Kitabı oku: «Was ich glaube», sayfa 2
Beten
Gemeinsam zu beten ist mir seit früher Kindheit vertraut. Samstagabends saßen wir um den Küchentisch, vor allem zu den großen Festtagen wie Weihnachten und Ostern. Besonders lang und gründlich wurde zum Jahreswechsel gebetet. „Danken für das alte Jahr und bitten um ein glückseliges neues Jahr!“ So habe ich die Stimme meiner Mutter im Ohr. Unvergesslich auch unser Beten in der Familie bei Unwettern. Nach der Montage eines Blitzableiters hat das Rosenkranzgebet bei Unwettern allerdings stark nachgelassen, ganz verschwunden aber ist es in meinen Kindertagen nie. Mein persönliches Beten kennt auch heute noch drei Blickrichtungen: nach vorne, nach oben und zurück. Lehrmeister dazu war mir schon zu Schulzeiten der Volksmund: „Drei Blicke tu zu deinem Glück: vorwärts, aufwärts und zurück!“ Beten bedeutet für mich, zum Ausdruck zu bringen, was in mir vor sich geht. Bitten und Danken, Frohlocken und Singen, Weinen und Klagen, das alles ist ein menschliches Grundbedürfnis. „Orare“, das lateinische Wort für „beten“, bedeutet ja im Grunde nichts anderes als „den Mund auftun“ und zum Ausdruck zu bringen, was im Innersten vor sich geht.
Jeder Mensch verdankt sich anderen, er steht auf den Schultern derer, die vor ihm waren und ohne die er nicht auf der Welt wäre. Wer nicht zurückschaut, wer sich um die Wurzel seiner Existenz nicht kümmert, wer so tut, als wäre er ewig aus dem Nichts gekommen oder gar das Produkt seiner selbst, wird im tiefsten Sinn des Wortes „rücksichts-los“. Der Blick zurück ist eine der drei Grundrichtungen menschlichen Daseins. In diesem Blick zurück ist das „Danken“, das bewusste „Daran-Denken“ (aus diesem Wort hat sich das deutsche Wort „danken“ entwickelt) die eine der drei Grundmelodien des Menschen, wenn er seinen Mund auftut und artikuliert, was in ihm vor sich geht. Die zweite Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick nach vorne und die daraus resultierende Grundmelodie die Bitte. Menschsein heißt zu wissen, dass wir aufeinander angewiesen bleiben. Niemand kann sagen, was morgen sein wird, was von seinen Wünschen und Vorsätzen in Erfüllung geht. Wer glaubt, alles selbst leisten und niemanden um etwas „bitten“ zu müssen, wer das Vertrauen nicht kennt, anderen etwas überantworten zu können, weiß nichts von einem großen Teil der Schönheit des Lebens. Ein armer Teufel, wer das „Bitten“ verlernt hat und schließlich stattdessen eine Versicherung abschließt. Schon seit Jahren stelle ich mir die Frage, was ich eigentlich versichere, wenn ich in der momentan so eklatant unsicheren weltwirtschaftlichen Gesamtlage eine „Lebensversicherung“ abschließe. Was versichern uns Versicherungen? Je unsicherer die Wirtschaftslage, desto höher die Versicherungssumme. Im Grunde versichern wir unsere eigene Verunsicherung und auf diese schließen wir dann noch eine sogenannte „Rückversicherung“ ab.
Die dritte Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick „nach oben“. Die daraus resultierende Grundmelodie sind Jauchzen vor Freude, Singen, Tanzen und Springen, „Außer-sich-Sein“.
Ihren Gipfel erreicht diese dritte Grundmelodie, wenn es einem Menschen die Sprache verschlägt, wenn er mit offenem Mund und wie angewurzelt vergebens ums Wort ringt und staunt. Wer staunt, gerät nicht in Gefahr, sich mit Gott zu verwechseln. Ihm fehlen die Worte, sein Mund bleibt offen, staunen nur kann er und staunend sich freuen …
Benedikt und Ignatius
Was mich in meiner Zeit als Seelsorger bei Gottesdiensten immer wieder besonders beeindruckt hat, waren beim Austeilen der Kommunion mir entgegengestreckte, offene, von schwerer Arbeit gezeichnete Hände.
