Kitabı oku: «Über die Eiserne Hand hinüber», sayfa 2

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Da hörte sie die Schüsse …

Natürlich erschrak sie. Man schickte sie nicht in Gebiete, in denen es gefährlich werden konnte. Zumindest war sie Schiessereien nicht gewohnt.

Sie duckte sich, versteckte sich, so gut es das Unterholz zuliess. Sie konnte nicht genau abschätzen, woher die Schüsse kamen.

Angst bekam sie jetzt, richtig Angst.

Das wurde nicht besser, als sie etwas später weiter oben Stimmen hörte. Menschen riefen etwas, wieder Äste, die knackten, Laufen.

Dann Ruhe und gerade als sie dachte, dass der ganze Spuk vorbei sei, fielen noch einmal Schüsse. Drei, vier Mal wurde geschossen. Andere Schüsse als zuvor, dumpfe mit wenig Nachhall.

Dann rief jemand. Es klang wie ein unterdrückter Schrei. Unverständlich. Sie wartete regungslos. Dann eine Stimme:

«Lass sie liegen!»

Das verstand sie, obwohl es diese schweizerische Singsangstimme war, mit der sie sich mindestens so schwer tat wie mit dem örtlichen Dialekt.

«Sie sind am Grenzstein. Lass sie liegen! Scheiss auf den Zaun.»

«Sie liegen drüben», sagte eine andere Stimme. Und dann noch einmal: «Jetzt liegen sie drüben.»

Dann entfernten sich die beiden Stimmen. Ziemlich rasch sogar, und sie konnte nicht mehr verstehen, was gesprochen wurde. Gesehen hatte sie nur Schatten weiter oben am Berg. Nun war wieder alles ruhig. Nichts mehr zu hören.

Die Angst war weg. Auch das Stechen im Kopf; wie weggeblasen. Man hatte sie nicht gesehen.

Jetzt siegte die Neugier. Sie wollte wissen, was da geschehen war und ging ein gutes Stück den Berg hinauf. Sie fühlte sich sicher in einem Hohlweg. Linker Hand die Grenze, ein Stück weiter hinten der Zaun.

Sie liess noch ein paar Grenzsteine hinter sich, bis sie im Flachbereich des Gipfels war. Der Weg war immer noch steil und anstrengend, aber ohne die Schmerzen im Kopf gelang ihr der Aufstieg. Auch weil sie immer wieder stehenblieb und in den Wald hineinhorchte.

Grenzstein 100.

Unglaublich friedlich schien es hier. Kein Mensch weit und breit. Die Schüsse müssten doch gehört worden sein, auf beiden Seiten der Grenze bis hinunter in die Täler. Aber niemand war da, niemand kam, keine Stimmen.

Auch die Stimmen der beiden leblosen Körper in ihren langen Uniformmänteln, die gegen den Zaun gedrückt jenseits des Grenzsteins lagen, würden niemals mehr zu hören sein. Eigenartig abgeknickte Köpfe. Blut im Schnee. Da schaute sie nicht hin. Sie drehte sich um, und im Weggehen sah sie den matten Goldglanz im Schnee. Die schwere goldene Uhr, die der Junge an der Hand getragen hatte. Die Uhr, die sie dem Alten gegeben hatte. Der Lohn für seine Hilfe.

*

«Mach dir keine Gedanken. Der Kleine wartet irgendwo draussen. Er wird warten, bis ich komme.»

«Und wann kommst du?»

Schulterzucken.

«Er wird das lernen müssen. Das Warten.»

Sie schaute auf die Strasse hinaus. Da war nichts los, da bewegte sich nichts. Ein selten ruhiger Wintertag. Schnee glitzerte in der Sonne, nur von der Schweiz her kamen wieder dunklere Wolken. Das würde noch mehr Schnee geben dieses Jahr.

«Was hast du dann gemacht?» Der Alte war nicht wirklich neugierig. Es war mehr der Vollständigkeit wegen, dass er Fragen stellte.

«Runter wieder. Ich bin den Berg runter, meistens eng an der Grenze entlang. Nur unten an der Strasse, da habe ich einen Bogen gemacht. Und dann wieder rauf auf den Berg. Auf die andere Seite. Zur Eisernen Hand. Das ist ein saublöder Zipfel, ist das. Wenn du nicht genau hinschaust, übersiehst du den glatt.»

«Die Braunen schauen genau hin. Darauf kannst du dich verlassen. Die übersehen nichts. Die Schweizer übrigens auch nicht. Ich finde trotzdem, dass es ein schöner Zipfel ist.»

