Kitabı oku: «Mit dem Herzen atmen», sayfa 2

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Grillparzer im Pornoladen

Zur Premiere von Peter Turrinis Theaterstück „Grillparzer im Pornoladen“ am 15. September 1994 im Wiener Rabenhof bin auch ich eingeladen. Mein Sitzplatz befindet sich direkt hinter Bürgermeister Helmut Zilk und seiner Gattin Dagmar Koller, deren Kommentare während des Stücks mich ähnlich erheitern wie Dolores Schmidinger und Otto Schenk in den Hauptrollen auf der Bühne. Was dort den Zuschauern geboten wird, ist wunderbares Theater, beinahe eine Liebesgeschichte zwischen zwei älteren Menschen und unfreiwillig komisch, in einem Pornoladen.

Nach der Premiere bewegt sich der Kreis der geladenen Gäste in Richtung des Wiener Nobelstundenhotels „Orient“ am Tiefen Graben im 1. Bezirk. Weil ich telefoniere, verliere ich den Anschluss an die Gruppe und stehe wenig später alleine vor der Eingangstür zum „Orient“. Plötzlich und unerwartet begrüßt mich dort der damalige Österreichische Botschafter auf den Philippinen, Dr. Wolfgang Jilly. Er ist ein langjähriger Freund, den ich bereits während meines Studiums in Rom kennengelernt und gemeinsam mit Bischof Egon Kapellari während seiner Zeit als österreichischer Botschafter in Chile in Santiago de Chile besucht habe. Auf seine Frage, was ich hier denn suche, antworte ich ihm, dass ich im „Orient“ zu einer Premierenfeier eingeladen bin. Er klopft mir auf die Schulter und meint: „Gratuliere! Jeder muss einmal damit beginnen!“ Und wie ich ihm vorschlage, doch mit mir zu kommen, um sich von der Lauterkeit meiner Absicht zu überzeugen, lehnt er mit dem Hinweis darauf ab, dass ihm seine Frau diese Geschichte nicht glauben würde. Damit versäumt er ein wunderbares Fest, das mit selbstgebackenen Süßigkeiten der Großmütter der Damen des Hauses erst in den frühen Morgenstunden ausklingt …

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Svjatoslaw Richter

Wenn du einem Spiel zuschaust, ist es Vergnügen, wenn du es spielst, ist es Erholung, wenn du daran arbeitest, ist es Studium.

Wassily Kandinsky

(1866–1944)

Meinem Kollegen Alfred Kirchmayr verdanke ich den schönen Satz, wonach ein Mensch erst dann reif ist, wenn er den Ernst wiederfinden kann, den er als Kind beim Spielen hatte. Der spielende Mensch, oder besser gesagt, erst der spielende Mensch ist in der Kraft seiner Kreativität lebendig und in der Lage, diese seine Welt unverwechselbar mitzugestalten. Mag sein, dass die großen Erfindungen und Entdeckungen unendlich viel Mühe und zeitlichen Aufwand erfordert haben, aber die Tatsache, dass es so weit kommen konnte, hat wohl immer auch mit der Leidenschaft des Herzens zu tun, an den Dingen, die uns beschäftigen, so lange mit aller Leidenschaft dranzubleiben, bis sie uns durch alle Tiefschläge und Talsohlenerfahrungen hindurch mit einem Male und dann endlich ganz leicht und spielerisch von der Hand gehen. Oft erlebe ich gerade in der Musik diese Art des Spielerisch-Kreativen als den Inbegriff des Lebendigen. Es bedarf allerdings einer großen Professionalität, die zuallererst darin besteht, Können und Wollen als inneren Ruf wahrzunehmen, der den Berufenen erst dann zur Ruhe kommen lässt, wenn er sein Bestes gegeben hat und trotzdem nie genau wissen wird, ob das, wofür ihn andere loben, tatsächlich auch das Beste war, das zu geben er mit etwas Glück in der Lage sein könnte.