„Ora et labora“ (bete und arbeite!): Mit diesen drei Worten bringt es die Ordensregel des Benedikt von Nursia auf den Punkt. Die von Ignatius von Loyola rund tausend Jahre später daraus abgeleitete, geradezu tiefenpsychologisch relevante Formel lautet: „Bete, als hinge alles von dir ab, handle, als hinge alles von Gott ab!“ Dieses Leitmotiv des Ignatius wird oft falsch zitiert, ist dadurch dann zwar leichter nachvollziehbar, bleibt aber weit hinter dem Kern der ursprünglichen Aussage zurück und klingt im Vergleich dazu banal: „Bete, als hinge alles von Gott ab, handle, als hinge alles von dir ab!“ Im Grunde lässt sich das auch mit einem anderen geflügelten Wort zum Ausdruck bringen: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Ignatius aber wollte „mehr“, und dieses „magis“ besteht für ihn nicht darin, mehr zu tun, sondern darin, bei den vielen Angeboten und Möglichkeiten die richtige Entscheidung zu treffen. Denn, so sagt er, man hätte es ja nicht einfach damit zu tun, zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden, sondern zwischen dem einen Guten und dem anderen. Wie oft würden wir am liebsten beides tun! In solchen Situationen der Unsicherheit entdeckt Ignatius „magis“ als Entscheidungshilfe. In seinem „Exerzitienbüchlein“1, das ich (obwohl dafür von vielen Psychotherapeuten milde belächelt) für ein psychokriminologisches Meisterwerk halte, entwickelt er eine Methode, in Lebensentscheidungsfragen, an wichtigen Wegkreuzungen des eigenen Lebens sich einem dreißigtätigen Nachdenkprozess auszusetzen, um auf dieser Basis die zentralen Fragen des Lebens nicht durch „Vielwissen“, sondern durch das „Verkosten der Dinge von innen her“2 zu beantworten.
Beten und Arbeiten erscheinen so betrachtet als die beiden Grundhaltungen eines Menschen. Durch Kontemplation und Aktion, kraft seiner geistigen und körperlichen Arbeit bleibt er so auf der Suche nach seinen unverwechselbaren Weltmitgestaltungsmöglichkeiten. Bei all seinen persönlichen Begabungen vergisst er aber nicht, dass diese ihm zuallererst geschenkt sind. Darum schreibt Paulus den Korinthern: „So soll keiner sich wichtigmachen für den einen und gegen den anderen. Denn wer gibt dir Vorrang? Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du nicht empfangen?“ (1 Kor 4, 6 – 7 in der Übersetzung von Fridolin Stier)
Blau
Blau ist meine Lieblingsfarbe. Sie bewirkt von allen Farbempfindungen die tiefste Beruhigung. Experimente beweisen, dass bei längerem Betrachten von Dunkelblau die Atmung langsamer wird, der Puls abnimmt und der Blutdruck sinkt. Wassily Kandinsky hat das Blau als „konzentrische Bewegung“ beschrieben und gemeint, dass diese Farbe vom Mitmenschen weg ins eigene Zentrum führe. In allen Ländern Westeuropas, ja sogar der gesamten westlichen Welt ist die Farbe Blau seit mehreren Jahrzehnten die am häufigsten getragene Modefarbe. Sie wird es vermutlich noch lange bleiben, meint Michel Pastoureau, dessen Buch „Blau. Die Geschichte einer Farbe“ 2013 in deutscher Sprache erschienen ist.3 Der Himmel und das Meer, die tiefsten unserer Betrachtung zugänglichen Räume, erscheinen uns blau. Das macht Blau auch zur Farbe des Fernwehs. So wird „blau“ auch oft gebraucht, um etwas Fernes, Unbestimmtes zu bezeichnen. „Ins Blaue hineinreden“, sagen wir, und meinen damit „ohne jeden Plan und Zweck“. In unserer Sprache kennen wir „eine Fahrt ins Blaue“ und vor allem den Wunsch, einmal „blau“ zu machen und nicht zu arbeiten. Andererseits verwenden wir die blaue Farbe aber auch, um Ausreden und Lügenmärchen zu umschreiben: Schon im 16. Jahrhundert war von „blauen Argumenten“ die Rede. Heute sagen wir dazu, dass einer „das Blaue vom Himmel herunterlügt“ oder aber, dass einer den anderen anlügt, „dass er blau wird“. Wenn der Briefträger einen „blauen“ Brief bringt, bedeutet das meistens nichts Gutes, ebenso, wenn einer „vom blauen Affen gebissen“ wird. Positiv besetzt hingegen ist das Himmelblau als Gegensatz zum Alltagsgrau.