«Ich weiss nicht. Da ist ein Bauernhof. Es sieht so aus, als ob man dahinter einen Stein über die ganze Schweiz werfen könne.»

«Das ist der Maienbühlhof.»

«Dort nicht gesehen zu werden, ist eigentlich gar nicht möglich. Aber da war heute niemand. Nur der viele Schnee. Es war mühsam da durchzustapfen. Still war es da, absolut still. Nirgendwo hat man Spuren im Schnee sehen können. So als hätten heute alle keine Zeit für die Grenze.»

Ihr war, als hellte sich das Gesicht des Alten ein wenig auf, kurz nur, dann wieder der eher teilnahmslose Blick. Immerhin fühlte er sich genötigt eine Erklärung abzugeben.

«Der Schacht war in Weil unten. Wenn der kommt, geht’s immer um viel Geld. Alle Mann sind dann dort, die einen weil sie gebraucht werden, die anderen, weil sie nicht zukurzkommen wollen. Aber offen war die Grenze nicht. Schon möglich, dass sie dich irgendwo gesehen haben.»

Nur bist du heute nicht wichtig gewesen, dachte er noch.

«Oben bin ich dann wieder den Grenzweg entlanggelaufen», erzählte das Vreneli weiter. «Dort wo der Zaun plötzlich aufhört. Warum hört er dort eigentlich auf?»

«Lohnt nicht, ihn um den schmalen Zipfel weiterzuziehen. Zu viel Aufwand für die letzten paar Kilometer. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie sonst jeden Grashalm einzäunen.»

Ihm schien das als Erklärung genug, auch wenn sie ihn immer noch etwas fragend ansah, als sie mit ihrem Bericht fortfuhr.

«Um das Grenzhäuschen habe ich noch einmal einen Bogen gemacht. Irgendwie schien selbst da niemand zu sein. Aber so genau wollte ich das gar nicht wissen. Ich bin dann im Wald geblieben. Dann ist da plötzlich Jean gestanden. Er hat gewartet. Er hat sehr lange warten müssen. Es habe ihn eine ganze Schachtel Zigaretten gekostet, hat er gesagt.»

«Da hast du Glück gehabt. Solange hätte ich nicht gewartet. Die Zigaretten holt sich der Jean aus der Schweiz, die schmuggelt er.»

«Sonst haben wir nicht viel geredet. Unseren Handel gemacht und geschaut, dass wir wieder zurückgehen. Ich weiss nicht, wohin Jean gegangen ist. Einfach nach Riehen runter, denke ich.»

«Und du?»

«Wieder zurück. Wie ich gekommen bin. Ich wollte einfach wieder durch das Loch im Zaun zurück. Ich dachte, dass der Junge vielleicht noch wartet. Aber das ging nicht mehr.»

«Ah?»

Mehr sagte der Alte nicht, aber er schaute ihr jetzt direkt ins Gesicht.

«Da wurde geschossen. Nicht nur einmal.»

Dann erzählte die junge Frau, und erst jetzt hatte sie das Gefühl, dass ihr der Heimer wirklich zuhörte. Aber er stellte keine Fragen.

Als sie ihm die Uhr, nunmehr zum zweiten Mal, in die Hand gab, starrte der Heimer lange auf das goldenen Ziffernblatt, ohne etwas zu sagen. Als warte er ab, dass ihm die Uhr noch ein paar Fragen beantworte, die er dem Vreneli nicht stellen konnte oder wollte.

Nicht gut, wenn zu viele Bescheid wissen, dachte er. Das sollte man nicht vergessen. Er misstraute der jungen Frau nicht, man sollte sie aber auch nicht mit Unnötigem belasten. In ein paar Tagen würde sie ohnehin an der holländischen Grenze oben sein. Dort würde sie wahrscheinlich Mareike heissen.

«Wie bist du zurückgekommen», fragte er sie stattdessen, «wenn nicht durch das Loch?»

«Das habe ich mich einfach nicht getraut. Ich bin noch einmal zurück auf diesen Zipfel. Ich dachte, ich könne es riskieren. Rüberzugehen, wo kein Zaun mehr war. Das schien mir jetzt sicherer, als dort wo sie geschossen haben.»

Dass die Schmerzen wieder gekommen waren, schlimmer und unerträglicher als zuvor, erzählte sie dem Alten nicht. Sie wusste nicht einmal, warum sie das nicht tat. Vielleicht weil der Alte wieder seinen teilnahmslosen Blick aufgesetzt hatte und durch sie hindurchsah.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie aufforderte weiterzuerzählen.