Einer meiner kulturellen Höhepunkte als Rektor des Bildungshauses in St. Georgen am Längsee war die Begegnung mit Svjatoslaw Richter (1915–1997), der als Pianist in Moskau Sergei Prokofjew kennenlernte, 1942 dessen 6., 7. und 9. Sonate uraufführte und von Prokofjew dessen 9. gewidmet bekam. Nachdem Richter in seiner Heimat bereits als Berühmtheit galt, durfte er 1960 erstmals in den Westen reisen. Am 19. Oktober 1960 gab er sein umjubeltes Debüt in der Carnegie Hall in New York, an das sich eine große USA-Tournee anschloss. Es folgten Auftritte in Europa, ab 1971 auch in Deutschland.

Wie kaum ein anderer Pianist verlieh er seinen Interpretationen eine individuelle Note. Dabei fesselten sein poetisches Spiel und sein weicher Anschlag noch mehr als seine Virtuosität. Ganz zum Schluss seines Lebens schickte der Maestro seine Schüler aus, um an Orten, die sich seine Kunst nicht leisten konnten, nach Sälen zu suchen, in denen er spielen wollte. Nicht mehr die Carnegie Hall, nicht mehr der Goldene Saal des Wiener Musikvereins waren seine bevorzugten Plätze, sondern Orte wie der Festsaal des Bildungshauses St. Georgen am Längsee, der nie zuvor solche Musik erlebt hat und wohl auch niemals nachher erleben wird können. Die spielerische Leichtigkeit und Innigkeit, mit der der Maestro damals Chopins Etüden spielte, bleibt mir in herzlicher Erinnerung, ebenso das Gespräch mit ihm im Künstlerzimmer. Nie zuvor hätte ich gedacht, wie sehr ein so großer Künstler sich über die kleinen und scheuen Wortspenden der musikalisch nicht sehr gebildeten Konzertbesucher freuen konnte. Unvergessen auch das gemeinsame Abendessen nach dem Konzert im Restaurant Bachler in Treibach-Althofen. Nach dem ersten Löffel seiner Gorgonzolarahmsuppe ruft der Maestro aus: „Diese Suppe ist ein Traum!“ Das Gästebuch des Restaurants belegt unser Abendessen dort durch die Eintragung vom 15. 2. 1989 „mit besten Wünschen“, und Kazuto Osato, Richters legendärer Klavierstimmer, fügte auf Japanisch hinzu: „Danke für das wunderbare Mahl!“

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Kurt Marti

Kurt Marti (1921–2017) besucht mit Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium Bern. Der Sohn eines Notars folgt zunächst dem Weg des Vaters und studiert zwei Semester an der juristischen Fakultät der Universität Bern, bevor er sich für ein Studium der evangelischen Theologie entscheidet. Zunächst beginnt er damit an der Universität in Bern und setzt es dann 1945 bis 1946 an der Universität Basel fort, wo sein theologisches Denken besonders von Karl Barth geprägt wird.

In den Jahren 1947 bis 1948 ist Marti ein Jahr lang Kriegsgefangenenseelsorger in Paris. Nach seinem Hochschulabschluss und der Ordination wird er Pfarrer im bernischen Rohrbach und 1949 Pfarrer in Lemiswil. 1950 heiratet er Hanni Morgenthaler, mit der er drei Söhne und eine Tochter hat. Von 1950 bis 1960 ist Marti Pfarrer in Niederlenz. In dieser Zeit beginnt er Zeitungsartikel, Gedichte und Geschichten zu schreiben, auch um, wie er mir selbst erzählte, dadurch einer Midlife-Crisis zu entgehen. Von 1961 bis 1983 ist Kurt Marti Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Als aktiver Teil der deutschen Friedensbewegung engagiert er sich im Kampf gegen Atomwaffen, Atomkraftwerke und die US-Intervention in Vietnam. In dieser Zeit lernt er auch Dorothee Sölle kennen, die neben Karl Barth wohl zu den wichtigsten Menschen gehört, ihn nachhaltig beeinflussen. 1972 verweigert ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern. Marti empfindet diese Ablehnung als „Auszeichnung“ sowie als Bestätigung dafür, dass sein sozialpolitisches Engagement richtig ist. In der ihm in der Folge von der Universität verliehenen Ehrendoktorwürde sieht Marti genüsslich ein Schuldeingeständnis.

