Kitabı oku: «Handbuch des Strafrechts», sayfa 4
1. Abschnitt: Einordnung und Grundlagen
1. Abschnitt: Einordnung und Grundlagen
Inhaltsverzeichnis
§ 1 Stellung und Aufgabe des Strafprozessrechts und Verfahrensziele
§ 2 Materielle Grundrechtsgewährleistungen und ihre Bedeutung für das Strafverfahren
§ 3 Prozessgrundrechte und ihre Bedeutung für das Strafverfahren
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Hans Kudlich
§ 1 Stellung und Aufgabe
des Strafprozessrechts und Verfahrensziele
A.Bedeutung und Charakteristika des Strafprozesses1 – 3
B.Ziele des Strafprozesses und des Strafprozessrechts4 – 17
I.Begrifflichkeiten und Bedeutung4
II.Die wichtigsten Verfahrensziele in der Diskussion5 – 15
1.Verwirklichung des materiellen Strafrechts5, 6
2.Wahrheitsermittlung als Ziel des Strafprozesses7, 8
3.Gerechtigkeit als Ziel des Strafprozesses9 – 11
4.Schutz kollidierender Rechtsgüter als eigenes Prozessziel?12, 13
5.Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens14, 15
III.Ziele, Zwischenziele und Zielkonflikte16, 17
C.Stellung des Strafprozessrechts im Gesamtgefüge der Rechtsordnung18 – 83
I.Strafverfahren und Verfassungsrecht19 – 48
1.Bedeutung des Verfassungsrechts19 – 21
2.Materielle Grundrechtsgarantien und Strafverfolgung22 – 32
3.Verfahrensgrundrechte im Strafprozess33 – 39
4.Das Rechtsstaatsprinzip als inhaltliches Kriterium40 – 42
5.Das Gesetzlichkeitsprinzip als formell-methodische Größe43 – 46
6.Verfahren zur Wahrung der Verfassung47, 48
II.Strafverfahren und materielles Strafrecht49 – 59
1.Das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht49, 50
2.Schnittstellen von materiellem Recht und Strafverfahrensrecht51 – 56
a)Grenzbereiche51, 52
b)Einfluss des materiellen Rechts auf das Prozessrecht53, 54
c)Strafrechtsgestaltende Kraft des Prozessrechts55, 56
3.Primat des Strafprozessrechts in der Praxis?57 – 59
III.Strafverfahren und Zivilverfahren60 – 62
1.Die ordentliche Gerichtsbarkeit als gemeinsamer Rahmen60
2.Weitere Gemeinsamkeiten61
3.Unterschiede bei den Prozessmaximen62
IV.Ähnliche und modifizierte Verfahrensregelungen63 – 83
1.Das Jugendstrafverfahren64 – 69
a)Allgemeines64
b)Wichtige verfahrensrechtliche Abweichungen65 – 67
c)Das Verfahrensrecht in Verfahren gegen Heranwachsende68, 69
2.Das Steuerstrafverfahren70 – 74
a)Allgemeines70
b)Wichtige Unterschiede71, 72
c)Phänomenologie und Verfahrensstruktur73, 74
3.Das Ordnungswidrigkeitenverfahren75 – 83
a)Einordnung und Überblick75 – 77
b)Das vorgeschaltete Verwaltungsverfahren78 – 80
c)Einspruch und gerichtliches Verfahren81
d)Beitreibung der Geldbuße82, 83
Ausgewählte Literatur
A. Bedeutung und Charakteristika des Strafprozesses
1
Strafrechtliche Sanktionen stellen die schärfsten Eingriffe dar, mit denen die Rechtsordnung den Bürger üblicherweise konfrontiert. Insoweit ist das Strafrecht das „schärfste Schwert“ des Staates zur Gewährleistung des Schutzes hochrangiger Rechtsgüter.[1] Zugleich ist es damit aber auch – und in vielen Bereichen zunehmend ohne wirkliche Beachtung von Prinzipien wie dem „fragmentarischen Charakter des Strafrechts“ oder dem „Strafrecht als ultima ratio des Rechtgüterschutzes“[2] – schlicht ein Instrument der staatlichen Sozialkontrolle in solchen Fällen, in denen zivil- und öffentlich-rechtliche Eingriffsmechanismen nicht Erfolg versprechend erscheinen. Zum Schutze individueller und kollektiver Rechtsgüter (die ungeachtet der soeben erwähnten Tendenzen aber über einen bloßen „Schutz des gedeihlichen Zusammenlebens“ hinausgehen müssen) werden Verbote und Gebote aufgestellt, deren Verletzung scharf sanktioniert wird.