«Ich bin dann vom Grenzweg abgebogen» fuhr sie fort, «durch den Wald über ein Feld hierher.»

«Kein Mensch …?

« … weit und breit.»

Noch einmal Glück gehabt, Vreneli, dachte er. Eine annähernd verlassene Grenze bis hinter die Eiserne Hand. Sonst permanent unter Bewachung mit Grenzpolizisten, Zöllnern, Soldaten, Hilfsgrenzpolizisten und manchmal sogar Typen der SS. Hunde an der Leine, die losgelassen jeden jagten, der sich dort unbefugt aufhielt. Und das war eigentlich jedermann, ausser ein paar Bauern, die Felder und Äcker im Grenzbereich bewirtschafteten.

Hunde, die Grenzsteine nicht beachteten, die auf Menschen abgerichtet waren und die, einmal von den Hundeführern auf Flüchtige gehetzt, nur mit Schüssen zu stoppen waren. Die mussten treffen. Daran musste er denken, als er dem Vreneli zuhörte.

«Manchmal geht es eben gut!»

«Irgendwie hast du aber gewusst, dass es heute gut gehen würde.» Sie schaute ihn an, aber der Alte wich ihrem Blick aus. Er stand auf.

«Ich muss den Jungen abholen. Er wird irgendwo draussen warten. Nochmals danke für alles, für die Uhr auch.»

«Keine Ursache», sagte sie noch, aber da war er schon fast durch die Eingangstür verschwunden. Die Uhr ist nicht wichtig, für mich nicht und für dich auch nicht mehr, alter Brummbär. Vielleicht wäre sie etwas für den Jungen gewesen. An den musste sie denken, während sie den Alten die Dorfstrasse hinunterlaufen sah.

Als sie wenig später das Wirtshaus verliess, um sich ohne Hast durch das Oberdorf auf die Strasse nach Lörrach zu begeben, schaute sie noch einmal beim Krugwirt vorbei, der in der Küche hantierte.

Dort legte sie ein paar Münzen auf den Tisch, lächelte dem Wirt zu, bedankte sich und bestellte noch einmal schöne Grüsse an den Onkel. Der versprach sie auszurichten und begleitete sie bis vor die Tür.

Die Gaststätte würde an diesem Tag nicht geöffnet sein, der Krugwirt würde noch eine Weile warten und dann ins Haus gegenüber gehen, wo ihn die Frau fragen würde, wen der Heimer denn da schon wieder aufgegabelt habe.

Aber er würde die Antwort schuldig bleiben, der Heimer habe eben eine weitläufige Verwandtschaft. Da käme immer mal eine Nichte oder eine Base vorbei und warum die dann nicht unten zu den Heimers ins Häuschen an die Grenze gehe, wisse er auch nicht, sei ihm auch gleichgültig, weil das Heimers Sache sei.

Die Wirtin würde sich ihren Teil denken und höchstens nachfragen, warum er denn unbedingt mit so einem Hallodri befreundet sein müsse. Eine Antwort auf diese Frage erwartete sie allerdings schon lange nicht mehr.

*

Kriminalsekretär Rosen vom Sicherheitsdienst hatte das eingefädelt. Der Agent aus der Schweiz hatte darauf bestanden, über die Eiserne Hand nach Lörrach zu kommen. Und da wollte er keine Grenzsoldaten sehen, keine Zöllner oder sonstigen Hilfsgrenzangestellten. Vor allem wollte er selbst dort nicht gesehen werden. Also war für die Grenzsoldaten an diesem Tag andere Beschäftigung angesagt.

Prominenz aus Berlin taugte da als Vorwand immer. Nur eine Art Notdienst trieb sich irgendwo im Grenzbereich herum. Den liess man allerdings eher in Rheinnähe patrouillieren.

Dass es auf Schweizer Seite nicht anders war, dafür hatte der Agent selbst gesorgt, und es war ihm annähernd gelungen. Macht sich auch in der Schweiz nicht gut, wenn ein hoher Beamter beim Grenzübertritt ins Land der Schwoben aufgegriffen wird. Da wäre doch einiges zu erklären gewesen.

Dann war da noch der Maier vom Sicherheitsdienst in Lörrach, der das ebenfalls ausnützen wollte. Er konnte sich ausrechnen, dass auch auf Schweizer Seite an diesem Tag nicht all zu viel Grenzpersonal zum Dienst eingeteilt sein würde. Das Risiko, zwei Agenten rüberzuschleusen, wäre da nicht zu gross.

