Kitabı oku: «Wie Satan starb »
Dem Andenken meines Vaters
Erster Teil
I
Johann, der bis zum August 1914, wie seine Vorgänger im Hause Reinhart zweihundert Jahre lang, Jean gerufen wurde, saß im Anrichteraum und putzte Silber.
»Das Telephon!« rief er ins Nebenzimmer, und Lissi, die schmucke Kammerzofe, fuhr aus ihren Nachmittagsträumen auf und trippelte an den Apparat.
Sie nahm den Hörer ab, betrachtete sich im Spiegel, der gegenüber an der Wand hing, brachte mit der freien Hand ihr Haar in Ordnung und sagte verschlafen:
»Hier bei Frau von Reinhart!«
»Meine Schwester! Schnell meine Schwester!« forderte die Stimme eines Mannes.
»Wen wünschen Sie zu sprechen?« fragte Lissi gleichgültig und steckte sich ein Löckchen hoch.
»Zum Teufel ja! meine Schwester!!« tönte es ungehalten in dem Apparat, und Lissi erwiderte, ohne den Tonfall zu ändern:
»Wen, bitte, darf ich melden?«
»Kreuz Himmel! sind Sie noch immer am Apparat? So laufen Sie doch!«
»Die Frau Geheimrat schläft um diese Zeit.«
Inzwischen war Johann, ohne daß Lissi es bemerkte, aufgestanden und öffnete schon die Tür zu dem Zimmer, in dem Frau von Reinhart schlief. Ganz leise trat er ein, beugte den steifen Rücken behutsam über die Chaiselongue und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Gnädige Frau.« – Frau von Reinhart schlug die Augen auf. – »Herr Generalarzt Wolf.«
Frau von Reinhart richtete sich auf.
»Wo?« fragte sie lebhaft »Um diese Zeit?«
Johann half ihr auf und sagte:
»Am Apparat.«
Und während die alte Dame sich in großer Hast in Ordnung brachte, wiederholte sie:
»Um diese Zeit! – Da muß doch etwas passiert sein.«
»Frau Geheimrat müssen nicht immer gleich etwas Schlimmes denken.«
»Ich bitt’ Sie, Johann,« erwiderte sie erregt, »das tut mein Bruder doch nie! wo er weiß, ich schlafe.«
»Er ist eben sehr beschäftigt.«
»Jean! Jean!!« rief Frau von Reinhart plötzlich und sah ihn starr und erschreckt an.
»Was meinen Sie?« fragte Johanns Blick, und Frau Julie von Reinhart entfärbte sich, beugte sich nach vorn und sagte:
»Am Ende gar . . . mein Junge!«
Da erschrak auch Johann, reichte der alten Dame den Arm, riß die Türen auf und nahm dem schmucken Mädchen Lissi, das mit rotem Kopf eben wütend mit dem Fuß auftrat und in den Apparat rief:
»Nein! Ich wecke sie nicht!« den Hörer ab und reichte ihn der Frau Geheimrat.
»Schnell einen Stuhl!« rief er der verdutzten Lissi zu und stützte Frau Julie, die vor Zittern kaum den Hörer halten konnte.
Mit schwacher Stimme rief sie in den Apparat:
»Ja! . . . Martin . . . Ich bin’s!«
»Endlich!!« klang es erlöst. Und gleich darauf trafen sie wie ein elektrischer Schlag, der ihr in alle Glieder fuhr, die Worte: »Freu dich!«
Frau Julie sank auf den Stuhl. Aber sie ließ den Hörer nicht los, umpreßte ihn fest und sagte:
»Was denn?«
»Er ist da!«
»Martin!!« schrie Frau Julie laut und ließ den Hörer fallen. Der ganze Körper zuckte krampfhaft, leise schluchzende Töne stiegen aus ihrem Inneren auf, sie lächelte eine Zeitlang vor sich hin, dann sagte sie, die Augen weit aufgerissen:
»Junge! – Peter! mein Junge!« und verfiel, – sie, die fünfundsechzigjährige, beherrschte Frau, die in ihrem langen Leben niemals vor Dritten gezeigt hatte, was sie bewegte – schließlich in ein langanhaltendes befreiendes Lachen.