2
Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung des Strafrechts (als Gesamtmaterie) als Schutzrecht für besonders bedeutsame Rechtsgüter gegen schwerwiegende Eingriffe stellt der Strafprozess – vergleichbar auch jeder anderen Form von Prozess im Verhältnis zum zugehörigen materiellen Recht – einen rechtlich geordneten, sich von Lage zu Lage fortentwickelnden Prozess zur Gewinnung einer richterlichen Entscheidung über ein materielles Rechtsverhältnis dar. Das Strafprozessrecht konstituiert das materielle Recht dahingehend, als dort die Regeln aufgestellt werden, nach denen zum einen festgestellt wird, ob sich ein Verdächtiger überhaupt strafbar gemacht hat, und nach denen zum anderen geregelt wird, wie eine etwaige Strafe vollstreckt wird. Insoweit ist das Strafprozessrecht – anderen Prozessordnungen vergleichbar – in ein Erkenntnis– und Vollstreckungsverfahren (vgl. §§ 449 ff. StPO) unterteilt, wobei die inhaltliche Ausgestaltung der Vollstreckung von Freiheitsstrafen im Strafvollzugsrecht eine eigene Materie bildet. Für die einzelnen am Strafverfahren beteiligten Personen (vgl. dazu jeweils überblicksartig (→ StPO Bd. 7: Thomas Fischer/Hans Kudlich, Gerichte, § 15; Michael Heghmanns, Staatsanwaltschaft, § 17; Matthias Jahn/Dominik Brodowski, Verteidigung, § 18; Jochen Bung, Beschuldigter, § 20; Stephan Barton, Opfer, § 21) enthält das Strafprozessrecht positive wie negative Verhaltensanordnungen.
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Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit lässt sich das deutsche Strafverfahrensrecht wie folgt grob charakterisieren:[3] Das Strafverfahren in Deutschland ist kein Parteiprozess (vgl. § 160 Abs. 2 StPO). Es ist jedenfalls im Ausgangspunkt durch die Offizialmaxime (Strafverfolgung als staatliche Aufgabe und von Amts wegen), durch das Legalitätsprinzip (grds. Verfolgungs- und Anklagezwang als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols) und den Grundsatz der Amtsaufklärung geprägt, auch wenn in der alltäglichen Verfahrenspraxis Opportunitätsaspekte[4] und konsensuale Elemente[5] eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Seine Durchführung ist zwar einerseits Ausübung staatlichen Zwangs; das dazugehörige Strafverfahrensrecht wird jedoch andererseits traditionell als angewandtes bzw. geronnenes Verfassungsrecht bzw. als „Seismograph der Staatsverfassung“ bezeichnet.[6] Zuletzt ist das Strafverfahren – schon mit Blick auf die Unschuldsvermutung – nicht als Teil des Strafübels zu betrachten. Vielmehr ist es im Gegenteil Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die mit der Sachverhaltsermittlung zwangsläufig einhergehenden Belastungen z.B. für den Beschuldigten und die Zeugen möglichst gering zu halten.
B. Ziele des Strafprozesses und des Strafprozessrechts
I. Begrifflichkeiten und Bedeutung
4
Bei den nachfolgenden Überlegungen werden die Begriffe des „Ziels“ bzw. des „Zwecks“ des Strafprozesses schon deshalb synonym verwendet, weil auch die Diskussion in der Lit. vielfach divergierend unter beiden Stichworten geführt wird.[7] Wegen der Vielzahl der hier in Betracht kommenden und sich teilweise auch widersprechenden (vgl. auch unten Rn. 11) Aspekte darf die Frage nach Ziel bzw. Zweck des Strafprozessrechts für die praktische Rechtsanwendung gewiss nicht überschätzt werden; freilich ist sie auch nicht nur rein akademischer Natur. Überall dort, wo es um Grundfragen der Auslegung des Strafverfahrensrechts bzw. um Grenzbereiche einzelner Regelungen geht (wie etwa bei der Diskussion um den Rechtsmissbrauch im Strafprozess und den darauf möglichen und angemessenen Reaktionen, vgl. eingehend → StPO Bd. 8: Hans Kudlich, Missbrauch von Verfahrensrechten, § 43[8]), kann der Rückgriff auf die Prozessziele die Auslegung leiten. Dass sich diese Prozessziele vielfach nicht unmittelbar aus dem Normtext ergeben und ihre Gewichtung zumindest teilweise letztlich rechtspolitischer Natur ist, steht der Bedeutung für die Gesetzesanwendung nicht notwendig entgegen: Man mag zwar mit guten Gründen behaupten, dass die intersubjektive Verbindlichkeit des „Prozesszielarguments“ darunter leidet; jedenfalls werden dadurch aber – methodisch allein redlich – die kriminalpolitischen Prämissen der eigenen Argumentation offen gelegt.