An anderen Tagen wäre es auch gegangen, aber wieso eine solche Möglichkeit nicht ausnutzen? Solche Chancen boten sich nicht oft.

Später würde man den Schweizern stecken, dass sich zwei vom Reich gesuchte schwere Jungs in die Schweiz abgesetzt hätten. Denen natürlich pflichtschuldigst nachgeschossen werden musste.

Dass man sie verfehlt hatte, war eben ein unglücklicher Zufall. Deshalb die dringende Bitte, sie wenn immer möglich, an das Reich auszuliefern.

Deserteure wurden nicht ausgeliefert. Natürlich nicht.

Für all das brauchte man den Alten, der helfen würde, sie über die Grenze zu bringen.

Das tat der Alte auch. Da konnte man sich auf ihn verlassen.

Aber nicht ohne jemanden auf der anderen Seite der Grenze darüber zu informieren, dass es sich dabei um Agenten des Reiches handelte, von denen man hoffte Interessantes aus dem Schweizer Hinterland zu hören.

Was genau das sein sollte, wusste der Alte allerdings nicht. Für die Sicherheitsdienste gab es genug Möglichkeiten an Informationen zu kommen. Andererseits konnte man dort niemals genug bekommen. Möglicherweise sollte die Schweiz für die Agenten nur Durchgangsland sein, um glaubwürdiger in Kreise des französischen Widerstandes einsickern zu können.

Dass man auch auf Schweizer Seite Wind von der Aktion bekam, blieb den Amtsstuben in Lörrach allerdings verborgen.

*

So kam es, dass der Beat und auch der Urs, zwei Schweizer Grenzsoldaten, die häufig gemeinsam patrouillierten, sehr wohl wussten, dass da zwei unter falschen Segeln in die Schweiz einzudringen gedachten.

Da sie auch wussten, wo das sein würde, schauten sie, dass sie sich in der Gegend aufhielten, wenn auch in sicherer Entfernung, um selbst nicht aufzufallen.

In jedem Fall würden sie die Agenten abpassen. Gute Schützen waren sie ebenfalls, vor allem der Urs hatte einiges an Trophäen aufzuweisen. Der wesentlich jüngere Beat konnte da nicht mithalten. Aber für beide galt, dass sie nicht nur am Samstagnachmittag schossen. Eine Menge streunender Hunde hatte das an der Grenze schon mit dem Leben bezahlt. Die zwei Agenten hatten keine guten Karten.

Beat und Urs hätten sie auch festnehmen, ihnen ein wenig Angst einjagen und sie dann wieder über die Grenze zurücktreiben können. Ihnen klar machen, dass man die Geschichte ihrer Desertion nicht glaubte.

Seit sie bei der Ortswehr waren, hatten sie sich immer mit der Frage auseinandergesetzt: Was tun bei einem deutschen Überfall?

Sinnlose Märsche mitgemacht, die abstumpften. Auch der elsässischen Grenze entlang. Drüben schrien manchmal ausgepeitschte Elsässer. Die Teutonen machten ganze Arbeit.

Da kommt was auf die Schweiz zu. So sahen das der Beat und der Urs. Basel würde evakuiert, niemand würde hier ernsthaft Widerstand leisten. Wozu auch, es wäre sinnlos.

Manchmal hörte man auch Flugzeuge oder Panzer. Alles nicht weit entfernt. Wenn die eines Tages die Grenze einfach nicht mehr beachten würden, drohten Lager oder Schlimmeres. Davor hatten sie Angst.

Die Schlüsse, die die beiden daraus zogen, waren allerdings nicht dieselben. Vor allem der Urs hatte eine Vorstellung des Sowohl-als-auch. Die Heimat verteidigen, wann und wo es immer ginge, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in jedem Fall eine Rückversicherung da war, die das Schlimmste verhindern sollte. Der Beat dagegen, so viel jünger als der Urs, dachte nicht an das Schlimmste. Er war ein Grenzgänger und seine enge Beziehung zum alten Heimer, liess ihn die Welt mit anderen Augen sehen.

Ihre jeweiligen Ansichten aber behielten die beiden für sich.

*

All das wusste der Alte. Mindestens ahnte er es. Und setzte noch eins drauf.

Es kam immer wieder vor, dass er Aufträge für seine ehemaligen Weggefährten aus der Partei erledigte.

