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Kitabı oku: «Die neue Gesellschaft», sayfa 6

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Siebentes Kapitel
Hinter den Kulissen der »Neuen Gesellschaft«

Die erste Nummer der »Neuen Gesellschaft« erschien in einer Auflage von zweimalhunderttausend Exemplaren. Große Anschläge an den Litfaßsäulen bereiteten das Publikum seit Tagen auf das Erscheinen dieses neuen »unabhängigen, nationalen« Wochenblattes vor. Die Geschäftsautomobile von Berndt & Tie., die sonst Konserven, Felle und Decken beförderten, rasten mit Riesenplakaten durch die Straßen, erlitten künstlich Pannen, störten absichtlich den Verkehr und verursachten an den lebhaften Plätzen und Straßenkreuzungen Menschenansammlungen. Händler mit bunten Mützen und Schärpen standen mit Riesenstößen von Zeitungen an den Rändern der Bürgersteige und riefen laut »Die Neue Gesellschaft« aus. Radler in allen Farben fuhren in langen Reihen durch die Straßen und lenkten durch fortgesetztes Läuten das Publikum auf die bunten Farben, die sie kerzengerade in den Armen hielten und auf denen in großen Lettern die Worte standen: »Lest die Neue Gesellschaft!« Auf jeder elektrischen Bahn vorn und hinten und auf jedem Omnibus stand ein Dienstmann, der auf Brust und Rücken ein Plakat mit dem Namen des neuen Blattes trug. Übertrieben auffällig und elegant gekleidete Damen und Herren gingen, die »Neue Gesellschaft« lesend, durch die belebtesten Straßen, saßen in die Lektüre vertieft in den Untergrundbahnen und Stadtbahnzügen oder unterhielten sich auch laut über die neueste Sensation, die, wenn man näher zuhörte, nichts anderes als die erste Nummer der »Neuen Gesellschaft« war. Auf den Tiergarten-Bänken, auf allen belebten Plätzen, im Lustgarten, durch den zur Mittagszeit die Börsianer stürmen, saßen reizvoll gekleidete junge Mädchen mit übereinandergeschlagenen Beinen und lasen die »Neue Gesellschaft«. An allen Kinotheatern der Stadt prangte breit über dem Eingang ein Plakat, auf dem stand: »Abonnenten der Neuen Gesellschaft zahlen die Hälfte!« In den besseren Restaurants lagen Probenummern auf den Tischen, auf den Rennen verteilten halbwüchsige Burschen, die man in ihrem Dreß für Stalljockeis hielt, auf allen Plätzen ohne Entgelt in geschlossenen Kuverts »Die letzten Tipps der Neuen Gesellschaft«. In den Theatern überreichten weißgekleidete, junge Damen Gratis-Ansichtskarten mit den Bildern der Hauptdarsteller. Auf der für die Adresse bestimmten Seite standen die Bezugsbedingungen der »Neuen Gesellschaft«. In den zehn größten Sälen Berlins sprachen für hohes Honorar bei freiem Eintritt bekannte Publizisten und Dichter über das Thema: »Was will die Neue Gesellschaft?!« – Die gesamte Regie lag in Leos Händen. Das ganze Personal der Firma Berndt & Tie. war aufgeboten. Alles stand an dem Erscheinungstage in dem Dienst der Propaganda. Die Tippverteiler auf der Grunewaldbahn spielten die Lehrlinge, die koketten jungen Mädchen mit den übergeschlagenen Beinen gaben die Bürodamen, die eleganten Herren waren die Geschäftsreisenden und Verkäufer. Kurz: jeder wirkte für sein Teil mit, daß es am Abend des Erscheinungstages keinen Menschen in Berlin gab, der nicht von der Existenz der »Neuen Gesellschaft« wußte. Zweimal mußte ein Nachdruck erfolgen und auf der zweiten Nummer stand: Auflage 350.000 Exemplare.

