Kitabı oku: «Aphorismen zur Lebensweisheit», sayfa 14
Kapitel VI
Vom Unterschiede der Lebensalter
Überaus schön hat Voltaire gesagt:
Qui n'a pas l'esprit de son âge,
De son âge a tout le malheur.
Daher wird es angemessen sein, daß wir, am Schlusse dieser eudämonologischen Betrachtungen, einen Blick auf die Veränderungen werfen, welche die Lebensalter an uns hervorbringen.
Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegenwart inne, und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet ist bloß, daß wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber eine lange Vergangenheit hinter uns sehn; sodann, daß unser Temperament, wiewohl nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen durchgeht, wodurch jedesmal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht. –
In meinem Hauptwerke, Bd. 2, Kap. 31, S. 394 ff. (3. Aufl. 499 ff.), habe ich auseinandergesetzt, daß und warum wir in der Kindheit uns viel mehr erkennend als wollend verhalten. Gerade hierauf beruht jene Glückseligkeit des ersten Viertels unsers Lebens, infolge welcher es nachher wie ein verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des Willens: der größere Teil unsers Wesens geht demnach im Erkennen auf. – Der Intellekt ist, wie das Gehirn, welches schon im 7. Jahre seine volle Größe erreicht, früh entwickelt, wenn auch nicht reif, und sucht unaufhörlich Nahrung in einer ganzen Welt des noch neuen Daseins, wo alles, alles mit dem Reize der Neuheit überfirnißt ist. Hieraus entspringt es, daß unsre Kinderjahre eine fortwährende Poesie sind. Nämlich das Wesen der Poesie, wie aller Kunst, besteht im Auffassen der platonischen Idee, d. h. des Wesentlichen und daher der ganzen Art Gemeinsamen, in jedem Einzelnen; wodurch jedes Ding als Repräsentant seiner Gattung auftritt und ein Fall für tausend gilt. Obgleich nun es scheint, daß wir in den Szenen unsrer Kinderjahre stets nur mit dem jedesmaligen individuellen Gegenstande oder Vorgange beschäftigt seien, und zwar nur, sofern er unser momentanes Wollen interessirt; so ist dem doch im Grunde anders. Nämlich das Leben, in seiner ganzen Bedeutsamkeit, steht noch so neu, frisch und ohne Abstumpfung seiner Eindrücke durch Wiederholung, vor uns, daß wir, mitten unter unserm kindischen Treiben, stets im Stillen und ohne deutliche Absicht beschäftigt sind, an den einzelnen Szenen und Vorgängen das Wesen des Lebens selbst, die Grundtypen seiner Gestalten und Darstellungen, aufzufassen. Wir sehn, wie Spinoza es ausdrückt, alle Dinge und Personen sub specie aeternitatis. Je jünger wir sind, desto mehr vertritt jedes einzelne seine ganze Gattung. Dies nimmt immer mehr ab, von Jahr zu Jahr: und hierauf beruht der so große Unterschied des Eindrucks, den die Dinge in der Jugend und im Alter auf uns machen. Daher werden die Erfahrungen und Bekanntschaften der Kindheit und frühen Jugend nachmals die stehenden Typen und Rubriken aller spätern Erkenntnis und Erfahrung, gleichsam die Kategorien derselben, denen wir alles Spätere subsumiren, wenn auch nicht stets mit deutlichem Bewußtsein. So bildet sich demnach schon in den Kinderjahren die feste Grundlage unserer Weltansicht, mithin auch das Flache oder Tiefe derselben: sie wird später ausgeführt und vollendet; jedoch nicht im Wesentlichen verändert. Also infolge dieser rein objektiven und dadurch poetischen Ansicht, die dem Kindesalter wesentlich ist und davon unterstützt wird, daß der Wille noch lange nicht mit seiner vollen Energie auftritt, verhalten wir uns, als Kinder, bei weitem mehr rein erkennend als wollend. Daher der ernste, schauende Blick mancher Kinder, welchen Raffael zu seinen Engeln, zumal denen der Sixtinischen Madonna, so glücklich benutzt hat. Eben dieserhalb sind denn auch die Kinderjahre so selig, daß die Erinnerung an sie stets von Sehnsucht begleitet ist. – Während wir nun, mit solchem Ernst, dem ersten anschaulichen Verständnis der Dinge obliegen, ist andrerseits die Erziehung bemüht, uns Begriffe beizubringen. Allein Begriffe liefern nicht das eigentlich Wesentliche: vielmehr liegt dieses, also der Fonds und echte Gehalt aller unserer Erkenntnisse in der anschaulichen Auffassung der Welt. Diese aber kann nur von uns selbst gewonnen, nicht auf irgendeine Weise uns beigebracht werden. Daher kommt, wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen Wesens hervor, und können keine Pestalozzische Erziehungskünste aus einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden: nie! er ist als Tropf geboren und muß als Tropf sterben. – Aus der beschriebenen, tiefinnigen Auffassung der ersten anschaulichen Außenwelt erklärt sich denn auch, warum die Umgebungen und Erfahrungen unserer Kindheit sich so fest dem Gedächtnis einprägen. Wir sind nämlich ihnen ungeteilt hingegeben gewesen, nichts hat uns dabei zerstreut, und wir haben die Dinge, welche vor uns standen, angesehn, als wären sie die einzigen ihrer Art, ja, überhaupt allein vorhanden. Später nimmt uns die dann bekannte Menge der Gegenstände Mut und Geduld. – Wenn man nun hier sich zurückrufen will, was ich S. 372 ff. (3. Aufl. 423 ff.) des oben erwähnten Bandes meines Hauptwerkes dargetan habe, daß nämlich das objektive Dasein aller Dinge, d. h. ihr Dasein in der bloßen Vorstellung, ein durchweg erfreuliches, hingegen ihr subjektives Dasein, als welches im Wollen besteht, mit Schmerz und Trübsal stark versetzt ist; so wird man als kurzen Ausdruck der Sache auch wohl den Satz gelten lassen: alle Dinge sind herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein. Dem Obigen nun zufolge sind, in der Kindheit, die Dinge uns viel mehr von der Seite des Sehns, also der Vorstellung, der Objektivität, bekannt, als von der Seite des Seins, welche die des Willens ist. Weil nun jene die erfreuliche Seite der Dinge ist, die subjektive und schreckliche uns aber noch unbekannt bleibt; so hält der junge Intellekt alle jene Gestalten, welche Wirklichkeit und Kunst ihm vorführen, für ebenso viele glückselige Wesen: er meint, so schön sie zu sehn sind, und noch viel schöner, wären sie zu sein. Demnach liegt die Welt vor ihm wie ein Eden: dies ist das Arkadien, in welchem wir alle geboren sind. Daraus entsteht etwas später der Durst nach dem wirklichen Leben, der Drang nach Taten und Leiden, welcher uns ins Weltgetümmel treibt. In diesem lernen wir dann die andere Seite der Dinge kennen, die des Seins, d. i. des Wollens, welches bei jedem Schritte durchkreuzt wird. Dann kommt allmälig die große Enttäuschung heran, nach deren Eintritt heißt es l'âge des illusions est passé: und doch geht sie noch immer weiter, wird immer vollständiger. Demzufolge kann man sagen, daß in der Kindheit das Leben sich uns darstellt wie eine Theaterdekoration von weitem gesehn; im Alter, wie dieselbe in der größten Nähe.
Zum Glücke der Kindheit trägt endlich noch folgendes bei. Wie im Anfange des Frühlings alles Laub die gleiche Farbe und fast die gleiche Gestalt hat; so sind auch wir in früher Kindheit alle einander ähnlich, harmoniren daher vortrefflich. Aber mit der Pubertät fängt die Divergenz an und wird, wie die Radien eines Zirkels, immer größer.
Was nun den Rest der ersten Lebenshälfte, die so viele Vorzüge vor der zweiten hat, also das jugendliche Alter, trübt, ja unglücklich macht, ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung, und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glückes schweben, unter kapriziös gewählten Gestalten, uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild. Daher sind wir in unsern Jünglingsjahren mit unserer Lage und Umgebung, welche sie auch sei, meistens unzufrieden; weil wir ihr zuschreiben, was der Leerheit und Armseligkeit des menschlichen Lebens überall zukommt, und mit der wir jetzt die erste Bekanntschaft machen, nachdem wir ganz andere Dinge erwartet hatten. – Man hätte viel gewonnen, wenn man, durch zeitige Belehrung, den Wahn, daß in der Welt viel zu holen sei, in den Jünglingen ausrotten könnte. Aber das Umgekehrte geschieht dadurch, daß meistens uns das Leben früher durch die Dichtung, als durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jener geschilderten Szenen prangen im Morgenrot unserer eigenen Jugend, vor unserm Blick, und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehn, – den Regenbogen zu fassen. Der Jüngling erwartet seinen Lebenslauf in Form eines interessanten Romans. So entsteht die Täuschung, welche ich S. 347 (3. Aufl. 428) des schon erwähnten zweiten Bandes bereits geschildert habe. Denn was allen jenen Bildern ihren Reiz verleiht, ist gerade dies, daß sie bloße Bilder und nicht wirklich sind, und wir daher, bei ihrem Anschauen, uns in der Ruhe und Allgenugsamkeit des reinen Erkennens befinden. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeiführt. Auch noch auf die Stelle S. 427 (3. Aufl. 488) des erwähnten Bandes sei der teilnehmende Leser hier hingewiesen.
Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück; so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis eingetreten, daß alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei. Jetzt wird daher, wenigstens von den vernünftigeren Charakteren, mehr bloße Schmerzlosigkeit und ein unangefochtener Zustand als Genuß angestrebt22. – Wenn, in meinen Jünglingsjahren, es an meiner Tür schellte, wurde ich vergnügt, denn ich dachte, nun käme es. Aber in spätern Jahren hatte meine Empfindung, bei demselben Anlaß, viel mehr etwas dem Schrecken Verwandtes: ich dachte: »da kommt's.« – Hinsichtlich der Menschenwelt gibt es, für ausgezeichnete und begabte Individuen, die, eben als solche, nicht so ganz eigentlich zu ihr gehören und demnach, mehr oder weniger, je nach dem Grad ihrer Vorzüge, allein stehn, ebenfalls zwei entgegengesetzte Empfindungen: in der Jugend hat man häufig die, von ihr verlassen zu sein; in spätern Jahren hingegen die, ihr entronnen zu sein. Die erstere, eine unangenehme, beruht auf Unbekanntschaft, die zweite, eine angenehme, auf Bekanntschaft mit ihr. – Infolge davon enthält die zweite Hälfte des Lebens, wie die zweite Hälfte einer musikalischen Periode, weniger Strebsamkeit, aber mehr Beruhigung, als die erste, welches überhaupt darauf beruht, daß man in der Jugend denkt, in der Welt sei Wunder was für Glück und Genuß anzutreffen, nur schwer dazu zu gelangen; während man im Alter weiß, daß da nichts zu holen ist, also, vollkommen darüber beruhigt, eine erträgliche Gegenwart genießt, und sogar an Kleinigkeiten Freude hat. –
Was der gereifte Mann durch die Erfahrung seines Lebens erlangt hat und wodurch er die Welt anders sieht als der Jüngling und Knabe, ist zunächst Unbefangenheit. Er allererst sieht die Dinge ganz einfach und nimmt sie für das, was sie sind; während dem Knaben und Jüngling ein Trugbild, zusammengesetzt aus selbstgeschaffenen Grillen, überkommenen Vorurteilen und seltsamen Phantasien, die wahre Welt bedeckte oder verzerrte. Denn das Erste, was die Erfahrung zu tun vorfindet, ist uns von den Hirngespinsten und falschen Begriffen zu befreien, welche sich in der Jugend angesetzt haben. Vor diesen das jugendliche Alter zu bewahren, wäre allerdings die beste Erziehung, wenngleich nur eine negative; ist aber sehr schwer. Man müßte, zu diesem Zwecke, den Gesichtskreis des Kindes möglichst enge halten, innerhalb desselben jedoch ihm lauter deutliche und richtige Begriffe beibringen, und erst nachdem es alles darin Gelegene richtig erkannt hätte, denselben allmälig erweitern, stets dafür sorgend, daß nichts Dunkeles, auch nichts halb oder schief Verstandenes, zurück bliebe. Infolge hievon würden seine Begriffe von Dingen und menschlichen Verhältnissen, immer noch beschränkt und sehr einfach, dafür aber deutlich und richtig sein, so daß sie stets nur der Erweiterung, nicht der Berichtigung bedürften; und so fort bis ins Jünglingsalter hinein. Diese Methode erfordert insbesondere, daß man keine Romane zu lesen erlaube, sondern sie durch angemessene Biographien ersetze, wie z. B. die Franklins, den Anton Reiser von Moritz u. dgl. –
Wann wir jung sind, vermeinen wir, daß die in unserm Lebenslauf wichtigen und folgenreichen Begebenheiten und Personen mit Pauken und Trompeten auftreten werden: im Alter zeigt jedoch die retrospektive Betrachtung, daß sie alle ganz still durch die Hintertür, und fast unbeachtet, hereingeschlichen sind.