Die Zeiten reger Tätigkeiten waren zwar längst vorbei, die Arbeit im Untergrund war von Jahr zu Jahr schwieriger und gefährlicher geworden, aber ganz eingestellt war sie noch nicht.

Gelegentlich trat man an den Heimer heran, nicht so sehr weil man ihn für ideologisch gefestigt hielt, aber weil er als sehr zuverlässig galt.

Wenn an diesem Tag an der Grenze schon sturmfrei war, konnte auch das Vreneli mit dem Jean Nachrichten austauschen. Vor allem weil die junge Frau in der Gegend neu war. Sie hatte zwar einen netten Schweizer Namen, kam aber in Wahrheit aus den Ebenen des Nordens, kannte sich in der Gegend nicht aus. Die Namen, die man ihr gab, wechselten mit den Aufträgen, die sie durchführte, und gelegentlich passte man sie der Region an, in der sie tätig war.

Sie kam, führte aus und verschwand wieder. Dabei sollte das Gelände möglichst frei sein, wie die Schmuggler sagen. Ein hervorragender Schmuggler war der Alte immer gewesen.

Was er aber nicht wissen konnte war, dass Schönwald, der Basler Spitzenagent, dessen Dienste eine Abteilung des Sicherheitsdiensts in Lörrach gelegentlich in Anspruch nahm, seinen geplanten Ausflug über die Eiserne Hand mit anschliessender Stippvisite auf das Lörracher Amt verschieben musste. Man hatte ihn wegen einer Zeugenaussage vor das Divisionsgericht geladen. Im Rahmen eines Prozesses an dessen Ende vier Landesverräter, darunter zwei Basler, zum Tod durch Erschiessen verurteilt wurden. Eine angemessene Strafe, wie Schönwald später finden sollte. Schliesslich war Krieg.

*

Manchmal, wenn der Wind anhaltend von Osten kam, konnte es in dem kleinen Tal mit dem Wasserschloss im oberen Dorf so kalt werden, dass das Wasser um das Schloss herum fast vollständig zufror. Der Teich wurde fest. Man konnte dann um den ganzen Bau herumlaufen. Die Karpfen im Wasser hatten sich längst im Laubschlamm vergraben und warteten bei minimalem Herzschlag auf das Frühjahr. So wie es aussah, würden sie dieses Jahr lange warten müssen, denn die Kälte war früh gekommen.

Das ohnehin nicht sehr belebte Tal wirkte noch ausgestorbener. Der eiskalte Wind, der um die wenigen Bauernhöfe herum und entlang der Strasse nach Riehen blies, hatte jedermann, der nicht unbedingt im Freien arbeiten musste, in die Häuser getrieben.

So dass der Junge, der hinter der Muggenthaler Scheune auf seinen Vater wartete, von niemandem gesehen wurde. Als er den Alten die Strasse entlangtrotten sah, wie immer mit gesenktem Kopf trübe vor sich hinstarrend, entschloss er sich, den Heimweg anzutreten. Er wartete, bis der Alte kurz vor dem Zollhaus in der Kurve auf den Riehener Weg abbog und schlenderte dann hinter ihm her. Er hatte alle Zeit der Welt. Früh genug würde er die Vorwürfe wegen der Schweizer Uhr zu hören bekommen. Dass er sich wieder hatte erwischen lassen.

Wenn der Alte richtig in Fahrt kam, waren ein paar blaue Flecken das Mindeste, womit er rechnen musste. Kam darauf an, wie viel der Vater getrunken hatte. Das eilte nicht.

Obwohl er gerne gerannt wäre, um etwas gegen die Kälte zu machen.

Wenn nicht plötzlich ein Hund hinter der Scheune, aus der er gerade herauskam, wild zu bellen angefangen hätte, wäre die eigenartige Ruhe, die an diesem Tag über dem Dorf lag, durch nichts gestört worden.

*

Wie er durch die Tür stolperte, sah er ihn schon. Er sass am Küchentisch und rührte sich nicht. Sass nur da. Irgendwo im Hintergrund hörte er die Mutter mit den Geschwistern sprechen. Bis auf den Jan waren das alles Mädchen und alle jünger als er. Mit denen konnte man nichts anfangen.

Wie nur sollte er klarmachen, dass die wertvolle Uhr weg war? Im Vorbeigehen abgenommen von zwei Soldaten. Die über die Grenze in die Schweiz abgehauen waren, wo doch Krieg war, und man jeden brauchte. Hatte jedenfalls der Dorflehrer gesagt.