Im Jahre 1991 besuche ich das Ehepaar Marti in Bern, um mit Kurt Marti in seinem Haus ein Interview für die Kärntner Kirchenzeitung zu führen. Die Herzlichkeit, mit der ich dort aufgenommen werde, überwältigt mich. Unser Interview ist schnell erledigt, das daran anschließende persönliche Gespräch dauert bis spät in den Abend hinein. Kurt Marti erzählt mir von der Zeit, in der er so alt war, wie ich jetzt, und welche Strategien er damals gegen die Midlife-Crisis fand. Dabei wachsen mir Flügel und ich fasse mir ein Herz, diesen beiden wunderbaren Menschen über meine bisher geheimen Pläne zu erzählen, den kirchlichen Dienst in Richtung weltliche Seelsorge zu verlassen. Frau Marti fragt genau nach, lädt mich ein, genauer von meinen Plänen und den damit verbundenen Ängsten zu reden, um mir dann zu sagen: „Nur Mut, es kann Ihnen nichts passieren! Vor Ihnen liegt ein wunderbarer Weg!“ Sie sollte recht behalten.

Kurt Martis vielleicht bekanntestes Buch sind seine „Leichenreden“ – „Nekrologe jenseits aller Abdankungsrhetorik“, wie Manfred Papst im Vorspann schreibt. Papst ist davon überzeugt, dass bei der Lektüre nicht nur ein lügengeplagter Pfarrer, sondern auch eine an offenen Gräbern immer noch zu findende lügengeplagte Sprache aufatmen könne. Ein solches Aufatmen kann auf Verlegenheitsfloskeln verzichten, die sich am offenen Grab in allzu billiges Trösten flüchten:

dem herrn unserem gott

hat es ganz und gar nicht gefallen

dass einige von euch dachten

es habe ihm solches gefallen

im namen dessen der tote erweckte

im namen des toten der auferstand:

wir protestieren gegen den tod … 4

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„Das kriege ich auf keine Bühne“

Ich war neun Jahre Seelsorger in Klein St. Paul, einer kleinen Industriegemeinde in Kärnten. Eines Freitagabends ruft mich der Direktor des „Berliner Ensembles“, vormals Direktor des Wiener Burgtheaters, Claus Peymann, an und erkundigt sich nach den „Beginnzeiten meiner Wochenendvorstellungen“, verbunden mit dem Ansinnen, am kommenden Sonntag den Pfarrgottesdienst besuchen zu wollen. Um einem Theaterdirektor auch eine würdige „Vorstellung“ bieten zu können, bereite ich mich gründlicher als sonst auf meine Predigt vor. Tatsächlich erhalte ich (wie ich zunächst dachte, gerade dafür) von meinem liturgischen Gast auch ein fachmännisches Lob: „Was ich heute hier erlebt habe, kriege ich auf keine Bühne!“

Sichtlich bewegt von der gemeinsamen liturgischen Feier lädt mich Peymann zum Mittagessen ein, um mir dort nach mehrstündigen Gesprächen zu erklären, worauf sich das Lob des großen Theatermachers bezieht. Was den Meister der Dramaturgie so beeindruckt hatte, war nicht die gründlich vorbereitete Predigt und auch nicht der an diesem Tag ganz bewusst eingesetzte liturgische Gesang des Zelebranten oder sonstige bemerkenswerte liturgische Details vom Glockenklang über Chorgesang bis hin zum dampfenden Weihrauchfass. Nein, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Moment der Wandlung, jenem kurzen Augenblick, in dem der Zelebrant eine unscheinbare Scheibe ungesäuerten Brotes in völliger Stille zum Himmel emporhebt. Dieser winzige Augenblick völliger Stille in einer kleinen Dorfkirche am Rande der Welt hatte es vermocht, einen routinierten, weltmännisch verwöhnten Theaterprofi für einen Moment außer sich und buchstäblich sprachlos sein zu lassen.