Man kann ferner, in der bis hieher betrachteten Hinsicht, das Leben mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem jeder in der ersten Hälfte seiner Zeit, die rechte, in der zweiten aber die Kehrseite zu sehen bekäme: letztere ist nicht so schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen läßt. –
Die geistige Überlegenheit, sogar die größte, wird, in der Konversation, ihr entschiedenes Übergewicht erst nach dem vierzigsten Jahre geltend machen. Denn die Reife der Jahre und die Frucht der Erfahrung kann durch jene wohl vielfach übertroffen, jedoch nie ersetzt werden: sie aber gibt auch dem gewöhnlichsten Menschen ein gewisses Gegengewicht gegen die Kräfte des größten Geistes, solange dieser jung ist. Ich meine hier bloß das Persönliche, nicht die Werke. –
Jeder irgend vorzügliche Mensch, jeder, der nur nicht zu den von der Natur so traurig dotirten 5/6 der Menschheit gehört, wird, nach dem vierzigsten Jahre, von einem gewissen Anfluge von Misanthropie schwerlich frei bleiben. Denn er hatte, wie es natürlich ist, von sich auf andere geschlossen und ist allmälig enttäuscht worden, hat eingesehn, daß sie entweder von der Seite des Kopfes oder des Herzens, meistens sogar beider, ihm im Rückstand bleiben und nicht quitt mit ihm werden; weshalb er sich mit ihnen einzulassen gern vermeidet; wie denn überhaupt jeder nach Maßgabe seines inneren Wertes die Einsamkeit, d. h. seine eigene Gesellschaft, lieben oder hassen wird. Von dieser Art der Misanthropie handelt auch Kant, in der Krit. der Urteilskraft, gegen das Ende der allgemeinen Anmerkung zum § 29 des ersten Teils.
An einem jungen Menschen ist es, in intellektueller und auch in moralischer Hinsicht, ein schlechtes Zeichen, wenn er im Tun und Treiben der Menschen sich recht früh zurechtezufinden weiß, sogleich darin zu Hause ist und, wie vorbereitet, in dasselbe eintritt: es kündigt Gemeinheit an. Hingegen deutet, in solcher Beziehung, ein befremdetes, stutziges, ungeschicktes und verkehrtes Benehmen auf eine Natur edlerer Art.
Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil darauf, daß wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehn; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überschritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch, da zu derselben Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmut sinkt; so daß jetzt ein trüber Ernst den jugendlichen Übermut verdrängt und auch dem Gesichte sich aufdrückt. Solange wir jung sind, man mag uns sagen, was man will, halten wir das Leben für endlos und gehn danach mit der Zeit um. Je älter wir werden, desto mehr ökonomisiren wir unsere Zeit. Denn im spätern Alter erregt jeder verlebte Tag eine Empfindung, welche der verwandt ist, die bei jedem Schritt ein zum Hochgericht geführter Delinquent hat.
Vom Standpunkte der Jugend aus gesehn, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus, eine sehr kurze Vergangenheit; so daß es anfangs sich uns darstellt wie die Dinge, wann wir das Objektivglas des Opernguckers ans Auge legen, zuletzt aber wie wann das Okular. Man muß alt geworden sein, also lange gelebt haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist. – Je älter man wird, desto kleiner erscheinen die menschlichen Dinge samt und sonders: das Leben, welches in der Jugend als fest und stabil vor uns stand, zeigt sich uns jetzt als die rasche Flucht ephemerer Erscheinungen: die Nichtigkeit des Ganzen tritt hervor. – Die Zeit selbst hat in unserer Jugend einen viel langsameren Schritt; daher das erste Viertel unsers Lebens nicht nur das glücklichste, sondern auch das längste ist, so daß es viel mehr Erinnerungen zurückläßt, und jeder, wenn es darauf ankäme, aus demselben mehr zu erzählen wissen würde, als aus zweien der folgenden. Sogar werden, wie im Frühling des Jahres, so auch in dem des Lebens, die Tage zuletzt von einer lästigen Länge. Im Herbste beider werden sie kurz, aber heiterer und beständiger.