II. Die wichtigsten Verfahrensziele in der Diskussion[9]
1. Verwirklichung des materiellen Strafrechts
5
Schon aus dem eingangs genannten Wesen jedes Prozesses als rechtlich geordnetem Vorgang zur Gewinnung einer Entscheidung über ein materielles Rechtsverhältnis ergibt sich, dass es im Ausgangspunkt (vielleicht nicht abschließend, aber doch jedenfalls) nicht falsch sein kann, wenn als ein Zweck des Strafprozesses die Verwirklichung des materiellen Strafrechts genannt wird.[10] Dem kann nicht etwa entgegengehalten werden, dass es in manchen Fällen zu Freisprüchen (bzw. zur Nichtanwendung des Strafrechts[11]) kommt. Eine Verwirklichung des materiellen Rechts liegt – von der durch den Prozess noch verstärkten Präventivfunktion einmal ganz abgesehen – ja auch dann vor, „wenn es seine Garantiefunktion zugunsten des Angeklagten entfaltet und ihm bei nicht nachgewiesener Schuld zum Freispruch verhilft“.[12] Ebenso spricht die Möglichkeit von Fehlurteilen nicht gegen den Verwirklichungsgedanken,[13] da eine Zieldefinition nicht dadurch falsifiziert wird, dass ihr Ziel in „pathologischen Ausnahmefällen“, die unstreitig an sich vermieden werden sollen, nicht erfüllt wird.[14] Vielmehr spricht bereits die Bewertung als Fehlurteil bei Nichtübereinstimmung des Urteils mit den Vorgaben des materiellen Rechts dafür, dass dessen Verwirklichung „eigentlich“ angestrebt wird und damit (ein) Prozessziel ist. Dabei ist unter „Verwirklichung des materiellen Strafrechts“ weder eine völlige Verschmelzung i.S. einer Schaffung bzw. Realisierung des materiellen Rechts erst im Prozess[15] noch eine fast vollständige Trennung zwischen materiellem Recht und Prozess im Goldschmidt’schen Sinne des „Prozesses als Rechtslage“[16] bzw. eine reine Legitimation durch Verfahren im Luhmann’schen Sinne[17] zu verstehen.
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Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenwirken von materiellem und prozessualem Recht. Dabei kommt Letzterem eine unterstützende Funktion zu: Das Strafprozessrecht ist gegenüber dem materiellen Strafrecht zwar eigenständig, hat aber gleichwohl instrumentalen Charakter.[18] Dabei lassen sich allerdings bestimmte prozessuale Regeln und Gegebenheiten nur verstehen, wenn das zu verwirklichende materielle Strafrecht gleichsam „prozessual aufgeladen“ gedacht wird: Während nämlich z.B. durch den Freispruch des Unschuldigen das materielle Strafrecht noch in gleicher Weise „verwirklicht“ wird, wie durch die Verurteilung des Schuldigen (vgl. o.), stellt der Freispruch desjenigen, der nur nicht zur Überzeugung des Gerichts (§ 261 StPO) der Tat überführt werden konnte[19] (diese aber in Wahrheit begangen hat), isoliert betrachtet gerade keine Verwirklichung des materiellen Strafrechts dar. Vielmehr ist er nur dann auch Ausfluss seiner Garantiefunktion, wenn man das materielle Recht um prozessuale Garantien und um das Erfordernis gerade eines prozessordnungsgemäßen Schuldnachweises ergänzt denkt.