Dieses Ereignis liegt nun schon bald zwanzig Jahre zurück. Inzwischen habe ich mein Priesteramt gegen das eines Psychotherapeuten eingetauscht. Geblieben aber ist mir eine ständig wachsende Leidenschaft für genau das, worum es damals in Klein St. Paul und in ungezählten anderen Momenten meines Lebens gegangen ist: Um erfüllte Stille, in der sich innere Wandlung vollzieht! Momente des Berührt-Werdens und Angerührt-Seins, in denen ich so da sein kann, dass ich davon „ganz weg“ bin.

In solchen Momenten wird der Alltag zum Erlebnis: Aus Brot und Wein wird Kraft und Freude, aus dem Alltag der Augenblick, aus der Gewohnheit die Innigkeit, aus Wiederholung Einmaligkeit, aus Routine innere Berührung, aus der Reprise eine Weltpremiere. Seit jener Begegnung mit Claus Peymann weiß ich: Die Vermittlung spiritueller Erfahrung und deren Vertiefung hat keine Berufsgruppe für sich allein gepachtet, so wie auch die spirituelle Erfahrung selbst kein Vorrecht für religiöse Gemeinschaften bleibt.

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Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich (1917–2012) war eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Nach dem Studium der Literatur und der Medizin arbeitete sie als Ärztin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und begründete gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das „Sigmund-Freud-Institut“ in Frankfurt am Main. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich mit der, wie sie es selber nennt: „Mühsal der Emanzipation“, beschäftigt. Mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann im Jahr 1967 eine Diskussion über Schuld und Mitschuld an den politischen Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus entfacht.

Am 19. April 2005 wurde ihr von den Wiener Vorlesungen der Stadt Wien der Erwin-Chargaff-Preis verliehen. Margarete Mitscherlich, die „Grande Dame“ der Psychoanalyse, saß mit uns am Tisch, wir erzählten von unserer Arbeit, sie von ihrer. Wenige Tage zuvor war Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 in Rom gestorben. Einer meiner Therapeutenkollegen erzählte davon, wie er die Liveübertragung des Papst-Begräbnisses am 8. April 2005 im ORF „in Echtzeit“ miterlebt und dabei Gänsehaut und Angst bekommen hätte. Vier Millionen Menschen hätten sich rund um den Petersplatz in Rom versammelt und in nicht enden wollenden Sprechchören gerufen: „Santo subito!“ – „Mach ihn sofort zum Heiligen!“

Adressat dieses Zurufs war der damals noch nicht gewählte, neue und jetzt emeritierte Papst Benedikt XVI. Adressat dieser Erzählung meines Kollegen war an diesem Abend neben Mitscherlich ich, weil er bei mir in diesem Kreis die größte Nähe zur katholischen Kirche vermutete. Obwohl es mich gereizt hätte, hielt ich mich mit einer Antwort zurück. Gerade in diesem Zusammenhang hatte er ein Thema auf den Tisch gebracht, das mich seit Langem beschäftigte, hier und zu diesem Anlass aber unpassend schien: dass nämlich das kirchengeschichtlich Besondere an dieser Situation damals die Tatsache war, dass die Menschen damit die Heiligsprechung eines Mannes forderten, der als Papst das Kunststück zuwege gebracht hatte, in seiner Amtszeit mehr als doppelt so viele Heilig- und Seligsprechungen vorzunehmen wie alle seine Vorgänger in 2000 Jahren Kirchengeschichte zusammen. Professor Max Friedrich, der diese Runde zusammengerufen hatte, gab uns gegen 22 Uhr zu verstehen, dass es aus Rücksicht auf unseren fast 88-jährigen Gast an der Zeit wäre, unser Abendessen zu beenden. Wir verabschiedeten uns voneinander und waren beeindruckt von der Frische und Lebendigkeit dieser großartigen Frau. Zu Hause in der Kochgasse, nicht weit entfernt vom Restaurant, arbeitete ich noch still vor mich hin und erschrak, wie schnell es Mitternacht geworden war. Ich schaltete noch schnell den Fernseher ein – und sah als Interviewgast in der ZIB 3 Margarete Mitscherlich!