In unserem Wortschatz ist „blau“ zu einem Zauberwort geworden, zu einem Begriff, der verführt, der beruhigt, der zum Träumen einlädt. Der Klang des Wortes allein schon ist schön, sanft, angenehm, fließend. Wir denken dabei ans Meer, den Himmel, Erholung, Liebe, Reisen, Urlaub und Unendlichkeit. Und das gleich in mehreren Sprachen: bleu, blue, blu, blau – überall klingt es poetisch und beruhigend … Eine der wesentlichen Eigenschaften der Farbe Blau liegt darin, dass sie ruhig ist und kein Aufsehen erregt, friedlich, fast neutral erscheint. In der Romantik regt sie zum Träumen an, heute ist die Farbe an Krankenhauswänden und als Bluebox im Fernsehen beliebt. Blau ist nicht lästig, verstößt gegen nichts, vermittelt Sicherheit und verbindet. Viele große internationale Organisationen haben gerade deshalb die Farbe Blau als ihre Farbe gewählt: die UNO zum Beispiel, die UNESCO, der Europarat und die Europäische Union. Die Farbe Blau wurde so nach und nach zu einer internationalen Farbe mit dem Auftrag, den Frieden und das Verständnis unter den Völkern zu fördern.
C
Carnuntum
Am 11. November 308 findet in Carnuntum unter der Leitung von Diokletian die sogenannte „Kaiserkonferenz“ statt. Die dabei neu aufgeteilten Machtverhältnisse im Römischen Reich etablieren eine Viererherrschaft („Tetrarchie“) mit Galerius als Augustus und mit Maximinus als Caesar im Osten sowie mit Licinius als Augustus und Konstantin als Caesar im Westen. Zweieinhalb Jahre später, am 30. April 311, erlässt Galerius das „Toleranzedikt von Nikomedia“ und anerkennt damit das Christentum als „religio licita“ und duldet damit offiziell als erster Kaiser das Christentum. Zwei Jahre danach verfassen Konstantin und Licinius gemeinsam die „Vereinbarung von Mailand“, welche als sogenanntes „Mailänder Toleranzedikt“ im Römischen Reich die Freiheit der Glaubensentscheidung für alle Religionen bedeutet. Somit hat sich vor über 1700 Jahren innerhalb kurzer Zeit durch die Kaiser von Carnuntum ein unvorstellbarer Wandel vollzogen, der unsere Welt und unsere Kultur radikal verändert und bis zum heutigen Tag geprägt hat. Religiöse Toleranz hat also schon sehr frühe Wurzeln, wenngleich ein kurzes Gedächtnis. Als nämlich das Christentum 381 n. Chr. unter Theodosius im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt wird, ist die Dankbarkeit über die Auswirkungen des Toleranzediktes vergessen. Die vor 313 verfolgte Kirche wird rasch zur eifrigen Verfolgerin der Un- und Andersgläubigen.