Johann hatte in den Apparat gerufen:
»Frau Geheimrat ist so bewegt – Sie hören es wohl, Herr Generalarzt? Vielleicht, daß Sie doch lieber selber kommen – und sie beruhigen.«
Aber Frau Julie, die noch immer hell wie ein junges Mädchen lachte, schüttelte den Kopf und sagte:
»Mich braucht niemand zu beruhigen und ich brauche keine Aerzte! – Nun nicht mehr!« – Und dann liefen ihr die dicken Tränen über die Wangen und sie schluchzte selig: »Peterle! mein Peter! – Ach Gott! wie ist das Leben schön! – Josef, mein lieber guter Mann! du mußt es wissen! ich bin nicht mehr allein! Er lebt! Unser Junge, unser Einziger! er lebt! er ist da! – Dir danke ich ja das große Glück, den Jungen! Guter, lieber Josef, daß du das nicht miterlebst, die Freude! – Zehnfach, hundertfach stärker als vor fünfundzwanzig Jahren, als ich ihn dir schenkte, bester Mann!«
Dann stand sie auf, lehnte sich an den alten siebzigjährigen Diener, der den Hörer noch immer in der Hand hielt und Frau Julie anstrahlte, und fragte:
»Was sagt er noch?«
»Er kommt. Er ist schon unterwegs.«
»Er kommt. Er ist schon unterwegs,« wiederholte Frau Julie, die es auf ihren Sohn bezog. »Nach vier Jahren, Jean. Denken Sie! und unser guter Herr wird ihn nicht sehen. – Es ist zuviel Glück; zuviel Glück für eine alte Frau – Jean, Jean, Sie guter Alter, was habe ich Sie gequält vier Jahre lang. Sie waren ja der Einzige, der wußte, wie mir ums Herz war. – Gewiß, auch meine Töchter haben mit mir gefühlt. Aber doch nicht so wie Sie! Die haben ihre Männer und ihre Kinder und ihre Pflichten. Und leben in einer Zeit, in der man anders denkt und fühlt. Aber ich und Sie, Jean, wir hatten ja nichts, seitdem der gute Herr tot ist, als nur ihn, den Einen. – Sagen Sie, Jean, haben Sie geglaubt, wenn Sie mich trösteten und mir immer wieder sagten: Sie werden sehen, Frau Geheimrat, der Peter kommt. Eines Tages, wenn Sie gar nicht daran denken, dann geht die Tür auf und er ist da – Hand aufs Herz, Jean, haben Sie das wirklich geglaubt?«
Jean schüttelte den Kopf.
»So recht geglaubt hab’ ich’s nicht. Aber ich hab’ mir gesagt: wie soll die Frau Geheimrat weiter leben ohne den Glauben?«
»Gut, daß Sie das taten. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre! Denken Sie, er wäre zurückgekommen, und ich war nicht mehr am Leben. Wo der Junge so an mir hängt! Nun aber soll er eine lebensfrohe Mutter wiederfinden.«
»Herr Generalarzt Wolf,« meldete der Diener.
»Willi!« rief Frau Julie, streckte die Arme aus und erhob sich, während der Medizinalrat noch in der Halle stand und dem Mädchen Helm und Säbel reichte.
Der alte Medizinalrat lächelte, beeilte sich, nickte seiner Schwester zu und sagte schon in der Tür: »Na also! Nun haben wir’n! endlich!«
Frau Julie schlang die Arme um seinen Hals und weinte. Der Alte drückte sie an sich.
»So Julie, Schwesterchen, da fühlt man mal wieder, wie man zusammengehört.«
Frau Julie drängten sich unzählige Fragen auf. Aber nach dem langen Leid wollte sie erst einmal ihr Glück genießen. Und da fragte sie ihren Bruder zunächst nicht, in welcher Verfassung ihr Sohn sei und wann sie ihn wohl wiedersehen werde. Sie wiederholte nur immer:
»Also er lebt! – ist da!«
Und als der Medizinalrat sie fragte:
»Ja, willst du denn nicht mehr von ihm wissen?« schüttelte sie den Kopf und sagte:
»Erst einmal laß mich das fassen, Martin.«
Und erst als sie eine Zeitlang ohne zu sprechen Hand in Hand neben ihrem Bruder, der wohl fühlte, was in ihr vorging, gesessen hatte, raffte sie sich plötzlich aus ihren glücklichen Gedanken auf, wandte sich zu ihm und sagte:
»So! und nun erzähle!«
Der Medizinalrat zog ein Telegramm hervor und sagte:
»Danach ist er morgen Nacht schon in Genf.«
»Dann war er womöglich schon jahrelang in Frankreich?« fragte Frau Julie.
»Nein! Denn das hätten wir erfahren. Er ist vermutlich mit einem der letzten Afrikatransporte nach Europa gekommen und wird nun durch irgendeinen glücklichen Zufall ausgetauscht, noch ehe wir etwas dazu unternommen haben.«
»Und . . .« fragte Frau Julie zögernd – »darüber, wie es ihm geht, steht nichts in dem Telegramm?«
»Doch! wenigstens indirekt. Denn er kommt via Luzern nach Engelberg; und da nur Gesunde dort hinauf kommen . . .«
»Martin!« unterbrach ihn Frau Julie und drückte seine Hand. »Er ist da! er lebt! und ist gesund!« – Wieder liefen ihre Tränen, und in ihrem Glück völlig unbeherrscht, stand sie auf, öffnete die Tür und rief strahlend: »Jean! so hören Sie doch!« —
Aber durch die offne Tür trat ihr ihr Schwiegersohn, der Landrat Dr. Moll, entgegen.