Sie war also nicht, wie wir vermutetet hatten, nach Hause gefahren, um sich auszuruhen, sondern ins ORF-Studio, um dort noch zur Mitte der Nacht ein Interview zu geben. Da saß sie nun! Und da saß ich und hörte ihr gespannt zu und notierte mir jedes Wort, dankbar dafür, ihr an diesem Abend persönlich begegnet zu sein. Abschließend wurde sie von der Moderatorin gefragt: „Was sind die nächsten Pläne, Frau Professor?“ Margarete Mitscherlich lacht und antwortet: „Ich bin 87! Der nächste Plan ist, zu sterben.“ Darauf Eva Pfisterer: „Und wie ist dieser Gedanke? Wie sind für Sie Gedanken an den Tod?“ Mitscherlich: „Mit 87 sind sie ziemlich in der Nähe. Ich habe auch nichts dagegen. Ich meine, sterben ist etwas … Noch nie ist einer vom Tod zurückgekommen. Sie sterben und niemand kann Ihnen sagen, was das ist. Niemand! Es hat immer etwas Unheimliches, etwas ganz und gar Unbekanntes. Wer tröstet mich da und hält meine Hand?“

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Troubled water

Das eheliche Glück meiner Eltern war bereits nach wenigen Monaten verflogen. Trotzdem sollte es noch Jahre dauern, bis meine Mutter – nicht zuletzt durch den Beistand eines behutsam an der Not seiner „Schäfchen“ orientierten Seelsorgers – den Mut fasste, sich von meinem alkoholkranken Vater zu trennen. Keine leichte Entscheidung für eine achtundzwanzigjährige Frau mit sechs Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren. Keine leichte Entscheidung in einem ländlich-katholischen Umfeld, dem zumindest nach außen hin an „ordentlichen Verhältnissen“ gelegen war.

Geredet hat Mama (fast) nie darüber, oder besser gesagt, nur in der ihr eigenen Art eines vielsagenden Schweigens. Und so hat sich unter uns Geschwistern ein stilles Übereinkommen ergeben, die Mutter mit Fragen nach unserem Vater nicht zu überfordern. Mir als dem Ältesten fiel das besonders schwer. Nicht zu wissen, wie es meinem Vater geht, hat mir wehgetan. In meinen Gymnasialjahren habe ich dann begonnen, ihn regelmäßig zu besuchen, mit ihm zu „watten“ und ihn dabei möglichst oft gewinnen zu lassen. Beim Kartenspiel gegen seinen Sohn zu verlieren, konnte er schwer verkraften, ebenso, wenn er bemerkte, dass sein Gegner ihn trotz besserer Karten gewinnen lassen wollte. Insofern waren meine Besuche bei ihm alles andere als einfach, oft schwierige Gratwanderungen zwischen Zumutung und verletztem Stolz. Manchmal aber wurden daraus kleine Sternstunden, in denen er aus seinem Leben erzählte und dabei immer wieder darüber redete, wie sehr er sein „Ingele“, unsere Mutter, geliebt habe. Wenn er davon zu reden begann, klang für mich immer ein uneingestandener Schmerz mit, so als wüsste er im Tiefsten seines Innersten darum, das Schicksal seiner Familie mit sechs Kindern zum großen Teil selbst verschuldet zu haben. Ihm daraus Vorwürfe zu machen, wäre mir in all unseren Begegnungen im Traum nicht eingefallen. Im Sommer 1994, kurz nach seinem 64. Geburtstag, so alt wie ich heute bin, wird mein Vater mit akuter Multiorganschwäche ins Krankenhaus eingeliefert. Bei meinem Besuch dort wird mir sehr schnell der Ernst seiner Erkrankung bewusst. Als ich ein paar Tage später von der dramatischen Verschlechterung seines Zustandes erfahre, bin ich gerade mit meiner Mutter im Auto unterwegs und entschließe mich, ihn sofort zu besuchen. Dass meine Mutter mitkommen will, überrascht mich, ist sie doch all die Jahre nach ihrer Scheidung meinem Vater kein einziges Mal mehr persönlich begegnet. Allein trete ich an sein Sterbebett und sage ihm, dass auch Mama mitgekommen wäre und draußen warte. „Soll nur draußen bleiben“, lautet sein kurzer Kommentar. Als ich mich später von ihm verabschiede, frage ich meinen Vater, ob Mama hereinkommen dürfe. „Wenn sie unbedingt meint, dann soll sie halt kommen“, antwortet er knapp. Angespannt betritt meine Mutter das Krankenzimmer. „Inge!“, ruft ihr mein Vater entgegen. Ich schließe hinter ihr die Türe und lasse die beiden allein. Als Mama nach einer guten Stunde herauskommt, hat sie Tränen in den Augen. Als würde sie mich gar nicht wahrnehmen, sagt sie halb laut vor sich hin: „Nie hätte ich gedacht, dass ich diesem Menschen nach 34 Jahren so aus ganzem Herzen verzeihen kann!“ Ein paar Tage später, am 25. Juli 1994, stirbt mein Vater im Krankenhaus in Spittal an der Drau. Ich bin überzeugt davon, dass er im Grunde seines Herzens auf diese Begegnung gewartet hat, um versöhnt und in Frieden sterben zu können.