2. Wahrheitsermittlung als Ziel des Strafprozesses
7
Häufig wird als das (bzw. zumindest als vorrangiges) Ziel des Strafprozesses die Ermittlung der materiellen Wahrheit genannt. Der Zusammenhang zwischen dieser Aufgabe und der Verwirklichung des materiellen Strafrechts liegt auf der Hand: Durchsetzung des Strafanspruches bedeutet, dann zu bestrafen, wenn tatsächlich eine pönalisierte Handlung erfolgte. Ob dies aber der Fall war, ist gerade eine Frage der zu ermittelnden Wahrheit, wenn man „Wahrheit“ als „Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit“ versteht. Inwieweit man hier wissenschaftstheoretisch das Finden einer „wirklichen“ Wahrheit im Sinne einer Theorie der tatsächlichen Korrespondenz oder – überzeugender – stets nur das Erreichen einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit für möglich hält,[20] spielt dafür keine ausschlaggebende Rolle (und wird im Übrigen auch durch § 261 StPO relativiert): Anzustrebendes Ziel des Strafprozesses muss stets die „Wahrheit“ sein, deren Erreichen man für möglich hält. Dieses hohe Maß an Wahrscheinlichkeit (und nicht nur ein geringfügiges Überwiegen der Wahrscheinlichkeit in die eine oder andere Richtung) ist es nämlich auch, welches in der Wissenschaftstheorie verbreitet an die Stelle einer Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie gesetzt wird.
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Ein alleine auf die Wahrheitsermittlung (als Endzweck) gerichtetes Prozessziel würde dagegen zu kurz greifen. Dies nicht nur, weil der Prozess kein historisches Forschungsvorhaben ist[21] und an seinem Ende keine Verlesung eines Protokolls über den Tathergang, sondern die Verkündung einer Entscheidung steht.[22] Vielmehr ist zum einen die Suche nach der Wahrheit in zahlreichen Fällen bewusst „prozessual verfälscht“,[23] da es nach einer vielfach wiederholten Formulierung des BGH gerade „kein Grundsatz der StPO (ist), dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsste“;[24] zum anderen erfolgt die Suche nach der Wahrheit sogar dort, wo nicht auf sie verzichtet werden soll, nicht um ihrer selbst willen, sondern als Grundlage für das spätere Urteil bzw. für die im Strafverfahren erstrebte „Beseitigung der Folgen einer Verdachtssituation“.[25]
3. Gerechtigkeit als Ziel des Strafprozesses
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Soweit die „Gerechtigkeit“ als Ziel des Strafverfahrens postuliert wird,[26] ist dies zwar ein hehres Ziel, und die Gerechtigkeit mag im Einzelfall auch einmal (dann aber wohl auch mit präziseren Begriffen umschreibbar) gewisse unhintergehbare Grenzen des Prozessrechts markieren;[27] als operabler Maßstab positive Inhalte festzusetzen vermag sie dagegen in den meisten Fällen nicht. Dies gilt selbst dann, wenn man den allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken – etwa in der klassischen und bis heute in der abendländischen Kultur wirkmächtigen Differenzierung nach Aristoteles – etwa zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia distributiva und iustitia commutativa) weiter ausdifferenziert. Einen stärkeren Bezug zum Strafverfahren mag man einem dritten Gerechtigkeitsaspekt zubilligen, der etwa bei Coing als „iustitia protectiva“ bezeichnet wird und besagt, dass alle Macht von Menschen über alle Menschen begrenzt sein müsse.[28] Indes ist auch dieser Gesichtspunkt positiv-rechtlich wohl schärfer an der Geltung von Grundrechten gegen staatliche Eingriffe im Strafverfahren festzumachen.