Der von Galerius, Konstantin, Licinius und Maximinus in Carnuntum gelegte Grundstein für religiöse Toleranz hat durch die momentan in Europa ankommende Flüchtlingswelle eine neue Aktualität erhalten. Immer öfter höre ich, dass wir in Europa aufpassen müssten, nicht von anderen Religionen „überschwemmt“ zu werden. Moslems zum Beispiel, sagte mir vor Kurzem jemand, hätten Kinder, wir dagegen Hunde. Es wäre also nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Christen in Europa in der Minderheit wären. Ich halte dagegen, selbst auf die Gefahr hin, von meinen Leserinnen und Lesern ob meiner „Blauäugigkeit“ milde belächelt zu werden, dass in diesen Fragen wie auch sonst so oft, die Angst zwar die stärkere, aber immer die schlechtere Ratgeberin ist.
Wenn Menschen aus purer Not und tiefster Verzweiflung nach Europa flüchten, werden wir weiterhin gut beraten sein, uns gerade diesen Menschen gegenüber in erster Linie als Menschen zu erweisen und ihnen so gut es geht behilflich zu sein. Damit geben wir diesen Menschen die Hoffnung auf eine bessere Welt zurück. Aber: Nicht nur wir sind ihre Hoffnung, auch sie sind unsere! Diese Menschen geben uns die Chance, von ihren Traditionen und religiösen Überzeugungen zu lernen und dadurch unseren Horizont zu erweitern. Erst wenn ein Mensch die Gelegenheit bekommt, seine innersten Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und sich in seiner religiösen Praxis wertgeschätzt, geachtet und gefördert fühlt, erst dann wird er spüren, dass er hier als Mensch willkommen ist. Niemandem wird dadurch etwas weggenommen. Im Gegenteil. Praktizierte religiöse Toleranz bedeutet Bereicherung und Horizonterweiterung auf beiden Seiten. In Österreich gibt es derzeit sechzehn staatlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie nehmen einander nichts weg, und schon gar nicht denjenigen, die keiner dieser Gemeinschaften angehören.
Fragt man Buddhisten nach ihrer Ansicht über die Bedeutung von Religion, so antworten sie sinngemäß, dass derjenige, der seiner eigenen Religionsgemeinschaft Ehre erweist und aus Anhänglichkeit der eigenen Religion gegenüber andere Gemeinschaften verachtet, in Wirklichkeit damit seiner eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zufügt. Religion ist Herzenssache. Religion ist eine Sache der Intimität jedes einzelnen Menschen. Und Menschen zu ehren bedeutet immer auch, ihre religiösen Gefühle zu achten und sie zu fördern. Wer sich heute rund 1700 Jahre später an die Kaiserkonferenz von Carnuntum erinnern lässt, mag stolz sein auf die frühen Wurzeln der Achtung, des Respekts, der Toleranz Andersdenkenden und Andersfühlenden gegenüber, er mag aber nach dem gründlichen Studium der Geschichte vorsichtig geworden sein und sich fragen, was religiöse Toleranz in seinem persönlichen Umfeld heute bedeutet und wie sie dort gelebt wird! Ich bin (leider) überzeugt davon, dass in diesem Zusammenhang in Mitteleuropa zumindest mehr (vertröstende) Worte gemacht als (konkrete) Taten gesetzt werden. Aus ganzem Herzen aber freue ich mich über Menschen, die, wo auch immer in der Welt, durch ihren engagierten Einsatz diese meine Vermutungen in beeindruckender Weise zu widerlegen imstande sind.