Das Vergeben und das Verzeihen gehören zu den innigsten Kulturleistungen des Menschen. Ohne die Kunst der Versöhnung, ohne die Kraft der Vergebung, ohne gelebtes Verzeihen verlieren die kleinen und großen Gemeinschaften in unserer Gesellschaft ihren inneren Halt. Nach nichts hat ein Mensch mehr Sehnsucht als nach dem anderen Menschen, der sich ihm vor allem an den entscheidenden Wegkreuzungen des Lebens als Mensch erweist. Schon Paracelsus wusste, dass „der Mensch des Menschen beste Medizin“ ist und „das beste Maß dafür die Liebe“ bleibt.

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Hubert

Nie spüren wir deutlicher als durch den Tod, was uns ein Mensch bedeutet; erst recht, wenn es ein Freund ist; und der Schmerz, den wir dabei empfinden, hat wohl auch damit zu tun, den kostbaren Wert einer Beziehung zu Lebzeiten nicht gründlich genug ermessen zu haben …

Mit Hubert Luxbacher habe ich meinen besten Freund verloren. Vor Jahren haben wir beide in einem Fernsehfilm über die Kunst einer Männerfreundschaft nachgedacht. Zu gerne hätte ich ihm noch ein letztes Mal gesagt, was er mir bedeutet. Aber mit diesem Schmerz bin ich heute hier nicht allein. Seine Liebe hat vielen Menschen gegolten. Er hat die Menschen gerngehabt und es war seine besondere Begabung, das auch zeigen zu können. So ist er vielen im besten Sinn des Wortes zum „Guten Hirten“ geworden … „Lux, das Licht, es leuchtet nicht“, hat im Gymnasium in Tanzenberg sein Geschichtslehrer Schnabl gespottet, weil er ihm „die Balkanfrage“ nicht beantworten konnte! Und ob sein Licht geleuchtet hat! Und wie! Sein Lachen, der Schalk in seinen Augen, sein herzlich-unkompliziertes Wesen, auch seine akribische Genauigkeit, die ich manchmal als unnütze Kompliziertheit abgetan habe … All das hat uns viel von seinem Licht, von seiner Lebendigkeit und Leidenschaft gezeigt.

Hubert war der Weltmeister pastoraler Sonderwünsche: Ob bei der legendären Schweinsstelzenversteigerung am Ostermontag in St. Wolfgang ob Seeboden oder bei einer Trauung während eines Fallschirmflugs über dem Millstätter See, mit seinen Aktionen hat er Oberkärntner Pastoralgeschichte geschrieben. Ein etwas irritierter Diözesanbischof rief mich damals an, um nachzufragen, ob Hubert die Trauung in der Luft, im Wasser oder vielleicht sogar unter dem Wasser vorgenommen habe. Was er angegangen ist, hat er mit vollem Herzen und aus ganzer Seele unternommen. Halbherzigkeit war ihm zuwider. Bürokratische Hürden konnten ihn zur Weißglut bringen. Das hat ihn oft mehr Kraft gekostet, als er tatsächlich zur Verfügung hatte. Die Menschen haben es ihm gedankt, nicht alle, aber viele haben ihn auf Rosen gebettet und auf Händen getragen, ihn dabei aber auch immer wieder neu gefordert und nicht selten überfordert. – Ich bin überzeugt davon, dass sein Tod auch damit zu tun hat. Und ich habe auch oft gespürt, dass diese Überforderung für ihn oft schwerer zu tragen war, als er sich das selbst einzugestehen vermochte. Sein Herz war stark und groß und dann doch zu schwach, um weiterzuschlagen.