«Soldaten können sterben, Deserteure müssen sterben», das sagte er immer wieder, der Lehrer.

Dann sah er den Arm des Alten, der fast lässig angewinkelt auf dem Tisch lag. Unter dem abgewetzten Ärmel, dort, wo die grobe Hand begann, die zuschlagen konnte, glänzte matt etwas, was selbst im düsteren Licht des Zimmers zu sehen war. Das Gesicht des Alten wirkte nachdenklich. Auch dass er ihn kaum wahrgenommen hatte, war eigenartig. Sonst polterte er ganz gerne los, und wenn er loslegte, konnte man das vom Wasserschloss bis hinunter nach Riehen hören. Aber jetzt fragte er nicht einmal.

Nur langsam wandte sich der Blick des Alten dem Jungen zu und irgendwie schien es, als gebe es in diesen Augen etwas, was der Junge dort noch nie gesehen hatte.

Das passte gar nicht zu diesem mattgoldenen Glanz der protzigen Uhr am Arm des Alten. Der Junge konnte es kaum fassen: Der Alte hatte die Uhr wieder am Arm.

«Woher hast du die Uhr?»

Die Frage kam aus dem Jungen heraus, ohne dass er dies eigentlich wollte. Sie war einfach da.

Der Alte bewegte sich eine Idee in Richtung des Jungen.

«Welche Uhr? Von einer Uhr weiss ich nichts und du auch nicht. Keine Uhren in nächster Zeit. Hörst du? Nichts geht. Verstanden?»

Der Junge nickte. Ja, er hatte verstanden. So neu war das auch nicht. Es gab immer mal Zeiten, in denen nichts ging. Unruhige Zeiten. Passte so gar nicht zu diesem kalten Frühwintertag, da nichts an der Grenze auf irgendetwas Ungewöhnliches hinwies.

«Was hast du eigentlich der Rothaarigen gesagt, wo sie hin soll?»

Erst jetzt schien der Alte ihn richtig zur Kenntnis zu nehmen, und ein wenig neugierig war er schliesslich.

Jetzt gibt es doch noch Senge, dachte der Junge. Nur weil das blöde Weib nichts kapiert hatte. Er würde jetzt Schuld haben, dass sie nicht rechtzeitig zurückgekommen war. Dass man ihn gesehen hatte, dass er sich schon wieder hatte erwischen lassen.

Seine Erklärung kam prompt, klang wie sorgfältig vorbereitet und auswendig gelernt. Er hatte sich auf dem Heimweg viel Zeit gelassen.

«Dass sie nach der Grenze nach links hinauf soll, ein Stück den Berg hinauf und dann rechts runter. Damit sie unten am Strassenzoll keiner sieht. Und dann immer weiter zum 52-er Stein mit der ‹1700› drauf. Das hab ich ihr gesagt. Immer wollte sie wissen, wie der genau aussieht. Dass da halt eine riesige ‹1700› ist hab ich gesagt, nichts Besonderes sonst. Halt wie alle anderen Grenzsteine auch. Was weiss ich denn?»

Beinahe hätte er angefangen zu heulen, aber dann hätte es sicher eine Schelle gegeben, und er biss auf die Zähne und drückte die Augen zu.

Der Alte schaute zum Fenster hinaus.

«Hat euch jemand gesehen?» Jetzt schaute er dem Jungen ins Gesicht.

«Zwei Soldaten waren plötzlich da, die über die Grenze abgehauen sind. Jetzt, mitten im Krieg. Einfach abgehauen.»

Damit konnte er von sich ablenken. Vielleicht ging der Alte darauf ein. «Die kamen auch durch das Loch», fügte er noch hinzu.

Dass sie ihm dabei die Uhr abgenommen hatten, schien ihm nicht weiter erwähnenswert, die war ja wieder da. Diese zwei schienen den Alten allerdings nicht zu interessieren.

«Sonst jemand?»

«Im ganzen Dorf hab ich keine Menschenseele gesehen!»

«Was heisst im Dorf. Wo hast du jemanden gesehen?»

Der Alte wollte es jetzt genau wissen. Der Junge hatte das Gefühl, als könne der Vater jeden Moment explodieren.

«Naja,» druckste er herum. «Oben, über dem Loch, auf dem Ansitz dort. Da waren zwei von der Grenzwache, aber die sassen da nur.» Jetzt war es heraus.

«Wer war das?»

