Kitabı oku: «Justizmord »
Erster Teil
1
»Das Haus war vollbesetzt als Ihr Telegramm eintraf; aber die Direktion hat es dennoch ermöglicht,« sagte der Direktor des Hotels Excelsior Regina in Nizza und verbeugte sich tief vor einem Amerikaner, der in Begleitung eines französischen Ehepaares um Anweisung der von Marseille aus telegraphisch bestellten Zimmer bat.
»Also!« erwiderte der Amerikaner ungeduldig.
»Für Sie, Mister Harvey, ein Appartement mit Salon im ersten Stock . . .«
»Und für Herrn und Frau Marot?«
». . . konnte ich leider nur das Doppelzimmer Nummer elf im Zwischenstock nach dem Meer hinaus freimachen.«
»Das genügt ja für die zwei Tage«, sagte Frau Marot, die viel mehr nach Paris als nach Marseille aussah. – Sie warf schnell einen Blick in den Spiegel, der im Vestibül hing, überzeugte sich, daß sie trotz der langen Autofahrt gut aussah, trat dicht an den Amerikaner heran und sagte:
»Also gehen wir!«
»Sie nehmen natürlich meinen Salon.«
»Auf keinen Fall! Salon ohne Zofe wie paßt das zusammen?«
»Es wird das letzte Mal sein, daß Sie ohne Zofe reisen.«
»Lieber Mister Harvey! Wenn Sie die Hälfte von dem halten, was Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden versprochen haben, bin ich zufrieden.«
Als sie vor dem Lift standen, erschien endlich Marot, der sich die ganze Zeit über mit dem Gepäck beschäftigt hatte.
Wo steckst du, Andrée!« fragte Frau Marot und erhielt zur Antwort:
»Ich sterbe vor Hunger.«
Mister Harvey bestellte bei dem Kellner, der mit ihnen im Lift hinauffuhr, ein kleines Souper – für drei Personen – in den Salon.
»Ich muß mich umziehen«, erklärte Frau Marot.
»Meine Frau bringt es fertig und macht um elf Uhr nachts noch große Toilette.«
»Bleiben Sie, wie Sie sind«, entschied der Amerikaner – und als sie den Salon betraten und Frau Marot den Hut abnahm, fügte er hinzu: »Sie sollten es einmal mit der neuen Frisur versuchen, die eben in New York Mode wird.«
»Erzählen Sie!« drängte Frau Marot und Mister Harvey weihte sie, während sie aßen, mit einem Eifer in die Mysterien der neuen Frisur ein, die Marot in Staunen setzte.
»Wenn ich mir vorstelle, wie Sie darin aussehen würden!« rief er begeistert, und Frau Marot sprang vom Tische auf, eilte zur Tür und rief:
»Die Frisur lasse ich mir heute nacht noch machen.«
Ehe Marot imstande war, sie zurückzuhalten, war sie schon auf dem Flur.
Der Amerikaner lachte über das ganze Gesicht, goß schnell noch ein Glas Wein herunter, stand auf, nahm Marot beim Arm und sagte:
»Und nun kommen Sie auf Ihr Zimmer.«
Marot fragte:
»Und Dorothée?«
»Die werden wir dort erwarten.«
2
Der Direktor des »Hotel Excelsior Regina« ging mit der Konjunktur. Großfürsten und gekrönte Häupter, einst der Glanz dieses Hauses, hatten keinen Kurs mehr. Ein weiblicher Star der Folie Bergère zündete heute mehr als ehemals eine Kaiserin Eugénie. Da aber die weltreisenden Amerikaner, wie in Wien nach dem alten Kaiser Joseph, so in der Gegend Mentones noch immer nach der alten Eugénie fragten, so ließ man sie ihnen zuliebe am Leben und zeigte gelegentlich auf der Promenade auch mal eine alte Dame, die es sich gern gefallen ließ, für die tote Kaiserin gehalten zu werden. Aber das hatte nur noch Museumswert. Auf den Höhen der Menschheit wandelten nach Ansicht des Hoteldirektors heute allein die Amerikaner.