Christine Lavant
Am 4. Juli 2015 jährte sich zum 100. Mal der Geburtstag von Christine Lavant. Vom Fluss des Tales leiht sie sich ihren Künstlernamen. Mit ihrem bürgerlichen Namen heißt sie Christine Holdernig, geb. Thonhauser. In ihren Gedichten und Prosatexten durchwandert sie die ganze Welt samt Himmel und Hölle, in ihrem Leben aber verlässt sie das Lavanttal fast nie. Mit den Menschen in ihrer Umgebung spricht sie im Dialekt. Von Kindheit an mit Krankheit geschlagen, von kaum jemandem wirklich verstanden, bleibt ihr, so scheint es, als einzig verlässlicher Partner nur ein verborgener Gott, gegen dessen Schweigen sie ankämpft mit der unerhörten Sprache einer vom Leben und Leiden Geplagten. Sie ruft, bittet, klagt, stellt Fragen, wartet, so scheint es, vergeblich auf Antwort, will aber, wie der biblische Hiob, durch alle Bedrängnis hindurch nicht von Gott los, sie will nur wissen, was mit Gott los ist. Dabei zeigt sie sich in ihrer Zwiesprache mit ihm als ebenbürtige Gesprächspartnerin in Augenhöhe, selbstbewusst, unerschrocken und mit heiligem Zorn, nicht demütig, ergeben und dem Schicksal ausgeliefert, sondern leidenschaftlich und punktgenau in ihrer Wortwahl. Sie sucht, findet aber nicht, sie ruft, niemand scheint ein Ohr für sie zu haben. „Hören, hören! – O du mein Gott – nur Taube wissen, wie Hören tut, und warten im Eisblock des Schweigens auf dein lebendiges Wort“,4 formuliert sie in einem ihrer Gedichte. Mit neunzehn Jahren scheitert ihr erster Versuch, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Sie bleibt und kämpft weiter mit ihrer feinen, zärtlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Ihr scharfer Verstand nährt sich an ihrer immensen Belesenheit. Einer ihrer Lieblingsautoren, den sie im Rucksack durchs Lavanttal trägt, ist Rainer Maria Rilke. Er spricht gegen jede Psychotherapie die Warnung aus, dass man Dichtern erst recht die „Engel“ austreibe, wenn man ihnen die „Teufel“ nehme. Diese künstlerische Verteidigung der Krankheit weiß darum, dass man die „süße Melancholie“ der Krankheit „melken“ kann. Diese Melancholie, die wir heute „Depression“ nennen, kann Christine Lavant noch „melken“. Der bloße Misanthrop oder Hypochonder kommt über die Grenze seines „An-sich-selber-Leidens“ nicht hinaus. Sie aber vermag ihr Leiden in die Wortbilder ihrer großen Lyrik umzusetzen, schreibt sinngemäß Hans Weigel als Herausgeber eines Buches über sie.5
In einem Brief an ihre Freundin Ingeborg Capra-Teuffenbach schreibt sie Mitte Jänner 1948: „Wir befinden uns auf Erden u. zw. ganz u. gar auf Erden u. alles, was wir vom Himmel wollen, muß hier vor sich gehen. Deshalb ist jede Begegnung so wichtig, jedes Menschenwort so ausschlaggebend. Jede Güte mehrt den Himmel auf Erden.“6
Und am 19. Juli 1948: „Wasser sollen wir einander sein, worein wir unsere alle fremde Landschaft legen, damit wir sie endlich zu sehen bekommen, lange zu sehen, solange, bis wir darin daheim sind, so sehr daheim, daß wir sie abends betreten mögen, leise am Saum eines Waldes, der innen vielleicht eine Wiese enthält, in deren Mitte unsere Rindenhütte steht. Denn: wir brauchen Obdach! Und wir müssen alle so lange gehen, bis wir es einmal haben, das ganz Unsrige, das Unverlierbare.“7
Das ist das Großartige im literarischen Werk der Christine Lavant: Aus der Ohnmacht ihrer Verzweiflung wachsen die bedeutendsten Texte deutschsprachiger Literatur. Sie alle atmen die Sehnsucht nach Liebe, nach unverlierbarer Bleibe. In der Schlusszeile eines ihrer Gedichte heißt es:
Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus
zeig mir das Obdach einer Maus
bevor der Tag mich steinigt. 8