Aber auch sonst hatte man sich diese erste Nummer etwas kosten lassen. Den Leitartikel, der eine Art Programm war, hatte ein Gelehrter mit klangvollem Namen geschrieben. Unter der Devise freiester Entfaltung der Individualität schien das Blatt den Kampf für Menschenrechte und persönliche Freiheit führen zu wollen. Aber wer lesen konnte, fühlte schon bei der Lektüre dieses Eröffnungsartikels, daß sich die Freiheit, die man meinte, nicht auf die Allgemeinheit, sondern auf einige wenige bezog, daß es die kapitalistische Macht war, für deren freie Entfaltung man kämpfte und für die man keine Grenzziehung im Interesse der kapitalistisch Schwachen dulden wollte. Schon die nächsten Nummern bekannten sich ganz offen zu dieser Herrenmoral, ließen aber dem Leitartikel in der nächsten Woche regelmäßig einen Aufsatz aus scheinbar gegnerischem Lager folgen. Man konnte die beiden Weltauffassungen, die sich hier anscheinend gegenüberstanden, in die Worte fassen: »Schutz den Reichen« und »Schutz den Armen«. So wurde der Schein der Unparteilichkeit gewahrt, zumal Licht und Schatten gleichmäßig verteilt schienen. In Wahrheit aber war der Standpunkt der Herrenmoral tiefgründig und überzeugend vertreten, während der gegnerische Standpunkt bei noch so großem Aufwand von Worten doch nur mit fadenscheinigen Gründen gestützt wurde. So geschickt war das gemacht, daß sich durch das Plus der Argumentation in dem Leser von selbst die Überzeugung des Vertreters der Herrenmoral festsetzte, die durch die Gegengründe nicht nur nicht erschüttert, sondern geradezu befestigt wurde. Und alle diese, auch im Stil merklich voneinander verschiedenen Artikel, Repliken, Dupliken stammten aus der Feder Alfreds, des Assessors, der nicht nur ein Talent, sondern auch ein großer Filou war.

Für ihn war dies Blatt nur Mittel zum Zweck. Er sagte sich, daß der Weg zum Reichtum nicht unbedingt über Felle und Konserven führe. Es gab auch andere Möglichkeiten, um ein reicher Mann zu werden. Wege, die bequemer waren und sozial emporführten, während dem Handel seines Schwagers Leo, wenn er auch in großem Stil betrieben wurde, doch immer etwas Jobberhaftes anhaftete.

Es waren nicht nur Informationen, die er sich von den Industriegewaltigen holte. Er war sehr bald ihr Vertrauensmann, ohne daß eine Abrede oder gar eine kontraktliche Bindung erfolgt wäre. Es fand sich immer ein Vorwand für einwandfreie Erkenntlichkeit. Einmal war an der Spitze des Blattes zu lesen:

Der Artikel gegen die Verstaatlichung der Chemischen Industrie in Nummer 11 der »Neuen Gesellschaft« hat an einer der interessierten Stellen, die wir nicht nennen wollen, so gefallen, daß sie unserem wirtschaftlichen Mitarbeiter einen namhaften Betrag »zur Verwendung nach Gutdünken« übersandte. Uns sind solche Beifallsäußerungen stets willkommen, und unser geschätzter Mitarbeiter hat denn auch nicht gezögert, die generöse Schenkung dem Vorstand der gewerkschaftlichen Verbände zur Unterstützung von Familien zu überweisen, deren Ernährer wegen politischer Betätigung aus ihren Stellungen entlassen wurden.

Diese Gebärde, die die Runde durch die gesamte freiheitliche Presse machte, brachte der »Neuen Gesellschaft« Tausende von neuen Abonnenten. Das ganze war natürlich ein Trick, auf den Alfred, der kluge Assessor, verfiel, als Leos Propagandamittel erschöpft waren. Die Summe, die übrigens nicht halb so groß war, wie es nach der Ankündigung den Anschein hatte, gab Leo. Die Kreise aber, die diese Notiz traf, sagten sich: Sicher war das ein Tölpel, der zu wenig bezahlt hat. – Sie zogen die Konsequenzen und Alfreds Einnahmen erfuhren eine nicht unbeträchtliche Steigerung.

Ja, Alfred verstand sein Geschäft und sammelte Beziehungen, Einfluß und Reichtum, ohne Leo, seinen Verleger, dadurch zu schädigen.

Der sah schon, daß er auf seine Kosten kam. Seinen Kunden, die in der »Neuen Gesellschaft« inserierten, machte er billigere Preise für Felle, Leder und Konserven. Dadurch kauften die mehr und er erhöhte seinen Umsatz. Und gleichzeitig sahen sich die Konkurrenten, um nicht zurückzustehen, genötigt, ihre Waren in der »Neuen Gesellschaft« anzupreisen. So wurde diese bald ein beliebtes Anzeigeorgan gerade für diese Branchen, für die sehr bald im Handelsteil unter geschicktem Hinweis auf die Firma Berndt & Tie. eine ständige Rubrik errichtet wurde. Und da die Firma »Verlag der Neuen Gesellschaft« nicht erkennen ließ, daß Leo Berndt & Tie. ihr Eigentümer war, so konnte Leo wirksam und ungeniert für sich Reklame machen. Auch das Inserat des Finanzgenies fehlte in keiner Nummer.