«Ich hab sie nicht erkannt, sie waren zu weit weg. Und dicke Mäntel hatten sie an.»

Das stimmte auch, genau jedenfalls hatte er sie nicht erkannt.

«Haben sie dich gesehen?»

«Erst nicht. Ich war im Gebüsch. Ich hab mich nicht gerührt. Bis die zwei Soldaten gekommen sind.»

«Und dann?», drängte der Alte.

«Dann war es doch egal, oder? Das mussten sie ja sehen, wie die beiden Soldaten mich gefragt haben, was ich da mache. Soll ich sagen: ‹Leute über die Grenze bringen›? Ich habe gesagt dass ich nichts mache. Da sind sie einfach weitergegangen. Ab in die Schweiz.»

«Was hast du gemacht?»

«Was sollte ich dann noch? Da bin ich halt auch weg. Wo die Frau doch nicht gekommen ist. Die Stunde war lange rum! Du hast gesagt, dass ich nicht länger als eine Stunde warten soll.»

«Dann tu in Zukunft, was ich sage, und jetzt hau ab!»

Damit drehte sich der Alte wieder um und starrte an die Wand.

Der Junge war froh so davongekommen zu sein.

*

Am anderen Tag war der alte Heimer noch eine Spur blasser geworden. Dass da etwas nicht so gelaufen war wie geplant, hatte er schon geahnt. In Lörrach erfuhr er Genaueres. Man hatte den Jungen gesehen, und es war geschossen worden. Ein paar Mal zu viel für den Geschmack des Sicherheitsdiensts. Da lagen zwei tote Soldaten an der Grenze. Deserteure angeblich.

Soldaten können sterben, Deserteure müssen sterben. Richtig laut werden sie nicht schreien können. Aber sie werden alles versuchen herauszufinden, wer dahintersteckte.

Er war wieder einmal am Spalt des Steins angekommen. Das hatte schon der Grossvater immer gesagt, wenn definitiv Schluss war. «Das ist der Spalt des Steins» und von da an war absolute Ruhe angesagt, Winterschlaf bis Entwarnung gegeben wurde. Wenn das auch andere Geschäfte waren, die man damals gemacht hatte, die Regel galt immer.

Diesmal konnte das dauern, der Bogen könnte überspannt sein, dann hatte er zu viel riskiert, etwas falsch eingeschätzt. Dass man da auf Schweizer Seite auch so schnell schiessen würde! Seit wann konnte er die Riehener nicht mehr einschätzen? Jedes Zucken der Augen, jede Bewegung des Mundes, alles sagte etwas. Das war hier so gewesen, das war auf der anderen Seite so gewesen. So lange er denken konnte. Die Braunen hatten das durcheinander gebracht, diese hochanständigen Deutschen.

Anständig war man in der Schweiz natürlich auch, zumal in Basel. Allerdings verstand man darunter nicht immer das Gleiche. Im Grenzbereich dieser Vorstellungen kann das Leben gefährlich werden.

Langsam löste er die Uhr vom Handgelenk. Nicht gut jetzt, dachte er. Es braucht jetzt keine Uhr. Auch wenn für manche nichts so wichtig ist wie die Erkenntnis, dass die Zeit, die einem noch bleibt, unbedingt von einer Schweizer Präzisionsuhr angezeigt werden muss. Er spürte, dass ihm diese Einsicht vielleicht zu spät gekommen war.

Sein Blick ging wieder zum Fenster hinaus und hinunter zum Bach. Der plätscherte trotz der Eiseskälte Richtung Riehen. Die Ränder waren ein bisschen gefroren.

Für den Bach gab es keinen Zaun. Keine Grenze konnte das Wasser aufhalten.

*

Es war lange her, dass sie ihn schon einmal in Verdacht hatten. Damals hatte er nur für die Kommunisten gearbeitet. Einen etwas übereifrigen Hilfsgrenzpolizisten hatten sie da auffliegen lassen und unten an der Strasse am Schweizer Zoll abgeliefert.

Jünger war er da gewesen, aber schon damals kannte keiner die Grenze so gut wie er. Das wussten die von der Partei natürlich auch, und Konspiratives war beim Heimer immer gut aufgehoben. Jedenfalls rund um die Eiserne Hand.

Bei der Grenzwache hatten sie des Öfteren Leute eingesetzt, die das Gebiet nicht wirklich kannten. Da hatten sie einen besonders Eifrigen aus Steinen dabei, der seit der Euphorie der Machtübernahme der Braunen, alles was links war, persönlich bekämpfen wollte. Weil er bei einer Wirtshausrangelei einmal Prügel bezogen hatte. Das war vor dreiunddreissig gewesen, und er war damals mit seinen politischen Ansichten an die Falschen geraten.