Am 3. Juni 1973, kurz vor ihrem 58. Geburtstag, stirbt Christine Lavant in Wolfsberg an einem Schlaganfall. Was von ihr bleibt, ist ein beeindruckendes literarisches Vermächtnis. Die poetische Tiefe ihrer Lyrik und ihrer (bisher viel zu wenig beachteten) Prosatexte atmen alle die abgrundtiefe Sehnsucht nach einem „Fünklein Liebe“.9
Constantin Rudolf
Am 22. August 2015 um 4 : 57 Uhr hat Constantin Rudolf das Licht der Welt erblickt. Er ist gerade einmal neun Stunden alt, als Jutta und ich ihn besuchen, vor ihm niederknien und ihn mit einem behutsamen Kuss an die Wange in unserer Welt willkommen heißen. Noch wagen wir es nicht, ihn in unsere Arme zu schließen und ihn an unsere Brust zu nehmen, so majestätisch klein und in himmlischer Ruhe liegt er da vor uns. Schon bei der elektronischen Nachricht über seine Geburt muss ich an das schöne Wort von Anton Wildgans denken: „Wer bist du, Mensch, dass du nicht niederknien müsstest vor dem neuen Menschen!?“
Hier ist er also, dieser neue Mensch, einer, der gerade beginnt, so wie wir alle einmal begonnen haben, einer, von dem der Wandersmann aus Nazareth seinen Begleitern sagt, dass sie den Himmel nie begreifen könnten, wenn sie nicht würden und blieben wie er, hilflos, klein, angewiesen auf andere und dabei im Augenblick seiner Geburt schon so geheimnisvoll groß, ein Wesen in Fülle. Wunderbare Paradoxie des Lebendigen: Der Himmel besucht die Erde, im Kleinen zeigt sich das Große, in seiner Schwachheit liegt seine Kraft.10
„Staunen nur kann ich und staunend mich freuen!“ Ein einzigartig wunderbar-lebendiges Geschenk liegt vor mir, das alles bereits in sich trägt, was später aus ihm noch werden wird. Zum Abschied muss ich Constantin Rudolf ein Kreuz auf die Stirn zeichnen, nicht um ihn zu segnen, sondern um mich von ihm segnen zu lassen. Deutlicher nämlich spricht der Himmel nie zu den Menschen als durch die Geburt eines Kindes.
D
Dädalus und Ikarus
In einer Fülle von Bildern der Künstlerfamilie Brueghel erzählt das Kunsthistorische Museum in Wien Menschengeschichten. Ein Archetyp der abendländischen Malerei ist Pieter Brueghel des Älteren „Großer Turmbau zu Babel“ (1563). Ein weiteres seiner Werke führt in die griechische Mythologie: „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus.“ Dädalus und Ikarus versuchen dem Labyrinth des Minotaurus zu entfliehen. Die gelungene Flucht des Vaters ist aber nicht das Hauptthema. Das Interesse gilt Ikarus, der mit seinen Flügeln der Sonne zu nahe kommt und ins Meer stürzt …
Die Grenzerlebnisse sind es, die uns leben lassen, die Suche danach, unseren Horizont zu erweitern, treibt uns an. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei vor allem auf das Neue, auf die Weltpremiere, auf das „So-noch-nie-Dagewesene“, das vor allem dann interessant ist, wenn bis zum Schluss mit dem Scheitern zu rechnen ist. Pieter Brueghels Bild zeigt den stürzenden Ikarus klein im Hintergrund. Im Vordergrund pflügt ein Bauer sein Feld und ein Hirte blickt zum Himmel, so als wolle der Maler zum Ausdruck bringen, dass unabhängig von dem, was hier geschieht, die Erde sich weiterdreht. Der Lauf der Natur bleibt vom Einzelschicksal unbeeindruckt.
Am 20. Juli 1969 schaffen es Armstrong, Aldrin und Collins, sich der Sonne zu nähern und auf dem Mond zu landen. Um 21 : 17 Uhr MEZ setzt die Landefähre „Eagle“ auf der Mondoberfläche auf. Sechs Stunden später, am 21. Juli 1969 um 3 : 56:20 Uhr MEZ, betritt Neil Armstrong als erster Mensch die Mondoberfläche. Es ist der bislang bedeutendste Moment in der Geschichte der Raumfahrt. „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit!“ Armstrongs Satz wird zum geflügelten Wort, das bei der Fernsehübertragung der Mondlandung rund 600 Millionen Menschen live miterleben.