In anderer Form nutzte der Oberlehrer Professor Sasse seine Macht. Er war ganz Idealist, überzeugter Verfechter des Humanismus, und machte sein Ressort zu einem Sammelpunkt, von dem aus alle Gesinnungsgenossen gegen die Reformbestrebungen des alten Gymnasiums fochten. Den Einwendungen des Assessors gegenüber, doch auch die andere Richtung zu Worte kommen zu lassen, zeigte er sich taub und kämpfte sich in einen solchen Haß hinein, daß sich der deutschen Lehrerschaft eine große Erregung bemächtigte. Die hatte erstmal zur Folge, daß Anhänger und Gegner sich um das Blatt rissen: die einen aus Liebe, die andern aus Haß; dann aber sich zu einer Organisation zusammenschlossen, deren alleiniger Zweck es war, die Bestrebungen, die »Die Neue Gesellschaft« auf pädagogischem Gebiete vertrat, zu bekämpfen.

»Was meinst du,« fragte Alfred, der Assessor, seinen Schwager mit einem Blick, der alles sagte, »ob man die Reformisten, um sie in dem Kampf gegen uns zu bestärken, nicht veranlaßt, ein Organ zu gründen?«

Und beide verstanden sich trefflich. Es dauerte nicht lange, da war Leo auch der Besitzer einer Wochenschrift, die »Moderner Geist« hieß und für Reform der Erziehung und Bildung in Schule und Haus kämpfte. Daß die »Neue Gesellschaft«, entgegen der journalistischen Gewohnheit, ihren Gegner bei jeder Gelegenheit zitierte, machte auf die Leser nicht nur einen ausgezeichneten Eindruck, sondern erweckte durch die geschmackreizende Art, in der es geschah, auch die Neugier, sich näher mit dem Inhalt des Modernen Geistes bekannt zu machen. In geschicktester Form warb so ein Blatt für das andere.

Der Professor, der von diesen Zusammenhängen nichts ahnte, verrannte sich, durch die Opposition gereizt, immer mehr in seine Idee, die ihn bald Tag und Nacht verfolgte und nicht mehr los ließ. Er wurde Monomane und vernachlässigte schließlich im selben Maße seinen Beruf, den Unterricht am Gymnasium, wie Fiffi, seine Frau. Das hatte zur Folge, daß Schulbehörde und Frau sich gegen ihn auflehnten, indem beide für die Pflichten, die er vernachlässigte, Ersatz suchten und fanden.

Daneben betätigte sich Fiffi aber noch auf andere Weise. Sie schrieb Modeberichte für die »Neue Gesellschaft«, erschien bei Premieren, Rennen, Concurs hippiques in den prachtvollsten Kleidern und galt bald bei den Damen beider Welten für tonangebend in allen Toilettefragen. Jede Frau, die auf sich gab, las Fiffis wöchentliche Modeschau in der »Neuen Gesellschaft«. Und aus dem wöchentlichen Aufsatz wurde bald eine besondere Beilage, die es zuließ, den Kaufpreis des Blattes zu erhöhen, ohne dadurch die Leserzahl zu vermindern. Fiffi aber wurde   nach ihrem Scheidungsprozeß, den sie wegen Vernachlässigung der ehelichen Pflichten vonseiten ihres Gatten anstrengte und gewann, die mondänste Frau Berlins. Und da sie die wirksamste wandelnde Reklame für die »Neue Gesellschaft« war, die nirgends fehlte und überall auffiel, so war am Ende auch weiter nichts dabei, wenn Leo gut auf sie zu sprechen war und den sehr hohen Etat ihres Lebensunterhaltes bestritt.

Und der Maestro? Auch dieser kleine Violinlehrer aus dem Neapolitanischen, den eine liebestolle Gräfin einst auf ihrer italienischen Reise in einer Straße Salernos aufgelesen und aus einer Laune heraus mit nach Berlin genommen hatte, wo sie ihn dann, seiner überdrüssig, Leuten aufgehalst hatte, die auf ihren Namen flogen – auch dieser Maestro machte durch dieses Blatt sein Glück.