Der hatte nun herausbekommen, dass da über die Eiserne Hand etwas laufen solle, und spitzelte hinter zweien mit linken Flugblättern her, wobei er sich durchaus zutraute, die beiden zu stellen und an einschlägiger Stelle vorzuführen. Da er die Lorbeeren für sich allein einschieben wollte, verzichtete er auf jede Mithilfe. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich bald herausstellte.

Denn die Eiserne Hand ist ein eigenwilliger Wurmfortsatz. Schnell ist man auf Schweizer Boden, ebenso schnell ist man wieder draussen aus der Schweiz. Es gibt ungezählte Grenzsteine, über die man stolpern kann, ohne wirklich mitzubekommen, wo man eigentlich ist. Besonders wenn das Auge zwei abtrünnige und hinterhältige Spione, Agenten und Feinde des Reichs verfolgt. Dabei nicht wahrnimmt, dass man selbst ins Visier derer gekommen war, die man gerade noch verfolgt hatte. Weil man nicht gemerkt hatte, dass man das Reichsgebiet verlassen hatte, weil man ohnehin nicht verstehen kann, dass ein derartiger Zipfel nicht Teil des grossen und mächtigen Reiches sein sollte, Basel hin oder her.

So gab es nach der Prügelei im «Hirschen» zu Steinen einen weiteren unsanften Hieb über den Schädel des Hilfsgrenzangestellten. Mitten in der Eisernen Hand. Und wieder waren diese Linken Urheber des Anschlags. Dass die dabei noch die Unterstützung zweier im Gebüsch versteckter Schweizer Genossen hatten, machte die Sache für den Hilfsgrenzwächter nicht einfacher. Er wurde hinunter zum Zollhaus an der Strasse nach Riehen geschleppt und den Schweizer Grenzbeamten ausgeliefert. Dort wollte man die Angelegenheit nicht unbedingt an die grosse Glocke hängen, und so liess man ihn wieder laufen. Aber seiner Bitte, nicht Meldung zu machen, konnte aus staatsrechtlichen und territorialen Gründen einfach nicht entsprochen werden.

Es gab einen mittleren Skandal mit einer beachtlichen Presseschlacht auf beiden Seiten, und das Ganze wurde richtig öffentlich. Es hätte für eine Provinzposse getaugt, aber Grenze war Grenze!

Es dauerte nicht lange, bis der Verdacht aufkam, dass der Heimer hinter der Aktion stecke, weil der sich schon immer mehr als gut mit einigen Riehenern, auch manchem Grenzbeamten und denen von der Gendarmerie verstanden hatte. Wenig an dieser Grenze blieb letztendlich wirklich geheim, was nicht bedeutete, dass es jedem bekannt wurde.

Da aber auch die Braunen unter den Eidgenossen einige Sympathisanten mit allerlei Beziehungen hatten, sickerte durch, dass dies ganz nach heimerscher Handschrift schmecke. Nur der sei dreist genug, Schweizer Hoheitsgebiet für seine vielfältigen, meist illegalen Geschäfte zu nutzen und gleichzeitig die Hilfe Schweizer Behörden in Anspruch zu nehmen, um seinen Widersachern im Reich, wer immer das sein mochte, eins auszuwischen.

Klar, dass man später dem Steinener ordentlich zusetzte, weniger wegen der Grenzverletzung, eher weil er blöd genug gewesen war, sich so stümperhaft überrumpeln zu lassen.

Das dem Heimer eines Tages heimzuzahlen, hatte der sich geschworen.

Inzwischen hatte der Hilfsgrenzpolizist von einst eine nicht ganz unwichtige Stelle beim Sicherheitsdienst in Lörrach inne, und auch seine grenzüberschreitenden Verbindungen mussten als gut bezeichnet werden.

Der Alte war sich zwar sicher, dass die Herren sämtlicher einschlägiger Abteilungen von Lörrach bis Freiburg und weiter bis Berlin Agenten wie ihn immer wieder brauchen würden. Da gab es ein paar Kleinigkeiten, die nur mit ortsansässiger Hilfe einigermassen reibungslos abliefen, so wie sie in der Vorstellung des Sicherheitsdiensts, dem Zollamt in Lörrach oder dem militärischen Abwehrdienst laufen sollten.

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