Warum nun aber erblickt man, im Alter, das Leben, welches man hinter sich hat, so kurz? Weil man es für so kurz hält, wie die Erinnerung desselben ist. Aus dieser nämlich ist alles Unbedeutende und viel Unangenehmes herausgefallen, daher wenig übrig geblieben. Denn, wie unser Intellekt überhaupt sehr unvollkommen ist, so auch das Gedächtnis: das Erlernte muß geübt, das Vergangene ruminirt werden, wenn nicht beides allmälig in den Abgrund der Vergessenheit versinken soll. Nun aber pflegen wir nicht das Unbedeutende, auch meistens nicht das Unangenehme zu ruminiren; was doch nötig wäre, um es im Gedächtnis aufzubewahren. Des Unbedeutenden wird aber immer mehr: denn durch die öftere und endlich zahllose Wiederkehr wird vielerlei, das anfangs uns bedeutend erschien, allmälig unbedeutend; daher wir uns der früheren Jahre besser als der späteren erinnern. Je länger wir nun leben, desto weniger Vorgänge scheinen uns wichtig, oder bedeutend genug, um hinterher noch ruminirt zu werden, wodurch allein sie im Gedächtnis sich fixiren könnten: sie werden also vergessen, sobald sie vorüber sind. So läuft denn die Zeit immer spurloser ab. – Nun ferner das Unangenehme ruminiren wir nicht gern, am wenigsten aber dann, wenn es unsere Eitelkeit verwundet, welches sogar meistens der Fall ist; weil wenige Leiden uns ganz ohne unsere Schuld getroffen haben. Daher also wird ebenfalls viel Unangenehmes vergessen. Beide Ausfälle nun sind es, die unsere Erinnerung so kurz machen, und verhältnismäßig immer kürzer, je länger ihr Stoff wird. Wie die Gegenstände auf dem Ufer, von welchem man zu Schiffe sich entfernt, immer kleiner, unkenntlicher und schwerer zu unterscheiden werden; so unsere vergangenen Jahre, mit ihren Erlebnissen und ihrem Tun. Hiezu kommt, daß bisweilen Erinnerung und Phantasie uns eine längst vergangene Szene unseres Lebens so lebhaft vergegenwärtigen wie den gestrigen Tag; wodurch sie dann ganz nahe an uns herantritt; dies entsteht dadurch, daß es unmöglich ist, die lange zwischen jetzt und damals verstrichene Zeit uns ebenso zu vergegenwärtigen, indem sie sich nicht so in einem Bilde überschauen läßt, und überdies auch die Vorgänge in derselben größtenteils vergessen sind, und bloß eine allgemeine Erkenntnis in abstracto von ihr übriggeblieben ist, ein bloßer Begriff, keine Anschauung. Daher nun also erscheint das längst Vergangene im einzelnen uns so nahe, als wäre es erst gestern gewesen, die dazwischen liegende Zeit aber verschwindet, und das ganze Leben stellt sich als unbegreiflich kurz dar. Sogar kann bisweilen im Alter die lange Vergangenheit, die wir hinter uns haben, und damit unser eigenes Alter, im Augenblick uns beinahe fabelhaft vorkommen; welches hauptsächlich dadurch entsteht, daß wir zunächst noch immer dieselbe, stehende Gegenwart vor uns sehn. Dergleichen innere Vorgänge beruhen aber zuletzt darauf, daß nicht unser Wesen an sich selbst, sondern nur die Erscheinung desselben in der Zeit liegt, und daß die Gegenwart der Berührungspunkt zwischen Objekt und Subjekt ist. – Und warum nun wieder erblickt man in der Jugend das Leben, welches man noch vor sich hat, so unabsehbar lang? Weil man Platz haben muß für die grenzenlosen Hoffnungen, mit denen man es bevölkert, und zu deren Verwirklichung Methusalem zu jung stürbe; sodann, weil man zum Maßstabe desselben die wenigen Jahre nimmt, welche man schon hinter sich hat und deren Erinnerung stets stoffreich, folglich lang ist, indem die Neuheit alles bedeutend erscheinen ließ, weshalb es hinterher noch ruminirt, also oft in der Erinnerung wiederholt und dadurch ihr eingeprägt wurde.