Seine erste Tat war ein Protest gegen den Konzertunfug in Berlin. Er wies nach, daß von den siebenhundertundachtzig Konzerten im Winter kaum achtzig eine innere Berechtigung hätten. Das war ein Werturteil, das vielleicht übertrieben, in der Idee aber durchaus treffend war. Er forderte eine prüfende Instanz, der sich jeder Anfänger zu unterziehen hätte, ehe er auf die Menschheit losgelassen würde. Das war ein, wenn auch im ersten Augenblick seltsam anmutender, so doch durchaus diskutabler Gedanke. Auch daß er sich bis zur Schaffung einer solchen Instanz, im Interesse der ausübenden Künstler wie der mißhandelten Menschheit, bereit erklärte, diese Funktion selbst zu üben, konnte man hinnehmen. Aber, daß trotz dieser Tätigkeit, die er im großen Stil übte, die Zahl dilettantischer Künstlerkonzerte, statt abzunehmen, sich nachweislich mehrte, und daß die Rubrik »Aus den Konzertsälen« in der »Neuen Gesellschaft« bald nichts anderes mehr als eine Nomenklatur bislang unbekannter Künstler und vornehmlich Künstlerinnen war – das fiel auf. Und daß allʼ diese Konzerte, wenn auch nur mit ein paar Worten, aber doch immer so, daß diese Worte für die Provinz als Propaganda verwendbar waren, gewürdigt wurden – das stimmte bedenklich. Indes war das nur eine von vielen Erscheinungen, hinter der sich ein System verbarg, das er mit großem Geschick auch in den übrigen ihm unterstellten Ressorts übte.

Jedenfalls: »Die Neue Gesellschaft« war ein Blatt, das in allen Teilen gut unterhielt und in gleicher Weise Verleger, Mitarbeiter, Leser, Inserenten und – Cäcilie befriedigte. Die sah darin nichts anderes als ein Werkzeug für Günthers Ruhm, für den es den Boden vorbereiten und den es zur gegebenen Zeit verkünden sollte. —

Der Maestro saß, die Hände über der Brust gefaltet, die Zigarre im Mund, zurückgelehnt in seinem Klubsessel und nahm den Vortrag eines bekannten Berliner Musikverlegers entgegen, der ihn veranlassen wollte, das Vorwort für seinen Verlagskatalog zu schreiben.

»Ich wüßte niemanden,« schloß der Verleger, »der würdiger wäre, ein abschließendes Urteil über meine Verlagstätigkeit zu geben, als Sie.«

Der Maestro nahm das wie etwas Selbstverständliches hin.

»Sie wissen,« sagte er, »wie sehr ich mit Arbeiten überhäuft bin. Die Erfüllung Ihrer Bitte setzt natürlich ein gründliches Studium Ihrer sämtlichen Verlagswerke voraus, denn ich kann nicht über Dinge urteilen, die ich nicht kenne. Eine Fülle anderer Arbeit muß dadurch liegen bleiben.«

»Es versteht sich, daß ich das bei der Honorierung berücksichtige.«

»Bitte,« wehrte der Maestro ab, »wenn ich die Arbeit übernehme, so tue ich es ausschließlich im Interesse der Kunst, in deren Dienst ich nun einmal mein Leben gestellt habe. Geld dafür zu nehmen, lehne ich ab.«

Der Verleger glaubte falsch zu hören. Er sah ganz ängstlich zu dem Maestro auf und sagte:

»Ja . . dann . . . verreißen Sie am Ende gar die eine oder andere meiner Opern und Operetten?«

»Ich schreibe, wie mein künstlerisches Gewissen es von mir verlangt.«

»In diesem Falle würde ich es vorziehen, falls etwa das eine oder andere Werk Ihren Beifall nicht findet . . .«

»Das ist wohl möglich.«

». . . das betreffende Werk dann lieber nicht mit in den Katalog aufzunehmen.«

»Darüber wäre zu reden. Jedenfalls, die Arbeit bliebe dieselbe.«

»Und bis wann darf ich auf das Manuskript rechnen? Das gesamte Material geht noch heute an Sie ab.«

»Ich teile es Ihnen mit.«

Der Diener legte einen ganzen Stoß von Besuchskarten auf den Tisch und meldete, daß der Warteraum voll von Menschen sei.

»Sie sehen,« sagte der Maestro und stand auf.