»Anton!« rief Frau Julie ihm zu. »Denk dir, er ist da! er lebt! und ist gesund!«
»Da siehst du, wie grundlos die ganzen Jahre über deine Sorgen waren,« erwiderte der, nahm ihre Hand und küßte sie.
»Es hätte ja doch auch anders sein können,« sagte Frau Julie.
»Gewiß! In solcher Zeit muß man aber auch dem Schlimmsten gefaßt ins Auge schaun.«
»Bedenke doch, Anton, wenn er ums Leben gekommen wäre!«
»Dann hättest du es wie Millionen andere Mütter tragen müssen.«
»Nein!« rief Frau Julie bestimmt. »Nie hätte ich das getragen.«
Der Landrat sah sie verdutzt an.
»Was willst du damit sagen?« fragte er.
»Daß ich an meinem Glück jetzt erst ermessen kann, wie groß mein Schmerz gewesen wäre. Das Herz hätte ausgesetzt. Verlaß dich drauf. Sein Tod wäre auch mein Tod gewesen.«
»Mama!« schalt der Landrat und wies auf Johann, der auf Frau Julies Ruf hin soeben ins Zimmer trat. »Erstens sind wir nicht allein. Und dann überhaupt.«
»Du vergißt, daß es ihr Einziger ist,« vermittelte der Medizinalrat.
»Und wenn ich sechs Söhne hätte! und ich stelle mir vor, ich verlöre einen: ich glaube, der Schmerz wäre der gleiche.«
»Wer fürs Vaterland stirbt, lebt ewig,« erklärte der Landrat und sah triumphierend erst den Medizinalrat und dann Frau Julie an.
»Du hast demnach freiwillig auf das ewige Leben verzichtet?« parierte der Medizinalrat.
»Ich habe einen Posten an der inneren Front, auf dem ich meinem König ebenso wertvolle Dienste leiste wie draußen.«
»Und wenn du nun deinen Sohn opfern solltest?« fragte Frau Julie . »Was dann?«
»Opfern?« wiederholte der Landrat und ließ sein Monokel, das er an einer dünnen Seidenschnur trug, aus dem Auge fallen.
»Nenne es, wie du willst: meinetwegen Pflicht.«
»Pflicht?« wiederholte der Landrat.
»Heilige Pflicht,« konzedierte ihm der Medizinalrat.
»Nun denn,« erwiderte der Landrat, stand auf, schloß den Knopf seines eng anliegenden Cutaways, stellte sich dicht vor die beiden, klemmte das Monokel wieder ein und sagte:
»Ich wäre stolz, wenn es meinem Sohne vergönnt wäre, auf dem Felde der Ehre zu fallen.«
»Anton!« rief Frau Julie entsetzt und hob wie zur Abwehr die Arme. »Du versündigst dich.«
»Die Zahl der Jahre macht das Glück nicht aus. Schließlich stirbt es sich zu achtzehn für seinen Kaiser leichter als zu siebzig an Arterienverkalkung.«
»Ja, setzen wir unsere Kinder denn in die Welt, damit sie sterben?« rief Frau Julie.
»Wie Gott will,« erwiderte der Landrat.
»Laß Gott aus dem Spiel!« forderte Frau Julie. »Er steht mir näher als dir.«
»Erlaub mal!« widersprach der Landrat gekränkt.
»Möglich, daß du ihn mehr im Munde führst. Das bringt dein Amt wohl mit sich. Jedenfalls: er hat nichts damit gemein, daß die Menschen sich umbringen, statt sich zu lieben.«
»Du vergißt, daß es für König und Vaterland geschieht,« erwiderte der Landrat.
»Zugegeben!« stimmte Frau Julie bei. »Jedenfalls aber nicht im Namen dessen, der die Liebe predigte.«
»In solchen Zeiten hat sich eben alles in den Dienst der Sache zu stellen.«
»Etwa auch die Religion?« fragte Frau Julie.
»Gewiß! Ausnahmslos alles! – Wem das nicht im Blute sitzt, dem muß es der Verstand sagen.«
»Nur, daß der Glaube nicht Sache des Verstandes, sondern eine Angelegenheit des Herzens ist.«
»Mit dem Herzen macht man keine Politik.«
»Eben darum soll man die Religion, die eine Herzenssache ist, auch nicht zum Werkzeug des Krieges machen.«
»Das meine ich auch,« stimmte der Medizinalrat seiner Schwester bei.