Bisweilen glauben wir, uns nach einem fernen Orte zurückzusehnen, während wir eigentlich uns nur nach der Zeit zurücksehnen, die wir dort verlebt haben, da wir jünger und frischer waren. So täuscht uns alsdann die Zeit unter der Maske des Raumes. Reisen wir hin, so werden wir der Täuschung inne. –
Ein hohes Alter zu erreichen, gibt es, bei fehlerfreier Konstitution, als conditio sine qua non, zwei Wege, die man am Brennen zweier Lampen erläutern kann: die eine brennt lange, weil sie, bei wenigem Öl, einen sehr dünnen Docht hat; die andere, weil sie, zu einem starken Docht, auch viel Öl hat: das Öl ist die Lebenskraft, der Docht der Verbrauch derselben auf jede Art und Weise.
Hinsichtlich der Lebenskraft sind wir, bis zum 36sten Jahre, denen zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben: was heute ausgegeben wird, ist morgen wieder da. Aber von jenem Zeitpunkt an ist unser Analogon der Rentier, welcher anfängt, sein Kapital anzugreifen. Im Anfang ist die Sache gar nicht merklich: der größte Teil der Ausgabe stellt sich immer noch von selbst wieder her: ein geringes Defizit dabei wird nicht beachtet. Dieses aber wächst allmälig, wird merklich, seine Zunahme selbst nimmt mit jedem Tage zu: sie reißt immer mehr ein, jedes Heute ist ärmer als das Gestern, ohne Hoffnung auf Stillstand. So beschleunigt sich, wie der Fall der Körper, die Abnahme immer mehr, – bis zuletzt nichts mehr übrig ist. Ein gar trauriger Fall ist es, wenn beide hier Verglichene, Lebenskraft und Eigentum, wirklich zusammen im Wegschmelzen begriffen sind: daher eben wächst mit dem Alter die Liebe zum Besitze. – Hingegen anfangs, bis zur Volljährigkeit und noch etwas darüber hinaus, gleichen wir, hinsichtlich der Lebenskraft, denen, welche von den Zinsen noch etwas zum Kapitale legen: nicht nur das Ausgegebene stellt sich von selbst wieder ein, sondern das Kapital wächst. Und wieder ist auch dieses bisweilen, durch die Fürsorge eines redlichen Vormundes, zugleich mit dem Gelde der Fall. O glückliche Jugend! o trauriges Alter! – Nichtsdestoweniger soll man die Jugendkräfte schonen. Aristoteles bemerkt (Polit. L. ult. c. 5), daß von den olympischen Siegern nur zwei oder drei einmal als Knaben und dann wieder als Männer gesiegt hätten; weil durch die frühe Anstrengung, welche die Vorübung erfordert, die Kräfte so erschöpft werden, daß sie nachmals, im Mannesalter, fehlen. Wie dies von der Muskelkraft gilt, so noch mehr von der Nervenkraft, deren Äußerung alle intellektuelle Leistungen sind: daher werden die ingenia praecocia, die Wunderkinder, die Früchte der Treibhauserziehung, welche als Knaben Erstaunen erregen, nachmals sehr gewöhnliche Köpfe. Sogar mag die frühe, erzwungene Anstrengung zur Erlernung der alten Sprachen schuld haben an der nachmaligen Lahmheit und Urteilslosigkeit so vieler gelehrter Köpfe. –
Ich habe die Bemerkung gemacht, daß der Charakter fast jedes Menschen einem Lebensalter vorzugsweise angemessen zu sein scheint; so daß er in diesem sich vorteilhafter ausnimmt. Einige sind liebenswürdige Jünglinge, und dann ist's vorbei; andere kräftige, tätige Männer, denen das Alter allen Wert raubt; manche stellen sich am vorteilhaftesten im Alter dar, als wo sie milder, weil erfahrener und gelassener sind: dies ist oft bei Franzosen der Fall. Die Sache muß darauf beruhen, daß der Charakter selbst etwas Jugendliches, Männliches oder Ältliches an sich hat, womit das jedesmalige Lebensalter übereinstimmt, oder als Korrektiv entgegenwirkt.
Wie man, auf einem Schiffe befindlich, sein Vorwärtskommen nur am Zurückweichen und demnach Kleinerwerden der Gegenstände auf dem Ufer bemerkt; so wird man sein Alt- und Älterwerden daran inne, daß Leute von immer höhern Jahren einem jung vorkommen.