Der Verleger verabschiedete sich.

»Übrigens,« sagte der Maestro, als der Besucher gerade die Hand auf die Klinke legte, so nebenbei: »Sie wissen, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, jungen Künstlern vorwärts zu helfen. Das geht natürlich auf Kosten meiner Berufsarbeit. Wer mir den Ausfall ersetzen hilft, tut den Künstlern Gutes.«

»Aber natürlich!« rief der Verleger freudig und erriet sofort den Zusammenhang. »Wenn ich Ihnen für diese Zwecke zehntausend Mark überweisen darf?«

»Es ist meine Pflicht, sie anzunehmen,« erwiderte der Maestro.

Eine kurze Verbeugung beiderseits, dann ging der Verleger links über den Flur, der Maestro rechts zur Tür hinaus in den Warteraum, wo im selben Augenblick ein Dutzend Menschen aufsprang und sich verbeugte.

»Meine Herrschaften,« sagte der Maestro und begrüßte sie mit einer leichten, kaum merklichen Bewegung des Kopfes, »ich sitze gerade über einer äußerst schwierigen Partitur. Sie gedulden sich wohl eine Viertelstunde?«

Ein allgemeines »Gewiß!« – »Aber ja!« – »Mit Vergnügen!« war die Antwort.

Der Maestro aber rief seine Stenotypistin und diktierte ihr, noch bevor er das Material hatte, einen Artikel für den Verlagskatalog, der nichts und alles sagte, jeden Direktor aber, der ihn in die Hand bekam, überzeugte, daß die hier angekündigten Werke ihn auf lange Zeit hinaus aller Repertoiresorgen enthoben. Für die Einfügung der Namen der Opern und Operetten ließ er Raum offen und befahl der Stenotypistin, das Diktat abzuschreiben und ihm in vierzehn Tagen wieder vorzulegen. Er unterzeichnete aus Utilitätsgründen, wie er dem Verlage später schrieb, nicht mit seinem Namen, sondern mit Severus. Und die Zukunft lehrte, daß sich die »Neue Gesellschaft« der Werke dieses Verlegers mit ganz besonderer Liebe annahm.

Als der Maestro seinen Artikel fertig hatte und eben die erste Dame aus dem Warteraum zu sich bitten ließ, platzte, unangemeldet wie gewöhnlich, Frau Cäcilie in sein Büro.

»Also, bester Maestro,« begann sie und schmiß sich in den Klubsessel; der seinem Schreibtisch gegenüberstand. – »Sie müssen mir helfen! Denken Sie, Günther revoltiert. Er weigert sich, Künstler zu werden! Er hat seinen Violinbogen in Stücke gebrochen und mir vor die Füße geworfen.«

Der Maestro sah Cäcilie an, als wenn sie ihm die gleichgültigste Geschichte von der Welt erzählte.

»Aufgehetzt haben sie ihn mir,« fuhr sie fort. »Und wissen Sie, wer? Die kleine Linke, die Tochter meines Hausmeisters. Sie hat ihm eingeredet, er verstände nichts von Musik und mache sich lächerlich! Die Bagage! Ich setze sie an die Luft! Die ganze Familie! Ich brauchʼ sie so nicht mehr! Ich kennʼ mich jetzt aus!«

Der Maestro, der nicht frei von Aberglauben war und die Violinstunden bei Günther, denen er seine Karriere dankte, nur noch aus einer Art Pietät fortsetzte, nutzte die Gelegenheit und sagte:

»Ich kenne sie! Sie ist ein Wildfang! Aber Musik hat sie in den Knochen, diese kleine Satanita!«

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, Maestro . . .?«

»Wie?«

»Nu, ich meinʼ nur, daß diese Portiersjöhre etwa beurteilen kann . . .«

»Gewiß kann sie das! Sie hat Gehör. Vox vopoli vox dei, wie der Lateiner sagt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Macht nichts. Jedenfalls: sie hat nicht unrecht.«

»Maestro!« schrie Cäcilie und warf die Arme hoch. – Und das Bürofräulein nebenan sah von der Maschine auf, schüttelte den Kopf und dachte:

»Schon wieder eine!«

»Wenn ich Sie bisher mit dieser Eröffnung verschont habe,« fuhr der Maestro, der sich jetzt sicher im Sattel glaubte, fort, »so geschah es mit Rücksicht auf die mütterliche Eitelkeit, die ich nicht kränken wollte.«

»Maestro!« wiederholte Cäcilie, und das Bürofräulein nebenan dachte: »Entsetzlich!«

»Heutʼ aber,« sagte der Maestro, »wo die Existenz der »Neuen Gesellschaft« nicht mehr davon abhängt, kann ich es wagen . . .«

»Ja, was hat denn die Existenz der ›Neuen Gesellschaft‹ mit der künstlerischen Begabung meines Sohnes zu tun?« fragte Cäcilie erstaunt.