»All die spitzfindigen Definitionen«, fuhr Frau Julie fort, »durch die gar zu bereitwillige Geistliche zu beweisen suchen, daß Krieg und Religion wohl nebeneinander bestehen können, sind seelische Vergewaltigungen und Sünden wider den heiligen Geist. In Wahrheit kehren sie die Lehre Christi ins Gegenteil und besorgen die Geschäfte des Satan.«
»Das sind Schlagworte! Perversitäten,« erwiderte der Landrat.
Der Medizinalrat unterdrückte ein Lachen, und Frau Julie sagte:
»Mir scheint, daß die Religion zu keiner Zeit eine größere lohnendere Aufgabe zu erfüllen hatte als grade jetzt. Nicht als ein Werkzeug des Krieges, vielmehr neben dem Kriege, als die Trösterin! – Gelingt ihr das, vermag sie die Wunden zu schließen, und siegt schließlich über alle Schmerzen die große Liebe – dann hat sie die schwerste Prüfung bestanden, die ihr in all den Jahrhunderten auferlegt wurde. Dann hat sie das Böse endgültig besiegt.«
»Das sind alles Sentimentalitäten, mit denen man keine Kriege gewinnt,« sagte der Landrat.
»Aber sie überwindet!« belehrte ihn der Medizinalrat.
»Auf deutsch: Pazifismus,« sagte der Landrat und lachte spinös.
»Das ist nun zwar nicht gerade deutsch,« meinte Frau Julie. »Aber um über Krieg und Religion zu reden, steht mir heute nicht her Kopf.«
»Das will ich meinen!« rief Ilse von Zobel, die in diesem Augenblick ins Zimmer stürzte, sich ihrer Mutter an den Hals warf, sie an sich drückte und rief:
»Ich gratuliere!«
Ihr Mann, Kurt Freiherr von Zobel, Hilde Moll, die Frau des Landrats, und der Justizrat Willi Wolf, ein jüngerer Bruder Frau von Reinharts, folgten ihr.
»Ja! woher wißt ihr denn alle schon?« fragte Frau Julie, nickte allen zu und ließ sich von ihnen die Hand küssen.
»Du hast es uns doch mitteilen lassen,« erwiderte der Justizrat.
»Ich?« fragte Frau Julie erstaunt. »Ich war doch so benommen, daß ich gar keinen Gedanken hatte.« – Im selben Augenblick aber hatte sie auch schon die Lösung: zweifellos! Johann hatte in seiner Freude, ohne sie zu fragen, alle benachrichtigt.
»Ich bin so, wie ich war, von den Kindern fort und zu dir!« rief Hilde. Und der Landrat, der schon längst seine Frau scharf betrachtet hatte, sagte:
»Du siehst ja ganz zerzaust aus.«
»Das war unser Junge! Er hing sich an mich und wollte durchaus mit und Großmutti gratulieren.«
»Der geliebte Junge!« rief Frau Julie. »Er ähnelt dem Peter. Er hat soviel Gemüt.«
»Du solltest doch etwas mehr auf dein Aeußeres sehn,« sagte der Landrat, der jetzt dicht neben seiner Frau stand.
»Das bist du mir und meiner Stellung schuldig.«
Hilde stöhnte und sagte halblaut:
»Immer dasselbe.«
Und der Medizinalrat, der hinter dem Landrat stand, tat überrascht und sagte zu seinem Neffen:
»Schon offiziell?«
Der Landrat wandte sich zu ihm um, sah das spöttische Gesicht, verzog den Mund und sagte:
»Wozu?«
»Nun zum Staatsminister. Bei deinen Verbindungen! – Oder ist es etwa noch nicht so weit?«
»I was!« wehrte der Landrat ab und machte ein so verdutztes Gesicht, daß der Medizinalrat lachen mußte und sich abwandte.
»So laß ihn doch, Onkel!« sagte Ilse leise, und der Medizinalrat erwiderte:
»Ich kann mir nicht helfen, liebe Ilse, aber dieser Landrat liegt mir nun mal nicht.«
Ein Diener brachte eine Magnumflasche Champagner. Johann folgte mit Tablett und Gläsern.
»Es ist seit fünf Jahren die erste Flasche, die in meinem Hause getrunken wird,« sagte Frau Julie und ging auf Johann zu. Dann reichte sie jedem ein Glas.
»So habe ich dich seit Jahren nicht mehr gesehen,« sagte Ilse freudig.
»So wohl wie heut war mir auch nicht mehr ums Herz, seitdem unser guter Vater von uns ging,« erwiderte Frau Julie.
»Also denn«, sagte der Landrat, klemmte das Monokel fest und hob sein Glas – »ergreifen wir die Jelejenheit . . .«
»Was denn? was denn?« unterbrach ihn der Medizinalrat.
Der Landrat sah auf:
»Na, ich denke doch, es soll jefeiert werden.«
Hilde wies auf Frau Julie, die sich eben von dem Justizrat auf einen Stuhl helfen ließ.
Der Landrat sah’s, war ganz verdutzt, sperrte den Mund auf und sagte:
»Nanu?«
Dann ließ er den Arm sinken und schüttelte den Kopf. Im selben Augenblick stand Frau Julie, überstrahlt von Glück, auch schon auf dem Stuhl und begann:
»Kinder! geliebte Kinder! Also ihr wißt ja gar nicht, wie es in mir aussieht! Als junge Braut mag mir so ums Herz gewesen sein. Seitdem nie wieder. Und dabei hatte ich, solange euer Vater lebte, doch nur frohe Tage. – Aber heute, wo ich meinen Jungen wieder habe, da ist mir, als fühle ich, wie sich eures Vaters Arm um meine Schultern legt, wie er mich mit seinen guten blauen Augen anschaut, und, wie so oft früher, zu mir sagt: ›Na, Liebling, ist das Leben nicht schön?‹ – Nie ist mein Ja aus vollerem Herzen gekommen als heut. Das Leben ist schön! Erst seine schwersten Prüfungen lassen uns seinen Sinn erkennen – Kinder! wir haben ihn wieder, unsern Peter, unsern guten, dummen Jungen, den strahlenden Bengel!«
»Erlaub mal,« fiel ihr der Landrat ins Wort, »daß ich dich unterbreche. Aber n’ Königlich Preußischer Regierungsassessor is doch schließlich kein dummer Junge und strahlender Bengel!«
»Doch! doch! rief Frau Julie lebhaft. »So wie ich es meine, ist mein Peter ein strahlender Bengel und soll es bleiben! So ein echter deutscher Kindskopf! Ganz wie ihn sein Vater sich wünschte! Sonnig! offen und keines falschen Tones fähig! Gottlob, wir haben ihn wieder, unsern Peter. Laßt ihn leben, den Jungen! Hoch!«
»Hoch!« riefen alle, und wiederholten es erst einmal, dann ein zweitesmal.
Baron Zobel und der Medizinalrat, die peinlich auf Frau Julie acht gegeben hatten, halfen ihr jetzt vom Stuhl herunter.
»Ich glaube, Mama,« sagte Ilse, »wir bringen dich jetzt zu Bett, damit du erst einmal richtig zur Ruhe kommst.«
»Was für ein Gedanke!« widersprach Frau Julie. »Ich werde doch die schönsten Stunden meines Lebens nicht verschlafen. In mir ist seit fünf Jahren zum ersten Male alles wieder ganz ruhig. Die ganze Nacht über werde ich mit offenen Augen daliegen und an mein Glück denken. Nun, wo ich meinen Jungen wieder habe, ist mir um meinen Schlaf nicht mehr bange.«
»Wer wird zu ihm fahren?« fragte der Baron Zobel.
»Du meinst, wer mich begleiten wird,« erwiderte Frau Julie.
»Aber Mama!« widersprach Ilse, »du wirst doch bei den jetzigen Verhältnissen und um die Jahreszeit nicht in die Schweiz fahren?«
Auch Hilde und der Justizrat rieten ab.
Frau Julie lächelte:
»Und wenn es an das Ende der Welt ginge! Ihr würdet mich nicht zurückhalten.«
»Dann fahre ich mit dir!« erklärten gleichzeitig Ilse, Hilde und der Medizinalrat.
»Das braucht am Ende doch nicht so überstürzt zu werden,« meinte Baron Zobel; und der Justizrat stimmte ihm bei und sagte:
»Ich finde auch, darüber kann man doch in ein paar Tagen in aller Ruhe sprechen.«
»Wie denn?« fragte Frau Julie und glaubte, sie habe ihren Bruder falsch verstanden. »In ein paar Tagen? Du sagtest doch, Peter sei morgen Nacht schon in Genf,« wandte sie sich fragend an den Medizinalrat.
»Gewiß,« sagte Zobel. »Das stimmt schon.«
»Nun also!« erwiderte Frau Julie.