Schon oben ist erörtert worden, wie und warum alles, was man sieht, tut und erlebt, je älter man wird, desto wenigere Spuren im Geiste zurückläßt. In diesem Sinne ließe sich behaupten, daß man allein in der Jugend mit vollem Bewußtsein lebte; im Alter nur noch mit halbem. Je älter man wird, mit desto wenigerem Bewußtsein lebt man: die Dinge eilen vorüber, ohne Eindruck zu machen; wie das Kunstwerk, welches man tausendmal gesehn hat, keinen macht: man tut, was man zu tun hat, und weiß hinterher nicht, ob man es getan. Indem nun also das Leben immer unbewußter wird, je mehr es der gänzlichen Bewußtlosigkeit zueilt, so wird eben dadurch der Lauf der Zeit auch immer schleuniger. In der Kindheit bringt die Neuheit aller Gegenstände und Begebenheiten jegliches zum Bewußtsein: daher ist der Tag unabsehbar lang. Dasselbe widerfährt uns auf Reisen, wo deshalb ein Monat länger erscheint, als vier zu Hause. Diese Neuheit der Dinge verhindert jedoch nicht, daß die, in beiden Fällen, länger scheinende Zeit uns auch in beiden oft wirklich »lang wird«, mehr als im Alter, oder mehr als zu Hause. Allmälig aber wird, durch die lange Gewohnheit derselben Wahrnehmungen, der Intellekt so abgeschliffen, daß immer mehr alles wirkungslos darüber hingleitet; wodurch dann die Tage immer unbedeutender und dadurch kürzer werden: die Stunden des Knaben sind länger als die Tage des Alten. Demnach hat die Zeit unsers Lebens eine beschleunigte Bewegung, wie die einer herabrollenden Kugel; und wie auf einer sich drehenden Scheibe jeder Punkt um so schneller läuft, als er weiter vom Zentro abliegt; so verfließt jedem, nach Maßgabe seiner Entfernung vom Lebensanfange, die Zeit schneller und immer schneller. Man kann demzufolge annehmen, daß, in der unmittelbaren Schätzung unsers Gemütes, die Länge eines Jahres im umgekehrten Verhältnisse des Quotienten desselben in unser Alter steht: wenn z. B. das Jahr 1/5 unsers Alters beträgt, erscheint es uns zehnmal so lang, als wenn es nur 1/50 desselben ausmacht. Diese Verschiedenheit in der Geschwindigkeit der Zeit hat auf die ganze Art unsers Daseins in jedem Lebensalter den entschiedensten Einfluß. Zunächst bewirkt sie, daß das Kindesalter, wenn auch nur etwan 15 Jahre umfassend, doch die längste Zeit des Lebens, und daher die reichste an Erinnerungen ist; sodann daß wir durchweg der Langenweile im umgekehrten Verhältnis unsers Alters unterworfen sind: Kinder bedürfen ständig des Zeitvertreibs, sei er Spiel oder Arbeit; stockt er, so ergreift sie augenblicklich entsetzliche Langeweile. Auch Jünglinge sind ihr noch sehr unterworfen und sehn mit Besorgnis auf unausgefüllte Stunden. Im männlichen Alter schwindet die Langeweile mehr und mehr: Greisen wird die Zeit stets zu kurz und die Tage fliegen pfeilschnell vorüber. Versteht sich, daß ich von Menschen, nicht von altgewordenem Vieh rede. Durch diese Beschleunigung des Laufes der Zeit fällt also in spätern Jahren meistens die Langeweile weg, und da andrerseits auch die Leidenschaften, mit ihrer Qual, verstummen; so ist, wenn nur die Gesundheit sich erhalten hat, im Ganzen genommen, die Last des Lebens wirklich geringer als in der Jugend: daher nennt man den Zeitraum, welcher dem Eintritt der Schwäche und der Beschwerden des höhern Alters vorhergeht, »die besten Jahre«. In Hinsicht auf unser Wohlbehagen mögen sie es wirklich sein: hingegen bleibt den Jugendjahren, als wo alles Eindruck macht und jedes lebhaft ins Bewußtsein tritt, der Vorzug, die befruchtende Zeit für den Geist, der blütenansetzende Frühling desselben zu sein. Tiefe Wahrheiten nämlich lassen sich nur erschauen, nicht errechnen, d. h. ihre erste Erkenntnis ist eine unmittelbare und wird durch den momentanen Eindruck hervorgerufen: sie kann folglich nur eintreten, so lange dieser stark, lebhaft und tief ist. Demnach hängt, in dieser Hinsicht, alles von der Benutzung der Jugendjahre ab. In den späteren können wir mehr auf andere, ja, auf die Welt einwirken: weil wir selbst vollendet und abgeschlossen sind und nicht mehr dem Eindruck angehören: aber die Welt wirkt weniger auf uns. Diese Jahre sind daher die Zeit des Tuns und Leistens; jene aber die des ursprünglichen Auffassens und Erkennens.