Hubert war ein Seelsorger aus Leidenschaft. Er hat Gott geliebt und die Art seines kindlichen Vertrauens hat ihn in einer Weise von Gott reden lassen, die schlicht, einladend, nie ausgrenzend war. Und wer dabei sein Lachen und seine „luxigen“ Augen erleben durfte, hat verstanden, was er sagen wollte: „Ich kann euch die Existenz Gottes nicht beweisen, aber ich freu mich aus ganzem Herzen, dass mir keiner von euch seine Nicht-Existenz beweisen kann. Gerade deshalb ist es so sinnvoll, dass wir darüber miteinander im Gespräch bleiben!“

Als Freunde haben wir uns beide nicht geschont und uns gegenseitig nichts geschenkt, in unseren Diskussionen haben wir einander kräftig eingeschenkt. Er hat mich immer wieder einen gefährlichen „Systemzerstörer“ genannt und ich ihn oft einen unerträglichen „Systemerhalter“. Beide haben wir es ernst gemeint mit unserer Kritik aneinander. Die soliden Begründungen für unsere Standpunkte reichten in langen Gesprächen weit hinein in die Nacht. Unsere Freundschaft hat ein großes Stück weit gerade davon gelebt.

Hubert hat der römisch-katholischen Kirche die Treue gehalten. Nicht blinder Gehorsam hat ihn dabei geleitet, sondern ein wacher, kritischer Geist, der manchmal aus der Haut fahren wollte, wenn allzu Menschliches in dieser „seiner“ Kirche den Verdacht aufkommen ließ, Vorschriften, Regeln und Strukturen wären wichtiger als die Nöte und Sehnsüchte der Menschen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, auf seinen kirchlichen Dienst zu verzichten. Dazu waren ihm die Menschen zu wichtig, die er wie Schafe ohne Hirten nicht hätte allein lassen können. Als ich mich aus Gewissensgründen aus dem kirchlichen Dienst zurückziehen musste und zu Fuß über Gleinalm und Mariazell nach Wien wanderte, hat er mich in seine Arme genommen und bitterlich geweint. Er war auch der Erste, vor dem ich mich zu meiner Partnerin bekannte. Auch sie hat er umarmt und in sein Herz geschlossen.

Hubert hat vielen Menschen die Kirche als Asylstätte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gezeigt. Er war für viele das sympathische Antlitz einer Kirche, die bis zum letzten Atemzug für andere da ist und Einladung nicht nur predigt, sondern auch lebt.

„Was bleibt von einem?“ – „Alles“, hat einmal Peter Handke, sein Mitschüler aus Tanzenberg, in einem Interview auf diese Frage geantwortet. Ein großer Gedanke! Und ein klein wenig Trost. Aber nicht groß genug, um die Trauer in dieser Stunde zu vertreiben!

Hubert, ich danke dir für jahrzehntelange tiefe Freundschaft. Hätte ich dich noch fragen können, was ich an deinem Grab in deinem Sinne noch sagen sollte, würdest du mich vielleicht gebeten haben, allen Anwesenden für ihr Kommen zu danken, sie um Vergebung zu bitten, wenn du sie gekränkt haben solltest. Und du hättest mich gebeten, jedem Einzelnen von ihnen – so wie wir beide das immer wieder auch füreinander getan haben – den Segen Gottes zuzusprechen. Gott segne dich, Hubert! Luxi! Du Licht! Ewiges Licht leuchte dir!5

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