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Neben dieser „Verfahrensgerechtigkeit“ spielt auch der materielle Aspekt eines gerechten Prozessergebnisses eine Rolle. Dieser weist untrennbare Bezüge zu den vorher genannten Prozesszielen der Verwirklichung des materiellen Strafrechts und der Wahrheitsermittlung auf: Ob nämlich die Behandlung eines Straftäters „angemessen“ erscheint, richtet sich zunächst und in erster Linie nach den Strafdrohungen, die das materielle Strafrecht für bestimmte Verhaltensweisen aufstellt. Nur wenn diese „gerecht“ erscheinen, kann der Strafprozess insoweit zu einem gerechten Ergebnis führen; soweit sie als „ungerecht“ empfunden werden, bleibt dem Richter aufgrund der in Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG statuierten Gesetzesbindung nur ein geringer Spielraum, eine „gerechtere“ Entscheidung zu treffen. Weiterhin ist für eine gerechte, d.h. hier also „den jeweiligen Eigenarten des Täters angemessene“ Strafe neben der abstrakten Strafdrohung für ein bestimmtes Verhalten in den Tatbeständen des Besonderen Teils auch die Strafzumessung von Bedeutung; diese muss insbesondere die persönliche Vorwerfbarkeit beim Täter berücksichtigen, wie es in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB zum Ausdruck kommt. Da aber eine materiell strafrechtliche Norm nur das Verhalten gerecht sanktionieren soll und kann, das tatsächlich vorgelegen hat, und auch nur die Schuld Grundlage der Strafe i.S. des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB sein kann, die der Täter tatsächlich auf sich geladen hat, liegt auf der Hand, dass ein gerechtes Urteil grundsätzlich vor allem ein solches ist, dem die bestmöglich ermittelte Wahrheit zugrunde liegt.[29]
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Auseinanderlaufen könnten diese beiden Zielvorgaben, wenn im Interesse anderer Rechtsgüter auf die (vollständige) Wahrheitsermittlung bzw. -verwertung verzichtet wird (vgl. soeben Rn. 8). Denn darin könnte man zwar eine Einschränkung der Wahrheitserforschung, nicht aber der Suche nach Gerechtigkeit sehen, wenn man diese Einschränkungen gerade für „gerecht“ hält. Allerdings erscheint es sachgemäßer, als Anknüpfungspunkt für eine „gerechte“ Entscheidung nur das Tatgeschehen zu wählen (vgl. o.) und deshalb in den genannten Fällen zugleich einen Verzicht auf eine „gerechte“ Entscheidung anzunehmen, so dass es auch keine „Gerechtigkeit um jeden Preis“ gibt.[30] Auch die Gerechtigkeit umfasst damit nicht alle von einem Strafprozess potentiell betroffenen Interessen in dem Sinne, dass bei ihrer Beachtung keine Einbußen für andere Interessen mehr entstehen könnten. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die Anforderungen von Wahrheit und Gerechtigkeit mit dem Schutz der vom Strafprozess bedrohten Rechtsgüter in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
4. Schutz kollidierender Rechtsgüter als eigenes Prozessziel?
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Die voranstehenden Überlegungen lassen einzelne Aspekte immer wieder als (monistische) Verfahrensziele deshalb nicht vorbehaltlos durchschlagen, weil Persönlichkeitsrechte der Betroffenen einer Realisierung dieses Zwecks bzw. einer Erreichung dieses Ziels entgegenstehen. Das legt die Frage nahe, ob nicht (auch) der Schutz dieser kollidierenden Persönlichkeitsrechte als ein Prozessziel betrachtet werden kann. Wenn man keinem gleichsam monistischen Modell über den Zweck des Strafverfahrens anhängt, ist es dabei auch nicht erforderlich, danach zu fragen, ob diese Interessen das eigentliche Prozessziel sind, sondern es genügt die Frage, ob sie einen Zweck des Strafverfahrens darstellen. Dieser Unterschied wirkt sich selbstverständlich auch auf die Beantwortung der Frage aus: Ein monistisches Modell müsste sie sehr schnell verneinen, weil z.B. die Rechtskraft in engen Ausnahmen wieder durchbrochen werden kann. Gleiches gilt ganz augenscheinlich auch für den Persönlichkeitsrechtsschutz, da im Strafverfahren geradezu typischerweise in die Rechtspositionen des Bürgers eingegriffen werden kann. Anders könnte man hier allenfalls entscheiden, wenn man im Sinne der Kernbereichsrechtsprechung[31] einen Persönlichkeitskern als unantastbar versteht und in diesem dann das eigentliche Prozessziel sehen würde. Freilich könnte eine Verengung des Strafprozesses auf einen so kleinen und in vielen Verfahren bedeutungslosen Bereich kaum überzeugen.
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Gegen die Betrachtung des Schutzes bedrohter Persönlichkeitsinteressen als Verfahrensziel spricht überdies, dass das Strafverfahren bestenfalls mittelbar (und auch nur sehr selten) gerade dafür durchgeführt wird, dass diese Rechte geschützt werden. Insofern kann man von ihnen kaum als Zweck des Strafverfahrens sprechen, sondern muss sie in Abgrenzung dazu als Aufgabe des Strafverfahrensrechts begreifen.[32] Spätestens dies macht deutlich, dass in einem konkreten Strafverfahren als tatsächlichem Lebensvorgang verschiedene Ziele des Verfahrens als Institution einerseits und des Verfahrensrechts als Regelung dieser Institution andererseits aufeinandertreffen. Schon deshalb muss das Strafverfahren samt der es regelnden Verfahrensnormen durch Zielkonflikte geprägt sein (vgl. auch sogleich Rn. 16 ff.).