In der Jugend herrscht die Anschauung, im Alter das Denken vor: daher ist jene die Zeit für Poesie; dieses mehr für Philosophie. Auch praktisch läßt man sich in der Jugend durch das Angeschaute und dessen Eindruck, im Alter nur durch das Denken bestimmen. Zum Teil beruht dies darauf, daß erst im Alter anschauliche Fälle in hinlänglicher Anzahl dagewesen und den Begriffen subsumirt worden sind, um diesen volle Bedeutung, Gehalt und Kredit zu verschaffen und zugleich den Eindruck der Anschauung, durch die Gewohnheit, zu mäßigen. Hingegen ist in der Jugend, besonders auf lebhafte und phantasiereiche Köpfe, der Eindruck des Anschaulichen, mithin auch der Außenseite der Dinge, so überwiegend, daß sie die Welt ansehn als ein Bild; daher ihnen hauptsächlich angelegen ist, wie sie darauf figuriren und sich ausnehmen, – mehr, als wie ihnen innerlich dabei zumute sei. Dies zeigt sich schon in der persönlichen Eitelkeit und Putzsucht der Jünglinge.
Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet, ohne Zweifel, in der Jugend statt, spätestens bis ins 35ste Jahr: von dem an nimmt sie, wiewohl sehr langsam, ab. Jedoch sind die späteren Jahre, selbst das Alter, nicht ohne geistige Kompensation dafür. Erfahrung und Gelehrsamkeit sind erst jetzt eigentlich reich geworden: man hat Zeit und Gelegenheit gehabt, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und zu bedenken, hat jedes mit jedem zusammengehalten und ihre Berührungspunkte und Verbindungsglieder herausgefunden; wodurch man sie allererst jetzt so recht im Zusammenhange versteht. Alles hat sich abgeklärt. Deshalb weiß man selbst das, was man schon in der Jugend wußte, jetzt viel gründlicher; da man zu jedem Begriffe viel mehr Belege hat. Was man in der Jugend zu wissen glaubte, das weiß man im Alter wirklich, überdies weiß man auch wirklich viel mehr und hat eine nach allen Seiten durchdachte und dadurch ganz eigentlich zusammenhängende Erkenntnis; während in der Jugend unser Wissen stets lückenhaft und fragmentarisch ist. Nur wer alt wird, erhält eine vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben, indem er es in seiner Ganzheit und seinem natürlichen Verlauf, besonders aber nicht bloß, wie die übrigen, von der Eingangs-, sondern auch von der Ausgangsseite übersieht, wodurch er dann besonders die Nichtigkeit desselben vollkommen erkennt; während die übrigen stets noch in dem Wahne befangen sind, das Rechte werde noch erst kommen. Dagegen ist in der Jugend mehr Konzeption; daher man alsdann aus dem Wenigen, was man kennt, mehr zu machen imstande ist: aber im Alter ist mehr Urteil, Penetration und Gründlichkeit. Den Stoff seiner selbsteigenen Erkenntnisse, seiner originalen Grundansichten, also das, was ein bevorzugter Geist der Welt zu schenken bestimmt ist, sammelt er schon in der Jugend ein: aber seines Stoffes Meister wird er erst in späten Jahren. Demgemäß wird man meistenteils finden, daß die großen Schriftsteller ihre Meisterwerke um das fünfzigste Jahr herum geliefert haben. Dennoch bleibt die Jugend die Wurzel des Baumes der Erkenntnis; wenngleich erst die Krone die Früchte trägt. Wie aber jedes Zeitalter, auch das erbärmlichste, sich für viel weiser hält als das ihm zunächst vorhergegangene, nebst früheren; ebenso jedes Lebensalter des Menschen: doch irren beide sich oft. In den Jahren des leiblichen Wachstums, wo wir auch an Geisteskräften und Erkenntnissen täglich zunehmen, gewöhnt sich das Heute mit Geringschätzung auf das Gestern herabzusehn. Diese Gewohnheit wurzelt ein und bleibt auch dann, wenn das Sinken der Geisteskräfte eingetreten ist und das Heute vielmehr mit Verehrung auf das Gestern blicken sollte; daher wir dann sowohl die Leistungen wie die Urteile unsrer jungen Jahre oft zu gering anschlagen.