»Das bedingt doch aber nicht, daß ihr nun auch alle gleich am selben Tage dort sein müßt.«
»Bei einer fünfjährigen Trennung,« stimmte der Justizrat seinem Neffen, dem Baron Zobel, bei, »spielen ein paar Wochen mehr am Ende auch keine Rolle.«
»Kinder! ich will euch mal was sagen,« erklärte Frau Julie bestimmt. »Ich begreife durchaus euren Standpunkt, der auf den ersten Blick vielleicht sogar die Logik für sich hat. Aber, wo Gefühle sprechen, setzt bekanntlich die Logik aus. Ich fahre!! Und zwar so, daß ich möglichst noch vor Peter in Genf bin.«
»Das ist unmöglich,« erwiderte der Medizinalrat. »Du könntest ihm schon rein zeitlich nur bis Luzern entgegenfahren. Aber auch das erreichst du kaum, da du zur Reise einen Paß benötigst.«
»Den ich mir innerhalb einer Stunde verschaffen kann,« erwiderte Frau Julie. »Also nochmals, Kinder: ich reise! und von euch braucht mich niemand zu begleiten. Ich nehme mir meine Jungfer und meinen Diener mit. Ihr braucht meinetwegen also keinen Augenblick in Sorge zu sein.«
Hilde und Ilse suchten zu widersprechen. Aber Frau Julie ließ keinen Einwand gelten, und als sie schließlich sagte:
»Im übrigen ist es auch nur das Natürliche, daß Peter nach so langer Trennung zuerst einmal mit seiner Mutter allein ist,« erwiderte der Landrat:
»Jewiß! An sich schon. Luzern ist ja schließlich nicht Costarika. Man bleibt sich in erreichbarer Nähe. Und gegen das Tempo wäre auch nichts einzuwenden. Denn, daß wir den Jungen in die Finger bekommen ehe etwa fremde Einflüsse auf ihn einwirken, das scheint mir bei seiner Sensibilität . . .«
»Wie bitte?« unterbrach ihn frotzelnd der Medizinalrat. »Darf ein derart tollwütiger Vaterlandsparteiler . .«
»Erlaub’ mal!« setzte sich der Landrat zur Wehr.
»Verzeih, lieber Neffe! wenn ich nicht fürchten müßte, dein patriotisches Gefühl zu verletzen, so hätte ich natürlich gesagt: darf ein so fanatischer Sprachreiniger wie du Worte wie Sensibilität gebrauchen?«
Der Landrat stutzte und verbesserte schnell:
»Ae . . . ich . . . e . . . meine natürlich . . . na, wie sagt man gleich?«
»Empfindsamkeit,« sprang ihm seine Frau bei.
»Richtig!« erwiderte der Landrat. »Ganz recht! das wollte ich natürlich sagen: Empfindsamkeit. Also bei seiner Empfindsamkeit – obgleich das Wort wohl doch nicht ganz das trifft, was ich eigentlich sagen wollte . . .«
»Ah!« rief lachend der Medizinalrat.
»Also jedenfalls bei seiner Veranlagung, die sich in den Jahren gewiß noch stärker ausjeprägt hat, halte ich es für durchaus notwendig, daß ihn gleich bei seiner Ankunft einer von uns in die Finger bekommt.«
»Nun also,« sagte Frau Julie.
»Nur, ob du da die Geeignete bist – nimm’s mir nicht übel, Mama, – bei aller Hochachtung, aber das glaube ich nicht.«
»Wie? ich, seine Mutter, wäre nicht die Geeignete? – Ja, Anton, ist es denn möglich, daß du das im Ernste sagst?« fragte Frau Julie entsetzt.
»Du befindest dich begreiflicherweise jetzt in einem – na, sagen wir mal Freudenrausch – das soll kein Vorwurf sein. Als Mutter, da ist das am Ende sogar natürlich – wennjleich ich offen sagen muß, daß du dich nach meinem Jefühl – und ich bin auch nicht von Stein – als deutsche Mutter dennoch etwas gar zu hemmungslos deiner Freude hingibst.«
»Soll ich in meinem Hause etwa mit meinen Gefühlen für mein Kind zurückhalten?« fragte Frau Julie erregt.
»Verzeih!« entschuldigte sich der Landrat und griff nach Frau Julies Hand, um sie zu küssen. Sie zog sie zurück.
»Er meint es ja nicht so,« verteidigte ihn seine Frau.
»Ich fürchte einfach,« fuhr der Landrat fort, »daß du zu weich ihm gegenüber sein wirst.«
»Kann man zu einem Kinde, das fünf, vielleicht grauenvolle Jahre von seiner Heimat, seiner Mutter, von allem, was es liebte, getrennt war, überhaupt weich genug sein?« fragte Frau Julie.
»Es ist mir wahrhaftig äußerst peinlich, liebe Mama,« sagte der Landrat, »dir deinen Freudenbecher sozusagen verwässern zu müssen. Aber ich sehe weiter. Und da Erfahrungen dazu da sind, daß man aus ihnen lernt, so meine ich: jetzt ist die Jelegenheit, wie vielleicht kein zweitesmal mehr da, um Peter mit fester Hand anzupacken und zu den Grundsätzen zu bekehren, die in unseren Familien Gott sei Dank seit Jahrhunderten bestanden haben.«
»Laß ihn doch erst einmal zur Besinnung kommen,« fiel ihm der Medizinalrat ins Wort.
»Heute mehr denn je,« fuhr der Landrat fort, »ist ein fester Zusammenschluß notwendig.«
»Worin hätte sich Peter denn jemals gegen die Traditionen der Familie vergangen?« fragte Frau Julie erregt.
»Na, erlaub mal!« wandte sich der Landrat gegen seine Schwiegermutter. »Das reizt denn doch beinahe zu der unhöflichen Frage: hat dein Gedächtnis in den paar Jahren denn derart gelitten? – Was mich betrifft, so ist die ganze Zeit über kein Tag vergangen, an dem ich nicht dankbar mir ins Jewissen jerufen habe, welcher Jefahr wir alle damals mit knapper Not entjangen sind.«
»Du übertreibst,« rief Ilse; und Hilde, des Landrats Frau, stimmte ihrer Schwester bei und sagte:
»Maßlos übertreibst du!« – Und halblaut fügte sie hinzu: »Wie immer und in allem.«
»Das hängt von dem Maß des jesellschaftlichen Reinlichkeitsjefühls ab, mit dem man behaftet ist,« erwiderte der Landrat. »Für eine Familie, die auf sich hält, jibt’s nach meinem Empfinden nichts Aergeres als eine Deklassierung.«
»Was ist das?« fragte der Medizinalrat spöttisch, und zu seiner Schwester, die stark bewegt war, sagte er: »So rege dich doch darüber nicht auf, Julie!«
Der Landrat war sichtlich in Verlegenheit.
»Ah so!« sagte er. »Ich meinte . . . ä . . . ja, wie sagt man da?« – Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum —
»Na! . . . ä . . . Abgrund ist wohl nicht das richtige Wort dafür. Aber . . . ä. . .« – und dann stieß er mit großer Bestimmtheit hervor: »Niederjang! das trifft’s! Also, ich meine, daß wir ganz einfach die Pflicht haben gegen uns selbst, und heute mehr denn je, uns davor zu schützen, daß nicht durch den Leichtsinn irgendeines von uns – und dieser Eine is in diesem Falle erfahrungsjemäß kein anderer als mein verehrter Schwager Peter – den Niederjang unserer Familie – das heißt: Niederjang is wohl doch nicht das richtige Wort – jedenfalls, ihr wißt, was ich meine – kurz und gut: ich für meine Person habe keine Lust, meinen Namen und meine Karriere und die meiner Kinder den Aventüren . . .«
»Wie bitte?« zog ihn der Medizinalrat auf. »Karriere, Aventüren! Was sind das für Worte!«
»Ae,« verbesserte sich der Landrat schnell. »Ich wollte sagen, den Abenteuern – das heißt, es ist wohl doch mehr. Denn, wenn es das nur wäre – Jedenfalls: jetzt ist Zeit und Jelegenheit, dem ein für alle Male einen Riegel vorzuschieben.«
»Was willst du eigentlich?« fuhr ihn Frau Julie, die sich nicht länger beherrschen konnte, in einem Tone an, den niemand an ihr kannte.
»Sehr einfach!« erwiderte der Landrat. »Ich will vermeiden, daß wir durch die Unbeherrschtheiten deines Sohnes noch einmal wie vor fünf Jahren in die Gefahr eines Skandals kommen, der mir heute noch in den Gliedern liegt.«
Frau Julie schwieg erst und sah den Landrat erstaunt an. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte mit bewegter Stimme:
»Du nennst es einen Skandal, der dir heute noch in den Gliedern liegt! – Ich denke daran zurück als ein von uns begangenes Verbrechen, das mein Gewissen heute noch genau so quält wie vor fünf Jahren.«
»Wozu mußtest du nur davon anfangen?« schalt Hilde ihren Mann. »Und dann grad heut! wo wir die ganzen Jahre über mit Mama nicht davon gesprochen haben.«
»Hätten wir’s nur!« erwiderte Baron Zobel. »Hätten wir nur davon gesprochen! und zwar so oft wie möglich, damit sich in Mama nicht so unsinnige Ideen festgesetzt hätten.«
»Ich muß auch sagen,« stimmte der Justizrat bei, »daß das die Dinge denn doch etwas einseitig beurteilen heißt.«
»Sie auf den Kopf stellen heißt,« fiel ihm Zobel ins Wort.
Der Landrat unterdrückte, was ihm schwer genug fiel, die Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, und beschränkte sich darauf, sich in den Sessel zurückzulehnen, die Beine übereinander zu schlagen und zu sagen:
»Na! Dann kann das Theater ja wieder losgehen! Aber ich spiele nicht mehr mit. Ich nicht! Und meine Frau und meine Kinder auch nicht!«
»Ich weiß gar nicht, was du eigentlich willst,« sagte Hilde und wandte sich an ihren Mann. »Das liegt doch glücklich hinter uns.«
»Um morgen in neuer Auflage seine Wiederholung zu erleben.«
»Aber das ist ja doch gar nicht möglich,« erklärte Ilse, »das Mädchen ist doch tot.«
»Auf das System kommt es an! auf den Geist! ob der tot ist. Davon hängt es ab. Aber er lebt, wie ihr aus Mamas Worten ja eben gehört habt.«
»Da hat er recht,« bestätigte Zobel. »Was nützt es, daß diese Aenne starb, solange man befürchten muß, daß morgen eine Else oder Grete an ihre Stelle tritt. Vor allem, wo heutzutage eine derartige Hintertreppenchose unter Umständen keine interne Angelegenheit mehr bleibt, die man innerhalb seiner vier Wände mit ein paar braunen Lappen abmacht.«
»Aha!« mischte sich der Medizinalrat jetzt laut in die Unterhaltung. »Du befürchtest, daß, wenn ihr euch im Interesse des sogenannten guten Rufes der Familie wieder einmal veranlaßt sehen solltet, ein armes Mädchen in den Tod zu hetzen, daß das dann heute möglicherweise doch unangenehme Folgen für euch haben könnte.«
»Die Möglichkeit ist bei der heutigen Gefühlsrichtung durchaus nicht von der Hand zu weisen,« erwiderte Baron Zobel.
»Im übrigen,« stellte der Landrat seinen Onkel, »von uns hat sie meines Wissens keiner in den Tod gehetzt.«
»Sondern?« fragte der Medizinalrat.
»Sie hat, was für ein Mädchen ihrer jesellschaftlichen Stellung – wenngleich jesellschaftlich für ein Mädel ihres Standes kaum die richtige Bezeichnung sein dürfte – jedenfalls: Ehre, wem Ehre jebührt! und da muß ich trotz aller Mühen, die sie uns gemacht hat, sagen: sie hat für eine Pedellstochter – zumal für gewöhnlich derartigen Mädchen jedes Jefühl dafür abjeht – den Takt jehabt und sich jesagt: es jeht nich! eine Schreibmaschinenmamsell und ein königlich preußischer Regierungsassessor sind von der Vorsehung nu mal nich füreinander bestimmt. Im Anfang natürlich, da war se, wie alle, bockbeinig und klammerte sich an Peter fest. Schließlich dämmerte es ihr aber doch, sie lenkte ein, jab nach, entsagte freiwillig . . .«
». . . und brachte sich um,« ergänzte der Medizinalrat.
»Allerdings,« bestätigte der Landrat. »Sie sich. Nicht wir sie.«
Der Medizinalrat bekam einen roten Kopf, richtete sich auf und sagte laut:
»Erwürgt, erdrosselt, so zwischen euren Fingern, habt ihr sie freilich nicht.«
»Doch! doch!« rief laut Frau Julie und sprang auf, »bedacht und bewußt erwürgt und erdrosselt, gerade so, wie du es zeigst, so zwischen euern Fingern, habt ihr sie.«
Der Landrat riß den Mund auf und rief:
»Wa? . . . Wa? . . .« und vergaß, ihn wieder zuzumachen.
»Wer? wir?« rief Baron Zobel und trat vor Frau Julie hin. »Selbst bildlich gemeint ist dieser Vorwurf falsch und niederträchtig. Wir haben mit deinem Einverständnis Peters Abwesenheit in Südwest dazu benutzt, um ihn von seinem höchst seßhaften Verhältnis zu befreien, das er ohne uns vielleicht nie mehr losgeworden wäre.«
»Sehr richtig!« stimmte der Landrat bei, der sich wieder in der Gewalt hatte. »Weiter nischt!«
»Aber wie? wie habt ihr das gemacht?« rief Frau Julie.
»Zuerst auf deinen speziellen Wunsch mit Glacéhandschuhen,« sagte Zobel, und der Landrat fügte hinzu:
»Die wir uns dabei jehörig bedreckt haben.«
»Das habt ihr,« stimmte Frau Julie aus vollem Herzen bei.
»Ne, ne,« winkte der Landrat ab. »So nich, anders, liebe Mama. »So ’ne Loseisung, so ’n letzter Akt einer Liaison is doch schließlich kein Hofball! Das is für jewöhnlich ’n ziemlich schwieriger Handel, mit mehr oder wenijer rührselijem Einschlag.«
»Je kleiner die Abfindungssumme, um so größer die Rührung,« ergänzte Zobel.
»Sehr richtig,« stimmte der Landrat bei. »Hauptsache is bei so ’ner Szene die Tonart. Wenn man se natürlich wie du von vornherein statt auf Dur auf Moll stimmt, darf man sich nicht wundern, wenn’s ’n Kladderadatsch jibt.«