Mister Harvey und das Ehepaar Marot waren noch nicht im Lift, da ließ der Direktor das ganze Haus nach der Hoteldetektivin Frau Lily Turel absuchen. – Es vergingen fast zehn Minuten – da meldete sie sich endlich am Apparat im Zwischenstock.
»Liebe Turel!« fuhr er sie an. »Sie sind jung, fesch und nach Ansicht Ihres Professors, der Sie mir empfahl, ein ausgezeichneter Jurist. Aber was nützt das alles, wenn Sie nie da sind, wenn man sie sucht.«
»Lieber Direktor,« erwiderte Frau Turel, »das liegt daran, daß ich immer da bin, wo man mich braucht.«
»Das wäre in diesem Falle?«
»Im Entresol.«
»So!? – Nun, dann will ich Ihnen verraten, daß vor einer Viertelstunde der amerikanische Zeitungskönig Harvey bei uns abgestiegen ist.«
»In Begleitung seines Marseiller Korrespondenten Andrée Marot nebst Gattin.«
»Sie wissen?«
»Die Herrschaften haben sich soeben auf den Salon des Mister Harvey ein kleines Souper, bestehend aus kalter Bouillon, Forelle und kaltem Geflügel, sowie eine Flasche unfrappierten Pommery Greno pur bestellt.«
»Ja, woher wissen Sie . . .?«
»Madame Dorothée Marot . . .«
»Den Vornamen kennen Sie auch schon?«
» . . . hat sich gegen ihre Gewohnheit zum Souper nicht umgezogen, sondern ist im Reisedreß geblieben.«
»Ich bewundere Sie.«
»Sie ändern Ihre Meinung sehr schnell, Direktor. – Im übrigen, dieser Mister Harvey, der Ihnen so imponiert, interessiert mich gar nicht.«
»So? Dann scheinen Sie nicht zu wissen, daß ihm ein halbes Dutzend der gelesensten Zeitungen in Chicago gehören.«
»In denen er einen Monat lang für die Aufhebung der Prohibition, im nächsten für die Aufhebung der Todesstrafe kämpft.«
»Er soll dafür kämpfen, daß seine Leser, die mehr als zehn Millionen betragen, nach Europa reisen, Nizza besuchen und im Hotel Excelsior Regina absteigen.«
»Ich bin hier Detektiv und nicht Pressechef.« »Sie sind vor allem hübsch und gescheit.« »Als wenn Sie das beurteilen könnten.« »Vielleicht geben Sie dem Amerikaner Gelegenheit dazu – und bestimmen ihn, daß er in seinen Blättern auf unser Hotel aufmerksam macht.«
»Wenn Sie Animierdamen suchen, gehen Sie ins Kasino.«
»Frau Turel! Wie können Sie sich mit derartigen Frauen vergleichen!«
»Ich lehne jede Tätigkeit ab, die nicht mit meinem Beruf zusammenhängt.«
»Sie haften mir dafür, daß Mister Harvey während seines Aufenthaltes in Nizza weder bestohlen, noch in irgendeiner Form belästigt wird.«
»Solange er sich in Gesellschaft dieses Politikers Marot befindet, lehne ich jede Verantwortung ab.«
»Was sagen Sie? – Wo sprechen Sie denn? – Sie reden ja gar nicht in den Apparat.«
»Ich halte das Zimmer Marots unter Aufsicht – das scheint mir wichtiger.«
»Sie leiden an Halluzinationen. Schonen Sie Ihren Teint, Turelchen! Gehen Sie schlafen!«
»Nicht, bevor in Zimmer Nummer elf das Licht gelöscht ist.«
3
»Das sieht ja hier nett aus«, sagte Mister Harvey, als er mit Marot das Zimmer Nummer elf im Zwischenstock betrat.