»Hatte! Heutʼ nicht mehr!« verbesserte der Maestro, besann sich aber sofort und sagte: »Das heißt, verstehen Sie mich nicht falsch! Ich meine, heute, wo die Macht der ›Neuen Gesellschaft‹ die künstlerische Zukunft Ihres Sohnes gewährleistet, brauchen wir uns nicht gerade auf ein Kunstgebiet festzulegen, für das er so gar keine Begabung mitbringt.«

»Was heißt das?«

»Daß es nicht durchaus die Violine sein muß. Daß es auch etwas anderes sein kann. So weit ich mich erinnere, war Ihr Wunsch, den der Familienrat dann später sanktioniert hat, doch der, daß Günther, statt den allemal anrüchigen Beruf eines Geldverdieners zu wählen, den freien, unabhängigen, nur von ideellen Gesichtspunkten vorgeschriebenen Weg eines freien Künstlers – und dabei wies er auf sich – gehen soll.«

»Wie Sie mich verstehen, Maestro!«

»Welche Art Kunst er aber ausübte, darüber wurde, soviel ich mich erinnere, ein bindender Entschluß nicht gefaßt.«

»Sie meinen also, er könnte . . .«

»Einen anderen künstlerischen Beruf wählen!« ergänzte der Maestro. »Sehr richtig! und zwar einen, bei dem ihm nicht, wie bei dem Violinspiel, jeder auf die Finger sehen kann.«

»Und das, glauben Sie, wäre möglich?«

»Unbedingt. Ich denke zum Beispiel, wie wäre es, wenn er Komponist oder Dichter würde?«

»Himmlisch! Aber wie macht man das?«

Der Maestro kniff die Augen zusammen.

»Es ließe sich wohl machen,« sagte er.

»Am Ende beides?«

Er sah sie verschmitzt an. »Auch das!«

»Maestro!« schrie Cäcilie und schmiß vor Glück die Arme in die Höhʼ. Und das Bürofräulein nebenan sprang auf, warf den Kopf zurück und sagte empört:

»Jetzt küßt er sie!« —

»Natürlich, ein gewisser Apparat gehört schon dazu!« ergänzte der Maestro.

»Ein Apparat?« wiederholte Cäcilie. »Ah, ich verstehe. Sie meinen, daß statt seiner jemand ins Grammophon – am Ende Caruso. Und daß man dann die Platten als seine . . .«

»Nicht ganz so, aber so ähnlich. Vor allem, ich wollte nur sagen: es kostet Geld.«

»Fordern Sie!« rief Cäcilie. »Sie wissen, für den Ruhm meines Sohnes ist mir nichts zu teuer!«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen und Ihnen dann berichten, gnädige Frau.«

Cäcilie erhob sich.

»Wenn ich Sie nicht hätte, Maestro!« sagte sie und gab ihm die Hand.

Der Maestro verbeugte sich höflich und erwiderte:

»Ganz auf meiner Seite!«

Dann wandte sie sich zum Gehen. An der Tür blieb sie stehen.

»Gnädige Frau?« fragte der Maestro. »Haben wir etwa noch etwas vergessen?«

»Eine Frage.« – »Bitte sehr!«

»Was sage ich nun allʼ meinen Bekannten, denen ich von Günthers künstlerischem Violinspiel erzählt habe?«

»Sehr einfach! Er ist ein Universalgenie. Wir haben Seiten an ihm entdeckt, die noch entwicklungsfähiger sind.«

Cäcilie schmunzelte.

»Sie und Leo,« sagte sie, »Ihr beide seid mir die Richtigen.«

»Sehr ehrenvoll!« erwiderte der Maestro und verbeugte sich. »Aber Sie tun Ihrem Herrn Bruder, dem Assessor, unrecht. Er steckt uns alle in die Tasche.«

»Wie gut, daß man sich so versteht,« erwiderte Cäcilie und ging. —

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30 kasım 2019
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