrt und von innen ins Schloss fallen gelassen worden.
Während Krosick seine Waffe zog, spähte er vorsichtig durch das milchig trübe Glas. Seit Julius und er im Preußisch-Österreichischen Krieg gekämpft hatten, durften sie auch als Polizeiadepten offiziell den Revolver tragen. Ein Antrag an den Polizeipräsidenten Lothar von Wurmb, eingereicht von Gideon Horlitz persönlich, hatte es möglich gemacht.
Albrecht murmelte etwas Unverständliches, bevor er einige Schritte zurücktrat und in einem gefährlich tollkühnen Sprung durch die Scheibe hechtete. Das Glas zersplitterte und klirrte, das Krachen von Holz wurde laut, und dann hörte Julius den Aufprall seines Freundes auf dem Fußboden des Hauses. Von Krosicks wilder Entschlossenheit überrumpelt, stand der Tatortzeichner noch immer vor dem Westflügel des Gebäudes. Instinktiv nahm er ebenfalls etwas Anlauf und wollte schon seinem Freund folgen, als das ohrenbetäubende Geräusch einer abgefeuerten Pistolenkugel die Stille durchbrach. Und dann ertönte ein zweiter Schuss, dem weitere folgten. Zwei leere Hülsen flogen Bentheim um die Ohren. Er warf sich zu Boden, hielt schützend die Arme über den Kopf und wartete, bis der ganze schreckliche Zauber vorbei war.
Plötzlich herrschte wieder Stille.
Vorsichtig sah Bentheim hoch, als er auch schon die vertraute Stimme seines Freundes vernahm.
»Komm rein, Julius«, rief ihm Albrecht zu. Diesmal lag unverkennbar ein Schimmer von Enttäuschung in seiner Stimme.
Der Tatortzeichner stieg durch den Fensterrahmen ins Gebäude und blickte sich um. Der Raum, in dem sie sich befanden, war nicht minder skurril als die anderen, die Julius bereits ein paar Tage zuvor gesehen hatte. Vor den Wänden standen steinerne, mit Hieroglyphen beschriftete Sarkophage. Das ganze Interieur erinnerte Julius an das Haus in der Behrenstraße 60, wo Albrecht und er vor einigen Monaten bei den Eheleuten Lepsius zu Gast gewesen waren. Karl Richard Lepsius, der Begründer der modernen Ägyptologie in Deutschland, hatte seine Gemächer ebenfalls nach Art der Söhne des Nils geschmückt gehabt.
In der Ecke links von Julius ruhte in einer blank geputzten, glitzernden Glasvitrine eine lebensgroße Mumie, die ihm aus ihren geschrumpften, ausgetrockneten Augäpfeln entgegenstarrte. Wenige Ellen vor seinen Füßen lag der leblose Körper des unbekannten Eindringlings. Weißer Schaum floss aus seinem Mund und tröpfelte auf den Boden herab.
»Du hast ihn erschossen, Albrecht!«, bemerkte Bentheim trocken.
Der Fotograf schüttelte missmutig den Kopf. Er reichte Julius seine Waffe und sagte: »Sieh selbst nach. Aus dieser Pistole wurde keine einzige Kugel abgefeuert. Er war es, der auf mich schoss. Aber ich ging in Deckung und zählte die Schüsse, die er auf mich abgab. Sowie er keine Patronen mehr hatte, kam ich mit gezogener Waffe aus meinem Versteck, um ihn zu stellen. Als er die Ausweglosigkeit der Situation einsah, griff er unverzüglich in seine Manteltasche, zog eine Kapsel hervor und schluckte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Kaliumcyanid?«, fragte Bentheim verblüfft.
»Sieht so aus.«
Er wollte Krosick gerade nach den so unerforschlichen Beweggründen fragen, die zu dieser Tat geführt hatten, als ein Geräusch die beiden Freunde herumfahren ließ. Vor ihnen stand der Hausdiener, der sich einen Morgenmantel übergeworfen hatte. In den Händen hielt er ein großkalibriges Jagdgewehr – eines der Marke Dreysesche Zündnadel-Wallbüchse M65 – und stocherte damit wild in der Luft umher.
»Was geht hier vor?«, fragte er, und in seiner Donnerstimme lag die Wut des zu Unrecht in seinem Schlaf Gestörten. »Was machen Sie hier, meine Herren? Wer hat hier geschossen?«
Albrecht Krosick zeigte wortlos auf den Toten und ließ die Sache damit auf sich beruhen.
»Benachrichtigen Sie die Gendarmerie am Molkenmarkt und bitten Sie um Verstärkung«, trug Julius dem Hausdiener auf, während sich Albrecht über den Leichnam beugte und ihm den Schal vom Gesicht zog. Schockiert starrte der Bedienstete auf den leblosen Körper, während er ein devotes »Sofort, die Herren!« vor sich hin stammelte. Dann riss er sich von dem üblen Anblick los und eilte davon.
Julius wandte sich seinem Freund zu, der in der Zwischenzeit in die Hosen- und Hemdtaschen der Leiche gegriffen hatte.
»Nun, Albrecht, hast du etwas über die Beweggründe dieses Mannes herausgefunden?«
Krosick hielt ihm ein Blatt Papier entgegen.
»Das Einzige, was dieser Mann hier auf sich trug, ist dieses Schreiben. Und das werden wir heute noch gemeinsam entziffern müssen.«
Bentheim griff nach dem Papier, faltete es auseinander und las:
1216201817
201552054514 49514518
20185661621141120
23119 8120 19952514 81521205
21144 259191920 112125
135141938514?
Verärgert gab er den Zettel zurück. Wie sollte dieser Code – falls es überhaupt einer war – zu knacken sein? Wie viel Zeit blieb ihnen dafür? Und hatte er überhaupt etwas mit ihrem Fall zu tun? Der Tatortfotograf schaute seinen Freund mokant an, lächelte gelassen und meinte, als er Bentheims Unmut und seine Verzagtheit erfasst hatte: »Schneide nicht so ein griesgrämiges Gesicht, Julius. Der Code sollte leichter zu dechiffrieren sein, als du annimmst.«
»Wie kommst du darauf?«
»Deduktive Logik. Nehmen wir uns ein Vorbild an Gideon Horlitz und machen wir, was er getan hätte. Schau dir den Toten einmal genauer an, Julius. Seine Hände sind von Schwielen übersät, das Gesicht ist nachlässig rasiert, auch benutzt er kein Rasierwasser. Der Verblichene zählte also keineswegs zum erlauchten Kreis besser verdienender Leute. Nein, er gehörte vielmehr dem Menschenschlag an, der seine Kräfte und seine Muskeln gebraucht. Ich bezweifle stark, dass der Absender dieser Nachricht unserem Fremden hier eine intellektuelle Höchstleistung abverlangen konnte, nur um diesen Text zu entziffern. Was der Einbrecher vermochte, können wir beide schon lange, meinst du nicht auch, Julius?«