Koffer und Handtaschen standen offen. Auf den Tischen, der Waschtoilette, dem Bett lagen wahllos Handschuhe, Strümpfe, Wäsche und Schuhe. – Wer Dorothée nicht kannte, wenn sie ohne Zofe reiste, mußte beim Anblick dieses Zimmers denken, daß Diebe hier eingedrungen waren und die Koffer in aller Eile nach Wertgegenständen durchsucht hatten. – Dem Gedanken gab denn auch der Amerikaner Ausdruck.
Aber Marot widersprach lächelnd und sagte:
»Typisch für Dorothée! Sie hat in aller Eile ihre Bürsten, Scheren und Kämme zusammengesucht und ist damit zu dem Friseur geeilt.«
»Wo sie den um die Zeit finden will, ist mir schleierhaft.«
»Sie findet ihn! – Verlassen Sie sich darauf – und wenn wir in einer Wüste wären.«
Mister Harvey sah sich im Zimmer um. Im Hintergrunde links lag die Schlafkoje, die durch eine Portiere vom Wohnraum getrennt war. Auch hinten rechts war eine Nische, in der ein Sofa, ein runder Tisch und ein paar Stühle standen.
»Ganz gemütlich,« sagte der Amerikaner und nahm seine Handtasche, die unter dem vielen Gepäck stand, das dem Ehepaar Marot gehörte. »Ihre Gattin scheint auch meine Tasche durchsucht zu haben.«
»War sie denn nicht verschlossen?«
»Ich verschließe meine Tasche nie.«
»Dann hat sie in der Eile und Erregung gar nicht gemerkt, daß sie nicht uns gehörte.«
»Ich bin davon überzeugt.«
»Fehlt etwas?«
»Aber nein!«
Er nahm einen großen Bogen heraus, hielt ihn hoch und sagte:
»Genau so lag er, als ich ihn hineinlegte. Sie hat nichts angerührt.« Dann ging er damit zum Sofa, entfaltete das Papier und sagte: »Ich wiederhole die Bedingungen.«
»Wollen Sie wirklich jetzt . . .?«
»Ja, wann denn? – Aber wenn Sie müde sind, Marot, ziehen Sie sich inzwischen ruhig aus.«
»Wenn Sie gestatten«, erwiderte Marot und nahm den Kragen ab.
Der Amerikaner setzte sich und fuhr fort:
»Sie tauschen also den Posten mit meinem Pariser Korrespondenten, der für Sie nach Marseille kommt – er genügt mir sowieso nicht mehr für Paris.«
»Sie hätten den Wechsel auf alle Fälle vorgenommen?« fragte Marot. . »Was heißt, auf alle Fälle?«
»Auch ohne den Vorfall im Office der Chicago Times in Marseille – und seine Folgen?«
»Schreien Sie doch etwas lauter oder gehen Sie lieber gleich auf den Flur hinaus. – Die Hoteldetektivin ist sowieso wie ein Spürhund hinter uns her.«
»Zu meinem Schutz.«
»Das reden Sie sich ein.«
»Hier in Nizza tagt zurzeit eine politische Organisation, die ich seit Jahren bekämpfe.«
»Ach nein!« erwiderte Harvey spöttisch.
»Sie wußten das?« fragte Marot erstaunt.
»Es ist mir ein Rätsel, Marot, daß Sie trotz Ihrem Mangel an Kombinationsvermögen ein so guter Korrespondent geworden sind.«
»Ich fange an, zu begreifen.«
»Etwas spät.«
»Deshalb sind wir also nach Nizza gefahren?''
»Fabelhaft, wie Sie das erraten!«
»Die Anhänger dieser Organisation sind Fanatiker.«
»Die vor nichts zurückschrecken.«
»Wenn sie durch einen Zufall erfahren, daß ich hier bin . . .«
»Ich bin sicher, sie wissen es längst.«
»Dann schwebe ich tatsächlich in Lebensgefahr.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Sie sind sehr menschenfreundlich, Mister Harvey.«
»Ich kämpfe für eine Idee.«
»Für die Auflagen Ihrer amerikanischen Blätter.«
»Auch – aber das nur nebenbei.« – Er beugte sich wieder über das Blatt. »Also kommen wir endlich zu Ende. Sie erhalten den Pariser Posten – Ihr Gehalt wird verdoppelt – der Vertrag auf zehn Jahre verlängert – ich zahle Ihr Office – Ihr Auto – war sonst noch was?«
»Meine Schulden.«
»In Höhe von?«
»Dreiviertel Millionen Frank – «
»In Dollar bitte!«
»Fünfundvierzigtausend Dollars.«
»Sie sind ein Verschwender. »Wie wird das erst in Paris werden?«
»Darüber verständigen Sie sich bitte mit meiner Frau.«
Harvey sprang auf und rang die Hände: »Ich beschwöre Sie, Marot, sprechen Sie leise!«
– Dann gab er ihm ein Zeichen, die Tür zu öffnen.
Marot ging behutsam zur Tür und öffnete plötzlich. – Im selben Augenblick sah man eine Dame eilig im Hotelkorridor verschwinden.
»Die Hoteldetektivin!« sagte Marot und schloß die Tür wieder.
»Sehen Sie nun endlich ein, daß wir uns in acht nehmen müssen? – hier ist der Vertrag! – Unterschreiben Sie.«
Marot ging an den Tisch, las den Vertrag und sagte:
»Das ist ja fabelhaft!«
»Genau, wie wir es besprochen haben.«
»Es wirft mich um.«
»Ihre Frau würde es nicht umwerfen.«
»Dorothée ist Künstlerin und liebt Sensationen.«
»Wie alle Frauen.«
»Für die Aussicht, in Paris zu leben, würde sie alles unterschreiben.«
»Welche Frau täte das nicht?«
»Und wann werden Sie Frau Dorothée in die Mysterien dieses Vertrages einweihen?«
»So bald als möglich.«
»Also dann in Gottes Namen«, sagte Marot und unterschrieb.
4
Sie kennen nicht François Robert? Wie schade! Hätten Sie nur einmal ein paar Worte mit ihm gewechselt, so würden Sie den Vorgang, der sich in der Zwischenzeit, also zwischen elf und zwölf Uhr nachts, in seinem Salon abspielte, durchaus natürlich finden.
Frau Dorothée war mit ihren Scheren, Bürsten und Kämmen die Hoteltreppe hinunter ins Vestibül geeilt, um nach einem Friseur zu fragen. Sie hatte das Office noch nicht betreten, als ein Herr im Frack und Samtkragen, weißer Künstlerschleife, weichem Hemd und stumpfem Zylinder ihr in den Weg trat, den Hut zog, sich tief vor ihr verbeugte und wörtlich sagte:
»François Robert – coiffeur pour pénibles dames, absolument discret – mein Salon befindet sich rechter Hand, im Gang, der Treppe gegenüber.«
Frau Dorothée stutzte, sah ihn an und fragte:
»Sie sind . . .?«
»François Robert – in eigener Person! Sie erinnern sich! Ich bin glücklich, Sie wiederzusehen – Mademoiselle Helène! – Sie sind jünger, schöner und vor allem – Sie sind schlanker geworden. Ich taxiere, sechshundert Gramm haben Sie abgenommen – es können auch siebenhundert sein Nur die Frisur gefällt mir nicht – Helène!«
»Sie irren – ich . . . bin Madame Marot . . .«
»Natürlich! Madame Marot! Ich entsinne mich der Ehre, Madame Marot im letzten Sommer in Deauville bedient zu haben.«
»Ich war auch nicht in Deauville im letzten Sommer.«
»Nicht in Deauville? O wie schade! Eine Frau wie Sie gehört nach Deauville. Ich erinnere mich des Grand Prix de Beauté. Die dunkle schlanke Frau, die man im Kursaal mit dem ersten Preise krönte, war Madame Marot aus dem Gesicht geschnitten.«
»So? – Wer war denn das?«
»Die Marquise de Poittiers, eine meiner treuesten Klienten. Sie kam mit einer Frisur à la Figaro aus Paris. Ich sagte zu ihr: Teuerste Marquise – unter uns, ich sagte Lolo – wenn Sie neben meiner Klientel, der kleinen Prinzessin von Wagram und der Tänzerin Ley von den Folies Bergères, bestehen wollen, so rate ich Ihnen zu einer Coiffure à la François Robert.«
»Und die Marquise?«
»Versuchte, mich für die Frisur Ihres Pariser Coiffeurs Monsieur Pasquier zu begeistern. – Sie meinen, was blieb mir anderes übrig, als sie anzuhören? Sie irren, Madame Marot.«
»In New York trägt man jetzt. . .«
»Ich weiß.«
»Die Frisur ist erst seit ein paar Wochen . . .«
». . . und trotzdem bereits überholt. Im übrigen nur kleidsam für Blondinen, die außer Mode sind.«
»Mister Harvey, der direkt aus New York kommt. . .«
». . . kann natürlich nicht wissen, mit welchen neuen Kreationen die Phantasie französischer Haarkünstler die Welt während seiner Überfahrt beglückt hat. – Kollege Pasquier ist gewiß ein Künstler in seinem Fach. Und Madame Marot, die der Marquise de Poittiers aus dem Gesicht geschnitten ist, so daß ich versucht bin, anzunehmen, hinter ihr verbirgt sich eine Dame der Aristokratie, die nicht erkannt sein will . . .«
»Aber nein!«
»Takt und Diskretion verbieten mir, weiter danach zu forschen.«
»Sie besitzen ein Bild der Marquise de Poittiers?«
»Ein halbes Dutzend.« – Er reichte ihr einen Lederband mit Photographien und sagte: »Bitte, blättern Sie ungeniert! Da Sie zur Familie gehören, so begehe ich keine Indiskretion.«
Photos schöner Frauen mit kitschigen Widmungen an den »großen Meister der Schere« und »unvergleichlichen Künstler« zeugten von einem oft innigen Verhältnis zwischen François Robert und seiner Klientel.
Und ohne daß Frau Dorothée wußte, wie sie eigentlich aus dem Hotelvestibül in den Frisiersalon geraten war, saß sie plötzlich mit einem Bubikopf à la François Robert vor dem großen Spiegel, in den sie – sehr gegen ihre Gewohnheit – während der ganzen Zeit nicht einen Blick hineingeworfen hatte.
Als sie sich jetzt sah, lächelte sie und sagte:
»Das ist zwar das Gegenteil von dem, was Mister Harvey vorgeschwebt hat. . .«
»Einem Manne wie ihm können Sie nur imponieren, wenn Sie das Gegenteil von dem tun, was er erwartet.«
». . . aber ich gefalle mir«, beendete Frau Dorothée ihren Satz, ohne François Robert eines Blickes zu würdigen.
»Es ist drei Minuten vor zwölf, teuerste Marquise. Um zwölf haben Sie, wenn ich Sie richtig verstand, Ihr Rendezvous mit dem Amerikaner . . .«
»Sie sind sehr naseweis, Monsieur François«, sagte Dorothée, die sich erhoben hatte, mit dem Gesicht dicht vor dem Spiegel stand und Rot auflegte.
»Aber verschwiegen«, beteuerte François. »Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen.«
»Lächerlich!« wehrte Dorothée ab.
»Bis neun Uhr abends wird bei mir jeder bedient, der zu mir kommt. Aber von neun Uhr ab suche ich mir die Damen aus – die ich bedienen will und von denen ich erwarten darf . . .«
»Was bin ich Ihnen schuldig?«
». . . daß Sie mehr in mir sehen als nur den Coiffeur, dem Sie Ihre Erfolge verdanken.«
»Was wollen Sie denn von mir?«
»Ich begreife durchaus, daß man einem Manne wie Herrn Marot nicht treu ist. . .«
»Was wissen Sie denn von meinem Mann?«
»Daß er einen Vollbart trägt – mehr brauche ich von ihm nicht zu wissen.«
»Sie haben uns also schon ausspioniert?«
»Es gehört zu meinem Beruf, zu wissen, wer im Hotel Excelsior Regina absteigt.«
»Ihr Interesse scheint aber bedeutend weiter zu gehen.«
»Ich leugne nicht, daß ich Sie erwartet habe – wenn auch nicht heute nacht.«
Frau Dorothée warf einen Fünfzigfrankschein auf den Tisch und stürzte zur Tür hinaus. – François sah ihr nach, schüttelte den Kopf und dachte: Da stimmt etwas nicht. So ein gutes Gewissen hat keine Frau, die im Excelsior Regina absteigt, daß sie sich leisten kann, mich vor den Kopf zu stoßen.
5
Marot trat aus der Koje. Rock und Weste hatte er bereits ausgezogen und die Hemdsärmel hochgeschlagen. Er kramte auf einem Tisch herum und schien nicht zu finden, was er suchte.
»Dorothée ist wirklich unordentlich«, sagte er.
»Um so mehr Ordnung herrscht bei mir«, erwiderte Harvey und nahm aus einem Lederfutteral, in dem man einen Feldstecher vermutete, zwei silberne Mixbecher heraus. Dann öffnete er eine Reiseapotheke von erstaunlichem Umfang, der er eine Reihe von Flaschen in verschiedener Größe entnahm.
»Ist Ihnen schlecht?« fragte Marot.
»Im Gegenteil. Aber ich bin als Amerikaner gewöhnt, nach dem Essen einen Cocktail zu trinken. Er goß aus Flaschen, auf deren Etikett Baldriantropfen, Rhabarber, Pepsin stand, je zwei Spritzer Orange, Bitters, Maraschino und Absinth, nahm aus einer Flasche, die angeblich Rhizinusöl enthielt, ein Viertel Gordon Gin und aus der Flasche, auf deren Etikett stand Choleratropfen, ein Viertel französischen Vermouth, rührte tüchtig um, goß das Ganze durch ein Sieb in zwei Cocktailgläser und tat schließlich noch Olive hinzu. – Das alles geschah mit einer gewissen Feierlichkeit.
»So also regt die Trockenlegung die Phantasie an«, sagte Marot.
»Wollen Sie kosten?«
Marot wehrte ab:
»Ich nicht. Aber meine Frau um so lieber.«
»Für Ihre Gattin tue ich noch ein paar Tropfen Cointreau hinzu – das gehört zwar nicht hinein, aber man schläft schnell und vorzüglich danach.«
»Arme Dorothée!«
»»Werden Sie nur nicht sentimental.«
»Sie bleibt lange. Finden Sie nicht auch?«
»Ich hätte ihr vielleicht doch nicht so viel von dem neuen Haarschnitt in New York erzählen sollen.«
»Jetzt werden Sie auch unruhig.«
»In so einem Riesenhotel – was steigt da nicht alles ab.«
»Wir hätten nicht zulassen sollen, daß sie allein geht.«
»Natürlich nicht. Wer als politischer Schriftsteller verhaßt ist wie Sie, muß doppelt vorsichtig sein.«
»Meine Gegner werden ihre Wut doch nicht an meiner Frau auslassen.«
»Politischen Fanatikern traue ich alles zu.«
»Sie haben eine goldige Art, einen zu beruhigen.«
»Wer sagt Ihnen, daß ich Sie beruhigen will?
– Im Gegenteil! Ich mache Ihnen Vorwürfe.« »Sie hätten Dorothée genau so gut hinbegleiten können wie ich.«
»Bin ich ihr Mann oder Sie?« Marot und der Amerikaner gingen unruhig im Zimmer umher. In entgegengesetzter Richtung.
– Mehrmals liefen sie so aneinander vorbei. Marot, der seinen Gürtel abgelegt hatte, rutschten dabei ständig die Hosen herunter, die er bei jeder Begegnung mit einer nervösen Bewegung ruckartig in die Höhe zog.
»Sie haben mir wirklich Furcht eingejagt«, stöhnte Marot, nahm die Hand seines Chefs, führte sie an seine Brust und sagte: »Fühlen Sie nur, wie mein Herz schlägt.«
»Und meins erst«, erwiderte Harvey und machte mit der Hand Marots dieselbe Bewegung.
»Meins schlägt stärker!« erklärte Marot, und Harvey erwiderte trotzig:
»Nein, meins!«
»Das können Sie doch gar nicht beurteilen.«
»So wenig wie Sie.«
»Überhaupt! wie kommt Ihr Herz dazu, meiner Frau wegen derart zu schlagen?«
»Seien Sie doch nicht kindisch, Marot.«
Sie liefen wieder um Zimmer umher.
Harvey sah nach der Uhr und sagte:
»Vor einer Stunde ist sie fort.«
Auch Marot zog jetzt die Uhr und sagte:
»Vor anderthalb!«
»Da man nicht annehmen kann, daß außer ihr noch jemand mitten in der Nacht auf die Idee kommt. . .«
»Die Sie ihr in den Kopf gesetzt haben.«
». . . einen Friseur aufzusuchen . . .«
»So muß etwas passiert sein«, vollendete Marot den Satz und stürzte zur Glocke.
»Was tun Sie?« rief Harvey und warf sich ihm in den Arm. Aber Marot hatte bereits viermal auf den Knopf gedrückt.
»Es muß doch etwas geschehen.«
»Sie bringen Ihre Frau in schlechten Ruf.«
»Ihr Leben ist mir wichtiger.«
»Sie sehen immer gleich Tote.«
»Wundert Sie das?« fragte Marot betont.
6
Frau Turel trat ins Zimmer, blieb an der Tür stehen und sagte:
»Die Herren hatten geläutet.«
»Sie sind die Hoteldetektivin?« fragte Marot – und Harvey fügte hinzu:
»Eine so junge Dame auf einem so schwierigen Posten?«
»Glauben Sie, daß das Alter die Klugheit gepachtet hat, Mister Harvey?«
»Sie kennen mich? – Übrigens, so alt, wie Sie glauben, bin ich nicht.«
»Ich mache mir darüber keine Gedanken.«
Marot wurde ungeduldig:
»Wollen Sie der Dame nicht sagen, weshalb wir sie haben rufen lassen?«
»Gewiß! Also Fräulein . . .«
»Turel ist mein Name.«
»Fräulein Turel! wir sind beruhigt das heißt mein Freund« – er stellte ihn vor – »Andrée Marot – ist in Sorge.«
»Sie ja auch.«
»Ich gebe es zu.«
»Darf ich endlich erfahren, worüber die Herren in Sorge sind?«
»Frau Marot hat ihren Mann vor über einer Stunde verlassen.«
»Im Bösen? Nach einem Streit? Aus Eifersucht? Nach einer Untreue? Mit Gepäck? Im Auto? Hatte sie Geld bei sich? Ja, so reden Sie doch! Einen Grund wird es ja wohl haben, wenn Ihre Gattin Sie mitten in der Nacht verläßt.«
»Hat es auch«, sagte Marot. »Mister Harvey hatte ihr eine neue amerikanische Frisur in den Kopf gesetzt.«
»Dann ist sie vermutlich zum Coiffeur gegangen.«
»Ausgezeichnet!« erwiderte Harvey nicht ohne Ironie. »Aber was uns beunruhigt: sie ist nicht wieder zurückgekehrt.«
»Eine gute Stunde für eine neue Frisur – das ist durchaus normal.« – Mister Harvey und Marot atmeten auf. »Im übrigen hätten Sie beim Hotelfriseur doch nur einmal anzuläuten brauchen.«
»Warum haben Sie dies nicht getan?« fragte Harvey – und Marot erwiderte:
»Weil ich so wenig daran gedacht habe wie Sie.«
»Sie gestatten«, sagte Frau Turel zu dem Amerikaner gewandt und nahm den Hörer ab.
»Selbstredend«, erwiderte Harvey, verbesserte sich schnell, wies auf Andrée und sagte: »Das heißt, das Zimmer gehört dem Ehepaar Marot.«
Frau Turel sprach bereits mit François Robert, der ihr den Hotelklatsch des Tages erzählen wollte. Die Turel wehrte ab:
»Alles das hat Zeit für später. Sagen Sie mir nur, ob vor einer Stunde eine Dame bei Ihnen war, der Sie eine neue amerikanische Frisur gemacht haben.«
»Nein!« erwiderte Robert so laut, daß die beiden Männer es hörten und verzweifelt riefen:
»Großer Gott!«
»Ich kopiere nicht!« fuhr der Coiffeur fort. »Meine Frisuren sind sämtlich eigene . . .«
»Schon gut«, fiel ihm die Turel ins Wort. »Es war aber eine Dame bei Ihnen?«
»Eine Dame? – nun ja – wie man es nimmt. Wie soll sie denn aussehen? Die Marquise von Poittiers war es jedenfalls nicht – und die Prinzessin von Wagram auch nicht.«
»Einen Augenblick«, erwiderte Frau Turel, wandte sich an Marot und sagte: »Bitte, beschreiben Sie mir Ihre Gattin.«
Marot erwiderte zerfahren:
»Sie ist. . . hübsch.«
»Schön ist sie!« verbesserte der Amerikaner.
»Was für eine Figur?«
»Figur?« wiederholte Marot und überlegte. »Sie ist nicht dick – aber auch nicht übermäßig schlank.«
»Sie hat eine auffallend gute Figur«, erklärte Harvey, »ist grazil, graziös und ' hat einen leichten schwebenden Gang.«
»Ja«, sagte Marot, »einen guten Gang hat sie – das ist mir auch schon aufgefallen.«
Frau Turel, die jedes Wort weitergab, fragte:
»Die Haarfarbe?«
»Wechselnd«, sagte Marot zögernd »das heißt. . .«
»Naturblond, voll, weich«, fiel ihm Harvey ins Wort – und Marot erwiderte:
»Woher wissen Sie, daß das Haar meiner Frau weich ist?«
»Weil ich Sie oft genug darum beneidet habe, wenn Sie ihr mit der Hand durchs Haar gefahren sind.«
Frau Turel, die sich inzwischen weiter mit Robert verständigt hatte, wandte sich wieder an Marot und fragte:
»Besondere Kennzeichen?«
»Keine!«
»Doch!« widersprach Harvey. »Einen entzückenden Leberfleck hinter dem linken Ohr.«
»Soo?« sagte Marot erstaunt – und François Robert, an den Frau Turel den Leberfleck weitergab, erwiderte in einem Ton, der niederträchtig klang und den Anschein erwecken sollte, als wüßte er um die geheimsten Dinge dieser Frau:
»Nicht nur hinter dem linken Ohr.«
Frau Turel hing den Hörer an, wandte sich an Marot und sagte:
»Ihre Gattin muß demnach jeden Augenblick hier sein.« – Dann beugte sie leicht den Kopf, sagte »Gute Nacht!« und verschwand. Als sie draußen war, sagte Harvey: »Sie kennen ja nicht mal Ihre eigene Frau.« »Sie scheinen sie dafür um so besser zu kennen«, erwiderte Marot, der die ganze Zeit über zu Frau Turels Belustigung mit seinen Hosen gekämpft hatte, ohne verhindern zu können, daß sie nun endgültig zu Boden fielen.
»Vielleicht, daß Sie das doch lieber da drin fortsetzen«, sagte der Amerikaner und wies auf die Koje – in der Marot dann auch verschwand, das Licht anknipste und sich, soweit man das durch den mattbeleuchteten Vorhang, der nicht mehr als die Umrisse erkennen ließ, verfolgen konnte, weiter auszog.
Mister Harvey setzte sich eben wieder an den Tisch, auf dem die Cocktails standen, als die Tür geöffnet wurde und Dorothée ins Zimmer trat.