Ich bin damals knapp siebzehn Jahre alt. Unser Nachbar weckt mich und meine Brüder um drei Uhr nachts. Staunend sitzen wir vor dem einzigen Fernsehgerät weit und breit. Seither fühle ich mich als Weltbürger, der, wenn er nur will, Anteil nehmen kann an dem, was „draußen“ in der Welt vor sich geht. Seither fasziniert mich ein Denken aus der Vogelperspektive, das sich einen Überblick zu schaffen vermag und sich nicht von allzu vielen Kleinigkeiten in Geiselhaft nehmen lässt. In dieser Zeit bin ich Gymnasiast in Wien. Und ich erinnere mich an Pater Suso Braun, einen damals bekannten Rundfunkprediger, der in der Pfarrkirche Maria Hietzing in Wien die menschliche Leistung der Mondlandung hervorhebt, dabei aber auch vor dem Schicksal des Ikarus warnt und seinen Zuhörern die Winzigkeit des Menschen vor Augen zu führen versucht. „Vom Weltall aus betrachtet“, führt er aus, „ist die Erde ein stecknadelkopfgroßes Etwas. Auf diesem kleinen Stecknadelkopf stehst du in der Früh vor dem Spiegel und kämmst dir deine Haare. Wie lächerlich!“ Uns Jugendliche beeindruckt das damals nicht sehr. Wir sind ganz von der Größe des menschlichen Eroberungsgeistes und seinen Möglichkeiten in den Bann gezogen. Heute aber denke ich immer wieder einmal an Suso Brauns Gedanken. Er vergisst nicht, wenn er von Dädalus erzählt, auch an Ikarus zu erinnern. Beide wollen hoch hinaus. Der eine in die Freiheit, der andere in die Unendlichkeit. Dem einen gelingt sein Vorhaben, der andere scheitert. Jeder Mensch kennt beides. Dädalus und Ikarus stehen für archetypische Erfahrungen, an denen der Mensch zum Weltbürger reift. An der Dädalus-Erfahrung erweitert er seinen Horizont und findet durch Grenzüberschreitung seinen Weg in die Freiheit. Durch die Ikarus-Erfahrung reift er, indem er lernt, zu den Irrtümern in seinem Leben zu stehen, sein Wachstum und seine Identität gerade auch daraus zu begreifen.
Als Juri Gagarin von seiner ersten Weltraumexpedition zurückkehrt, sagt er triumphierend, er habe da oben Gott nicht finden können. Das wohl auch deshalb, weil er danach auch gar nicht gesucht hat. Ich kann den Kosmos durchfahren und berauscht von den technischen Möglichkeiten nichts finden. Ich kann aber auch auf dieser Fahrt, je mehr ich nachdenkend mir meiner Kleinheit bewusst bleibe, vor lauter Staunen ganz außer mir sein, wie schön, geheimnisvoll und groß diese meine Welt ist. Was ist das für eine Welt? Welcher gigantische Geist steckt da dahinter? Und mehr noch: In dieser Welt, in diesem Kosmos gibt es auch einen Platz für mich. Das ist der andere Zugang! Der Mensch wird nie aufhören, seinen Horizont zu erweitern und die Grenzen, an die er gerät, überwinden zu wollen. Wir sind und bleiben „Horizont-Überschreiter“, Neugierige bis zum letzten Atemzug. Die Aufgabe des Menschen scheint darin zu bestehen, Mut zu machen, Mauern niederzureißen und Zäune zu überspringen. Seit der Landung des ersten Menschen auf dem Mond ist in den Köpfen vieler Menschen vieles möglich geworden. Horizontüberschreitung bedeutet aber nicht nur hoch hinauszuwollen, es bewirkt bei Menschen mit Herz auch eine neue Kultur, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben.