Kitabı oku: «Wie Satan starb », sayfa 3
»Na, geändert hat sich in den vier Jahren ja so manches,« erwiderte Margot, »und an sich ist die Frage auch nicht unberechtigt.«
»Ja, erlauben Sie mal, Verehrteste,« erwiderte der Landrat, »ich verstehe Sie jar nich . . .«
»Na, wenn ich nicht so taktvoll wäre, könnte ich Ihnen das sehr schnell verständlich machen.«
»Ich bitte ergebenst darum,« forderte er. »Wir sind nicht empfindlich.«
»Na, vor vier Jahren lagen die Dinge doch wohl wesentlich anders.«
»Inwiefern?« fragte Zobel, und Ilse meinte:
»Ihre Ehe hat doch mit dem Krieg nichts zu tun.«
»Indirekt schon,« erwiderte Margot. »Wie lagen denn die Verhältnisse, als Sie vor vier Jahren zu meinem ahnungslosen Vater kamen, um ihm klar zu machen, daß eine Ehe zwischen Peter und mir für beide Teile – na, wie soll ich sagen – also auf gut deutsch, Herr Landrat: eine aufgelegte Sache wäre.«
»Wie, Sie wissen?« fragte Ilse erstaunt.
»Alles weiß ich. Bei uns gibt es – das heißt gab es – denn jetzt, wo unsere Einverleibung in die Gesellschaft sozusagen beendet ist, hat sich auch bei uns manches gegen früher geändert – jedenfalls vor vier Jahren sagten wir uns noch alles. Na, und da weiß ich denn, was mir auch sonst wohl nicht eingegangen wäre, denn ich bin nicht auf den Kopf gefallen, daß auf Ihrer Seite der tadellose, gutaussehende junge Mann im Staatsdienst, mit der Aussicht auf eine große Karriere, aus alter, vornehmer Familie, die damals wenigstens noch keinen Schönheitsfehler aufwies, der ebenfalls gut aussehenden Tochter eines reich gewordenen Fabrikanten ohne Stammbaum und mit unverkennbar jüdischem Einschlag gegenüber steht.«
»Das sind Nebenerscheinungen rein zufälliger Art,« log der Landrat.
»Nein, nein, das sind die wesentlichen Voraussetzungen,« widersprach Margot. »Hier der gesellschaftliche Fundus, bei uns der materielle. Das ist ein ganz einfaches Exempel und geht von selbst auf. Und ist vor allem ein sichererer Wechsel auf die eheliche Glückseligkeit, als die himmelstürmende Liebe.«
»Na, also,« sagte der Landrat. »Dann stimmt’s ja.«
»Stimmte,« erwiderte Margot. »Durch diese Ehe wäre ich, und durch mich meine Familie, mit einem Schlage auf eine gesellschaftliche Stufe gerückt, auf die wir sonst vielleicht nie, im besten Falle aber in ein paar Jahrzehnten gerückt wären. Nun aber hat der Krieg mit seinem rasenden Tempo eine sogenannte neue Gesellschaft geschaffen, durch die wir mit einem Schlage aufgehört haben, Parvenüs zu sein. Neben denen bilden wir heute, da wir schon vor dem Kriege unser Haus, unsere Diener, unser Auto und unsere seidene Bettwäsche hatten – lachen Sie nicht! es ist so! – die sogenannte gute Gesellschaft.«
»Na, na, na,« widersprach der Landrat ironisch. »Die jesellschaftliche Distanz zwischen Ihnen und uns, die bleibt doch wohl auf alle Fälle bestehen.«
»Arg vermindert,« erwiderte Margot, »denn der Unterschied zwischen guter – das sind wir!« betonte sie übermütig, »und bester Gesellschaft, das sind Sie! ist allemal geringer, als der Unterschied zwischen Gesellschaft ganz allgemein und Parvenütum.«
»Das trifft doch nur sehr bedingt zu,« sagte der Landrat, da ihm nichts Besseres einfiel.
»Bedingt oder unbedingt,« erwiderte Margot. »Ich für meine Person pfeife auf den Kram. Mir genügt’s, wenn ich in großem Stile leben und mich gut kleiden kann. Schließlich läuft doch alles auf denselben Stumpfsinn hinaus. Aber für meine Eltern, das geben Sie zu, hat diese Ehe ein Teil ihres ursprünglichen Reizes eingebüßt.«
»Ich wiederhole,« sagte der Landrat, der sich inzwischen angestrengt hatte, scharf zu denken, »das ist nicht logisch. Für jeden, der sehen kann, bleibt Klasse Klasse und Minderwertiges minderwertig.«
»Es kommt nur darauf an, wie es äußerlich in die Erscheinung tritt,« erwiderte Margot, »und da hat sich das Bild eben verändert, wenn nicht gar ins Gegenteil gekehrt. Wenn Mama und Papa früher im Theater saßen, dann kamen sie vor Aerger, daß rings um sie überall Leute saßen, die ihnen gesellschaftlich unerreichbar blieben, überhaupt nie zu einem Genuß. Heute fühlen sie sich! Denn heute sind sie wer! Weil die meisten andern, die heute auf den teuren Plätzen sitzen, ganz einfach noch weniger sind als sie.«
»Das ist doch dann aber sozusagen Selbstbetrug,« meinte Ilse.
Margot sah den Landrat an und mußte lachen.
»Worüber lachen Sie?« fragte der Landrat.
»Mir kam nur so der Gedanke, ob am Ende nicht alles Selbstbetrug ist.«
Der Landrat bekam einen roten Kopf und sagte:
»Das soll doch nicht etwa heißen, daß jede jesellschaftliche Distanz, womöglich also auch die zwischen uns und dieser sojenannten neuen Jesellschaft – pfui Deibel! – jar nich vorhanden is und nur auf Selbstbetrug beruht? wo se doch nachweisbar existiert. Zum Fassen deutlich. Einfach da is, für jeden, der Augen hat und sehen will.«
»Hat Ihr sogenannter gesellschaftlicher Aufstieg denn auch eine Wandlung Ihrer Gefühle zur Folge gehabt?« fragte Zobel.
»Meine Gefühle?« wiederholte Margot. »Was für Gefühle?«
»Nun, zu Peter natürlich.«
»Zu Peter?« fragte sie erstaunt, »den ich kaum kenne?«
»Ja, wenn Sie ihn doch aber heiraten wollen?« sagte Ilse.
Margot lachte.
»An zuviel Gefühl wird die Ehe jedenfalls nicht scheitern.
Und daß eine Ehe je an zuviel Vernunft gescheitert wäre, ist mir jedenfalls noch nicht zu Ohren gekommen.«
»Sie für Ihre Person haben demnach Ihre Stellung zu dem Projekte nicht geändert?« fragte Zobel.
»Nein! Mir sagt es zu. Und wenn Peter äußerlich geblieben ist, wie er war, so gefällt er mir. Na, und wie er innerlich aussieht, erfahre ich ja doch erst in der Ehe.«
»Dann ist ja alles gut,« sagte Zobel.
»Ja! Aber Mama! Die ist nicht halb mehr so verrückt nach dieser Ehe wie vor vier Jahren.«
»Sie sagten doch vorhin, Ihre Frau Mutter warte ungeduldig darauf, mit uns in Verkehr zu treten,« warf Hilde ein.
»Ja, glauben Sie, daß das jahrelange vergebliche Warten sie grade günstig für das Projekt gestimmt hat?«
»Hätten wir das doch gewußt,« sagte Ilse.
»Mama gefällt sich augenblicklich nämlich in einer neuen Rolle.«
»Darf man wissen, welche das ist?« fragte Ilse.
»Gewiß! Es ist dieselbe, die Sie uns gegenüber spielen. Sie können sich vorstellen, was für ein Vergnügen ihr das bereitet.«
»Janz unbejreiflich,« meinte der Landrat gekränkt. »Ihre Frau Mutter sollte dieselbe Rolle spielen wie wir?«
»Ja, ja, Herr Landrat! Die Welt ist rund und dreht sich. – Wissen Sie, was Leder ist?«
»Leder?« wiederholte der Landrat. »Was für ’n Leder?«
»Einfach Leder! Ich kann Ihnen verraten, Herr Landrat, daß das heute keine schlechte Sache ist.«
»Ich denke,« erwiderte der Landrat, »daß Ihr Vater sein Vermöjen in Terrains jemacht hat?«
»Gewiß. Aber vielleicht kennen Sie Herrn Priester?«
»Priester?« wiederholte der Landrat. »Ne, wer soll’n das sein?«
»In Firma A. W. Priester, bis zum Jahre 1914 Schuhmachermeister.«
»Ich verstehe jar nich, wie ich zu so ’ner Bekanntschaft kommen sollte.«
»Es wäre doch möglich, zumal er nur Schuhe nach Maß anfertigte,« sagte sie und sah auf seine Schuhe – »aber nein, Sie tragen ja fertige Stiefel. Wie unschick! Ich hoffe, daß Peter das nicht auch tut. Sonst gewöhne ich’s ihm ab. Ich bin in solchen Dingen sehr peinlich. Und ein Mann mit schlechtem Schuhwerk ist für mich schon erledigt.«
»Ich kann Sie beruhigen,« sagte Ilse, während der Landrat seine Füße unter den Sessel schob, »mein Bruder gibt sehr viel auf gutes Aeußere.«
»Eben!« erwiderte Margot. »So hatte ich ihn denn auch in der Erinnerung. Ich hätte mich sonst nie auf diese Ehe eingelassen. Aber, um auf besagten Schuster zurückzukommen – du lieber Gott, es kann ja nicht jeder Landrat sein! – Also dieser Priester hat sich gleich bei Beginn des Krieges ein großes Lederlager angelegt und das ständig erweitert. Kurz und gut, der Mann soll heute seine vierzig Millionen haben. Denken Sie, Landrätchen!«
»Ja, was jeht das denn uns an?« fragte der Landrat.
»Unter Umständen viel,« erwiderte Margot. »Der Mann hat außer einer Frau nämlich auch einen erwachsenen Sohn.«
»Wa . .« stieß der Landrat hervor, »und der soll am Ende« – er wies auf Margot – »wie? am Ende jar an Stelle von Peter treten? Pfui Deibel!« – Dann lachte er laut auf und sagte: »Ergebensten Diener!« und wandte sich zur Tür.
»Hallo!« rief Margot. »Einen Augenblick, Herr Landrat, so lassen Sie mich doch ausreden. Dieser junge Mann hat studiert und ist Dr. med.«
»Die Laufbahn eines Schustersohnes interessiert mich nicht.«
»Aber meine Mama. Passen Sie auf, wie komisch. Dieser Schuster . . .«
»Scheußlich!« sagte der Landrat und wandte sich wieder um. »Da dieser . . . Mensch durch Sie in Beziehung zu meinem Schwager, dem königlich preußischen Regierungsassessor Dr. von Reinhart jebracht wird, so haben Sie jefälligst die Jüte und nennen ihn nicht immer Schuster.«
»Ja, aber wie soll ich ihn denn nennen?«
»Sie sagten doch, er handelt mit Leder. Dann sagen Sie wenigstens Lederfritze.«
»Gut, den Gefallen tu’ ich Ihnen gern, obschon er als einfacher Schuster tausendmal eher nach meinem Geschmack war als jetzt, wo er Millionär ist. Also denken Sie, wie entsetzlich komisch! Dieser Lederfritze ist plötzlich von einer krankhaften Sucht nach gesellschaftlichem Aufstieg besessen und hat den brennenden Ehrgeiz, in unsere Familie zu kommen! Mama, denken Sie doch, meine Mama, die gerade gelernt hat, sich auf dem Parkett zu bewegen ohne auszurutschen, die soll ihn zu sich emporziehen und gesellschaftlich lancieren.«
»Und Sie? Was haben Sie damit zu tun?« fragte Zobel.
»Ich soll seinen Sohn, dem er das großartigste Sanatorium der Welt erbauen will, heiraten! Nicht, himmlisch!«
»Ich finde es degoutant,« sagte Hilde und führte die Hand vor den Mund, »wenn man denkt, mit wem man da konkurriert.«
»Sieht man daran nicht besser als an allem andern, wie die Welt sich verkitscht hat?« fragte Margot, »wenn es so weit gekommen ist, daß meine Mama die Menschen gesellschaftlich zu sich emporzieht.«
»Und wieweit ist die Sache gediehen?« fragte Zobel.
»Ich wußte ja nicht, was hier wird,« sagte Margot. »Infolgedessen habe ich durch Launen und Ausflüchte die Entscheidung hingezogen. Lange wäre es nicht mehr gegangen.«
»Sie hätten es, falls Peter ausgeschieden wäre, wirklich über sich gebracht . . .?« fragte Zobel.
»Warum nicht? Ich denke mir so’n Leben im Sanatorium ganz amüsant. Denken Sie, mit wieviel Menschen man da in Berührung kommt. Wirklich Kranke dürften natürlich nicht aufgenommen werden. Das wäre für mich Bedingung. Aber leicht Nervöse. Gott, wer ist heute nicht nervös!«
»Ich!« sagte der Landrat.
»Das trifft natürlich nur auf die feiner Besaiteten zu,« erwiderte Margot, und der Landrat, der aus dem Ton die Ironie heraushörte, fragte:
»Was?«
»Ich meinte das nur ganz allgemein,« erwiderte Margot. »Und als Ort hatten wir Baden-Baden in Aussicht genommen. Da gibt’s zwar schon unzählige so’ner Nepplokale, aber das unsrige sollte alle andern in den Schatten stellen.«
»Und der Mensch?« fragte der Medizinalrat.
»Was für ’n Mensch?« erwiderte Margot.
»Der dazu gehört! den Sie heiraten sollen?«
»Ein allerliebster Kerl! Und verliebt, sage ich Ihnen. Also davon können Sie sich gar keinen Begriff machen, was der alles aufstellt, um aus mir das Jawort herauszubringen. – Aber er hat einen Fehler. Er hält sich nicht gut und hat einen schlechten Gang. Das kann ich auf den Tod nicht leiden. Und dann seine Hände! Nicht, daß er etwa einen Schusterdaumen hätte – Sie wissen doch: so!« – und dabei machte sie die entsprechende Bewegung, schüttelte sich und sagte: »Brr! – Das natürlich nicht. Aber die Hand gefällt mir nicht. Schade! Er ist sonst wirklich ein lieber Kerl! Na, und das Geld ist schließlich auch nicht zu verachten. Aber wie gesagt: alles in allem gefällt mir Peter doch besser! Wenigstens so, wie ich ihn in der Erinnerung habe. Auch alles Drum und Dran sagt mir mehr zu. Und da ich nun weiß: er lebt, ist da und ist gesund, so dränge ich Herrn Dr. med. Paul Priester morgen zu einer Erklärung und sage: Nein! – Auf das Gesicht bin ich gespannt. Er rechnet nämlich ganz bestimmt drauf, daß ich ja sage. Aber er wird sich damit eben abfinden, daß ich, wenn ich später von Peter mal ein paar Wochen getrennt sein will, sein Sanatorium nicht als seine Frau, sondern als sogenannte Patientin aufsuche. Das aber tue ich bestimmt! Das bin ich ihm sozusagen moralisch schuldig. Oder finden Sie nicht?« wandte sie sich an Ilse.
»Ich kann das schwer beurteilen,« sagte sie. »Auf alle Fälle sind Sie also entschlossen . . .«
»Peter zu heiraten,« beendete Margot den Satz und stand auf. »Ja! das bin ich!« wiederholte sie, streifte ihre weißen Schweden auf und trat vor Ilse und Hilde hin. »Ich verlasse mich nun also fest darauf.«
»Das dürfen Sie!« sagte der Landrat.
»Und was hätte nun zunächst zu geschehen?« fragte Margot.
»Meine Mama fährt morgen nach Luzern und nimmt Peter in Empfang.«
»Kann ich da nicht mit?« fragte sie lebhaft. »Himmlisch jetzt in Luzern. Im Hotel National! Das heißt, im des Alpes ist die Verpflegung besser. Aber da kann man nicht hin, weil es zu billig ist.«
»Meine Mama hat den Wunsch,« erwiderte Ilse, »erst mal ein paar Tage mit ihrem Sohne allein zu sein.«
»Das paßt mir ganz gut. Da habe ich ein paar Tage Zeit, meine Garderobe in Ordnung zu bringen. Und wie erfahre ich, wenn ich fahren soll?«
»Das werden wir Sie natürlich, sobald Mama ihn gesprochen hat, wissen lassen,« erwiderte Ilse. – »Und wenn es Ihnen recht ist, machen wir morgen vormittag Ihren Eltern unsere Aufwartung.«
»Natürlich! Das paßt sogar ganz gut und wird Mama über Dr. Priester hinwegtrösten.« Sie reichte allen die Hand, nickte ihnen noch einmal zu und sagte: »Also bis morgen.«
Die Herren verbeugten sich. Zobel begleitete sie bis zur Tür. Ilse und Hilde sagten:
»Auf Wiedersehen!«
An der Tür drehte sich Margot noch einmal um und rief:
»Und viele Grüße und eine glückliche Reise für Mama!«
Im ersten Augenblick stutzten alle. Dann sagten sie wie aus einem Munde:
»Danke!«
Als sie draußen war, herrschte zunächst wieder tiefes Schweigen. Alle saßen unbeweglich und starrten vor sich hin. Der Landrat lehnte sich in den Sessel zurück, ließ das Monokel aus dem Auge fallen, zündete sich eine Zigarette an und sagte halblaut:
»Na, ich danke!«
Nach einer Weile sagte Ilse:
»Ob das die richtige Frau für Peter ist?«
»Kaum,« erwiderte Hilde.
Der Medizinalrat machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte:
»Mir mißfällt sie nicht.«
Als Johann eine Viertelstunde später die Familie auf den Flur hinausbegleitete, sagte er:
»Recht leise, wenn ich bitten darf, die Frau Geheimrat schläft.«
Ohne ein Wort zu sprechen, zogen sie sich an und gingen auf den Zehen über die Terrasse die Treppe hinunter bis in den Hausflur, wo ihnen ein Diener leise die Haustür öffnete.
Johann irrte.
Wohl war das Licht gelöscht und die Zofe entlassen.
Aber Frau Julie von Reinhart schlief nicht. Verklärt und mit offenen Augen lag sie da und genoß das Glück, das, wenn auch von stiller Wehmut überschattet, doch stärker und innerlicher war als in jener Nacht, da sie ihrem Manne nach zwei Töchtern Peter, den Knaben, schenkte.
III
Peter war über Genf hinaus. Im ersten Dämmer fuhr der Zug den See entlang, der noch in tiefem Schlafe lag.
Peter saß abgezehrt und wachsbleich, mit tief in den breitumränderten Höhlen liegenden, matten Augen, stumm, gebeugt und in sich versunken.
Seine Kameraden standen und sahen mit staunenden Augen hinaus.
Nach endloser Fahrt durch Frankreich, hinter verrammelten Fenstern, nach einer nicht endenwollenden Nacht, der letzten als Gefangene in Feindesland, lag nun, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, schweigend in friedlichem Schlummer der See vor ihnen. Auch die Berge, an denen die letzten Schatten der Nacht hingen, schliefen noch.
Eine feierliche Rührung war über alle gekommen. Ohne daß jemand ein Zeichen gab, waren sie aufgestanden und hatten sich an die Fenster gedrängt. Mit dem scheuen Glanz in den erstaunten Augen von Kindern, die, halbbewußt, zum ersten Male am heiligen Abend zu dem strahlenden Baume emporschauen – also starrten die dem Leben Zurückgegebenen die Landschaft an. Eine Weile lang; dann rissen sie die Mützen von den Köpfen, faßten sich bei den Händen, einer hob den Kopf ein wenig, und aus vierzig Kehlen erscholl leidenschaftlich und bewegt der Gesang:
»Nun danket alle Gott!«
Lautes Schluchzen mischte sich in den Gesang; erst vereinzelt und beherrscht; dann wuchs es an und gab dem Klang der Stimmen eine Rührung, die ohnegleichen war.
Nur Peter saß in sich zusammengesunken auf seinem Platz und rührte sich nicht.
Ein junger Offizier, der gestern noch bleich wie der Tod ausgesehen, jetzt aber vor Freude rote Wangen hatte, trat an ihn heran, legte ihm die schwere Hand auf die Schulter und sagte mit weicher Stimme:
»Reinhart!«
Peter erschrak, fuhr auf und sah ihn an. In seinen Augen lag etwas Wehes, Müdes.
»Sieh dir das an!« sprach ihm der blonde Offizier zu.
»Du bist draußen! in der Schweiz! bist frei!«
Peter nickte teilnahmlos.
»Woran denkst du?« fragte der Blonde.
»An die da!« erwiderte Peter mit zitternder Stimme und wies mit der Hand in die entgegengesetzte Richtung, in der der Zug fuhr.
»Sie werden frei sein wie wir! – Sie werden alle heimbefördert.«
Peter schüttelte den Kopf.
»So reiß dich doch endlich aus den trüben Erinnerungen! Denk nicht immer zurück! Denke vorwärts!«
»Ich kann nicht.«
»Ja, was soll denn aus dir werden?« fragte der Blonde entsetzt.
»Nichts! – Ich möchte zurück.«
»Wohin willst du?«
»Nach Dahomey – zu den Meinen!«
»Reinhart! Mensch! weißt du, was du sprichst?«
»In das Lager von Abomey.«
»Die Deinen sind in der Heimat! Oder hast du deine Mutter und Geschwister vergessen?«
Peter schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein! – Aber ich gehöre zu denen da unten.«
»Willst du in die Hölle zurück?«
»Ich muß!«
»Wer zwingt dich?«
»Mein Gewissen. – Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie leiden – und ich sitze hier.«
»Denke an dich! und danke Gott, daß du den Bluthunden nicht erlegen bist.«
»Ein andrer wird an meiner Stelle leiden.«
»Rede dich nicht in solchen Wahnsinn hinein! Daß du hier sitzt, bedeutet ein Opfer weniger!«
»Zu spät,« erwiderte Peter.
»Wieso zu spät?« fragte der Blonde.
Peter heb mühsam seine Hände und streckte sie, die Flächen nach außen, vor ihm aus. Sie waren zersetzt.
»Das heilt schnell. Es gibt für dich von nun ab keinen Venére mehr, der dich mit dem Ochsenziemer mißhandelt, und keinen Leutnant Grabiani, der dir Daumenschrauben anlegt und dich von Schwarzen prügeln läßt.«
»Ich fühle nichts mehr« erwiderte Peter und hielt dem
Blonden noch immer die Flächen seiner Hände hin. »So sieht es auch in mir aus.«
Der fühlte mehr, was Peter meinte, als daß er ihn verstand.
»Du bist noch durcheinander. Das findet sich alles wieder. Nur widersetz dich nicht. Du mußt den Willen haben, Reinhart, gesund zu werden.«
Peter sprang auf, packte ihn bei den Armen, führte sein Gesicht dicht an seines, sah ihm fest in die Augen und sagte laut:
»Ich will nicht! Ich lebe nicht! Fühlst du denn nicht, wie sie leiden. Wie die Peitschenhiebe ihnen Fleisch und Seele zersetzen? Ich will zu ihnen! will zurück! will mitleiden! – Wo führt ihr mich hin? Ins Paradies? Unter Menschen? – Ich will zu den Tieren in die Hölle!« —
Ueber den Bergen des Sees färbte sich das graue Blau des Himmels in helles Rot. Auf zerfetztes Gewölk, das wie eine Herde schmutziger Schafe am Himmel klebte, fiel rosafarbenes Licht. Leichte Nebel, die leblos an den Bergen hingen, stiegen auf, verflüchteten sich und verschwanden. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bestrichen die Rücken der Berge, die strahlend erwachten, legten sich auf den dunklen See und glitzerten da wie helle Smaragde.
Wieder drängten alle zum Fenster und standen wie vor einem Wunder. Was da glühend hinter den Bergen aufkroch, empfanden sie wie den ersten heißen Gruß der Mutter Erde, der sie dem Gefühle nach jahrelang entrückt, nun zurückgegeben waren. Sie steckten die Arme zum Fenster hinaus, als wollten sie das Glück mit Händen fassen und den Gruß erwidern, der ihre Herzen wie das erste gütige Wort der fernen, langentbehrten Mutter traf.
Noch einmal wandte sich der blonde Husar an Peter, wies ihn auf die Landschaft draußen und sagte:
»Kann dich das nicht heilen?«
Peter starrte hinaus.
»Man soll den Menschen nicht aus seinem Schicksal reißen. Keiner weiß, warum er da ist. Jedes Menschenleben aber hat einen Zweck.«
»Raff dich auf! Erfüll ihn!«
»Er liegt dort!« erwiderte Peter und wies wieder hinter sich. Und dann fügte er mit starker Betonung hinzu: »Nur die Bestie hat ihn nicht.«
»Denk nicht an das Häßliche,« redete der blonde Husar auf ihn ein und wies auf die Sonne, die jetzt voll am Himmel stand. »Sieh das Schöne!«
»Wenn es einen Gott gibt . . .«
»Den gibt es!« beteuerte der sonst nicht gläubige Husar.
» . . und ich stehe vor dem Jüngsten Gericht und Gott fragt mich: ›Warum ließest du sie am Leben?‹ so antworte ich: ›Weil dein Gebot, Herr, lautet: du sollst nicht töten.«
Der blonde Husar faßte teilnahmvoll Peters Hand, die kalt und rauh war.
»An was denkst du?« fragte er Peter in fast bittendem Tone.
Peter erhob laut die Stimme:
»Aber die Bestie!‹ wird der Herr fragen. ›mein Gebot geht auf Menschen. Nicht auf wilde Tiere! Warum ließest du sie leben? wo du doch sahst, wie sie meine Menschen quälten!«
»Wir sind nicht da, um zu richten,« ging der blonde Husar auf Peters Reden ein. »Das steht nur Gott zu.«
»Leutnant Grabiani!« rief Peter im Kommandoton, »Sergeant Castelli! Sergeant Vergnaud! in die Knie! – Venére!!« schrie Peter, daß es dröhnte. »Venére, Tier! hörst du die Stimme des Herrn? Warum hast du Gottes Menschen zu Tode gefoltert? Satansknecht! – Aber nun bin ich da! Gesandt von Gott! Verstehst du, grausames Tier! Weißt du, was das bedeutet?« Er dämpfte die Stimme und lächelte fast beglückt. »Ziehe die Daumenschrauben nur an! Fester! fester!! Schlage mit deinem Ochsenziemer nur auf mich ein. Laß die Schwarzen mich schlagen! Ich fühl’ es nicht! Denn mit mir ist Gott! Du Höllenhund!«
Dann sank er wieder in sich zusammen, schloß die Augen und schlief ein.
Einer der Kameraden, ein Arzt, setzte sich zu ihm.
»Ist er wahnsinnig?« fragte der blonde Husar.
»Das möchte ich nicht unbedingt bejahen,« erwiderte der. »Die gewaltige Reaktion! Bei uns löst sie Glück und Freude aus. Bei ihm das Gegenteil!«
»Er hat auch mehr als wir gelitten,« sagte ein andrer.
»Gewiß! Von denen, die da unten in Gefangenschaft waren, ist wohl keiner geistig ganz intakt geblieben.«
»Er ist noch am Tage, bevor er aus Dahomey fort kam, von Castelli mit dem Ochsenziemer geschlagen und unter Würgen mit Faustschlägen ins Gesicht und auf den Kopf mißhandelt worden.«
»Das liegt doch aber Monate zurück,« sagte der blonde Husar.
»Gewiß,« erwiderte der Arzt, »so weit haben sie ihn für den Austausch in dem Lazarett schon hergerichtet, daß die äußeren Merkmale so ziemlich verschwunden sind. Darin sind sie als Volk, das auf Kultur hält, äußerst gewissenhaft! Aber was sich da innen festgesetzt hat – ob das je verschwindet, ist mir doch zweifelhaft. Zumal bei einem so empfindsamen Menschen wie es Reinhart ist.«
»Die arme Mutter!« klagte der blonde Husar.
»Ist es ihr Einziger?« fragte der Arzt und Kamerad.
»Ihr Einziger und ihr Alles.«
»Hoffen wir, daß er in anderer Umgebung und sachgemäßer Behandlung gesundet.«
»Als was würden Sie seine Krankheit bezeichnen?« fragte, immer flüsternd, der blonde Husar.
Der Arzt zog die Schultern hoch.
»Dafür gibt es noch keinen Namen. Es ist das Verdienst der Franzosen, die Welt um diese Krankheit bereichert zu haben. Tausende leiden darunter. Man sollte sie ›die französische Krankheit‹ nennen. Das Krankheitssystem ist allemal das gleiche: die verprügelte Seele!«
Der blonde Husar nickte zustimmend mit dem Kopf und sagte:
»Das ist eine treffende Bezeichnung. Gut, daß die meisten Menschen wenig Seele haben und die Behandlung nur körperlich empfinden.«
»Gewiß ist das gut,« stimmte der Arzt bei.
»Gibt es auch unter denen, die aus englischer Gefangenschaft kommen, viele derart Kranke?« fragte der blonde Husar.
»Nein! – Nur hier und da mal ein Fall, genau wie es natürlich auch in Deutschland vereinzelt solche Fälle gibt. – Es gibt eben überall rohe und feige Menschen, die ihr Mütchen an wehrlosen Gefangenen kühlen. Aber der Ruhm, die geistige und seelische Mißhandlung wehrloser Menschen sozusagen von Staats wegen zum System erhoben zu haben, gebührt den Franzosen.«
Obgleich sie leise sprachen und die lauten Stimmen der andern sie übertönten, schien es dem blonden Husaren doch, als ob Peter, der ihm gegenüber saß, ihrer Unterhaltung folgte.
Peter sah sie an, wieder mit jenem wehleidigen Lächeln, schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein!«
»Sie glauben es nicht?« fragte der Arzt, nur um etwas zu erwidern.
»Der Mensch und die Bestie!« sagte Peter. »Darin liegt alles! Das Tier in sich überwinden. Den Satan austreiben. Gott ähnlich werden. Darauf kommt alles an.«
»Da hast du völlig recht,« sagte der blonde Husar und war erstaunt über die klare Rede.
»Allein das Bibellesen macht es nicht,« fuhr Peter fort. »In die eignen Tiefen steigen. In seiner Seele lesen, darin Gottes Wort steht: Ueberwinde!«
»Was?« fragte der blonde Husar.
»Das Tier, das in uns allen steckt, überwinden, um Mensch zu werden.«
»Sie haben ganz recht, Reinhart,« sagte der Arzt. »Wenn alle es schon überwunden hätten, wenn es nicht, zurückgedrängt und verborgen, doch noch in uns allen steckte in irgendeiner Form, das Furchtbare, was wir jetzt erleben, wäre unmöglich!«
»Ob der Mensch es überhaupt überwinden kann?« fragte der blonde Husar.
Peter sah ihn groß an und sagte laut und bestimmt:
»Ja! – Komm mit mir zurück, Lux! Lerne es!«
»Wo?« fragte der.
»Unten! In Dahomey! In dem Gefangenenlager! Komm mit mir, Lux!« sagte er bittend.
»Du hast doch nicht etwa im Ernste den Gedanken, in diese Hölle zurückzukehren?«
»Ich muß!«
»Wer treibt dich?«
»Gott!«
»Er hat dich daraus erlöst. Versündige dich nicht! Sei ihm dankbar!«
Peter stand auf und zitternd am ganzen Körper hob er die Hand zum Schwur und gelobte:
»Ich kehre zurück! – Hörst du’s, Venére? Ich komme! Bestie! Quälgeist! Deine Stunde schlägt! Der Mensch kommt, der von Gott ist. Ich schwör’ es euch, ihr Lieben, daß ich komme und euch erlöse oder mit euch leide!«
»Sie haben recht,« sagte der Arzt. »Es ist Ihre Pflicht und die von uns allen, Mittel und Wege zu finden, um diese Unglücklichen zu befreien und ihre Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Kommen auch Sie mit mir!« rief Peter und sein Auge strahlte. »Helfen auch Sie mit!«
»Gewiß! Aber nicht heut und nicht morgen. Denn, nicht wahr, wir wollen die Armen doch erlösen. Und das muß, soll es gelingen, bedacht und gut bedacht sein. Damit, daß wir mit ihnen leiden, ist ihnen nicht geholfen. Aber Sie haben ganz recht. Es muß etwas geschehen, und zwar schnell.« Peter sah ihn groß an und sagte:
»Nicht jeder darf richten!«
»Gewiß nicht!« gestand ihm der Arzt zu. »Die zuständige Stelle muß nach Vernehmung glaubwürdiger Zeugen, wie Sie einer sind, die Erlösung der Opfer und die Bestrafung der Schuldigen fordern, und wenn es nötig wird, erzwingen.«
»Nein!« widersprach Peter. »Wer Uebel vergelten und gerecht richten will, muß an sich selbst das Uebel erfahren haben. Wie sollte er es sonst verstehen und gerecht sein.«
»Gut! gut!« stimmte der Arzt ihm bei. »Ueber alles das werden wir in Ruhe miteinander reden. Von jetzt an sind wir ja nur noch der Form nach Gefangene und niemand hindert uns mehr, unsere Gedanken auszusprechen. Sie werden sehen, Reinhart, wenn wir erst ein paar Tage weiter sind, dann werden wir ruhiger über alles denken.«
»Nur nicht denken!« drängte Peter. »Der Gedanke hat das Unglück über die Welt gebracht. Der Gedanke hat das Gefühl verdrängt, der erste Gedanke war die Lüge.« Er wandte sich vom Fenster ab, durch das die Sonne schien, führte die Hände vors Gesicht und sagte: »Wenn doch der Tag nicht wäre!«
»Ja, aber Reinhart, wie stellst du dir das denn vor?« Der Arzt gab dem blonden Husaren ein Zeichen, nicht weiter in Peter zu dringen, der ganz deutlich wieder Zeichen starker Erregung zeigte.
»Nichts stelle ich mir vor! Ich will nicht! Die Vorstellung ist die Ursache alles Uebels! Oder seht ihr denn noch immer nicht, was ihr damit angerichtet habt? Dank eurer falschen Vorstellungen und eurer Verstandesarbeit, auf die ihr euch soviel zugute haltet, ist ganz Europa heute ein Blutfetzen. Setzt endlich das Gefühl an die Stelle des Verstandes und ihr werdet morgen den ewigen Frieden haben!«
»Hören Sie, Doktor,« sagte der blonde Husar strahlend, »hören Sie, was Reinhart sagt: Er hat doch ganz recht!« Und in seiner Freude polterte er, ehe der Arzt es hindern konnte, darauflos. »Nicht wahr, Reinhart, du bist gar nicht krank, nur mit den Nerven ein wenig herunter. Gott sei dank! Dich reißen wir wieder hoch!«
Er sah nicht, wie Peters Gesicht sich wieder veränderte.
»Nein!« rief der laut. »Ihr reißt mich nicht wieder hoch. Wohin wollt ihr mich reißen? Etwa mit eurem Verstand gegen mein Gefühl angehen? Ich will nicht. Bin ich euch etwa gefolgt? Freiwillig? Man hat mich herausgerissen! Mit Keulen und Ochsenziemern – genau, wie man mich hineingetrieben hat. Ich wollte bleiben. Ich war durch. Hatte alles vergessen, was ich wußte. Dachte an nichts mehr. Litt nur, litt. Und aus meinem Leid wuchs das Gefühl, die Liebe zu den Menschen. Und ihr wollt mich in die Welt zurücktreiben? Ihr meint es gut, aber ich will nicht! Ich habe eine Mission! eine große! heilige! von der ihr nichts wißt. Die ich fühle! Ich bin weder ein Heiliger, noch ein Narr, noch gar ein Kranker. Ich bin so gesund wie ihr,« sagte er und lächelte wehleidig.
Er zog mit einem festen Ruck die Gardine vor das Fenster. Der Arzt hielt einen Kameraden, der ihn daran hindern wollte, zurück. Er schloß die Augen wieder und lehnte sich zurück, und an seinem schmerzverzerrten Mund erkannte der Arzt, daß er sich wieder in Dahomey, bei den Seinen, fühlte.
Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Der Aufsicht führende Schweizer Offizier verkündete:
»Meine Herren! noch fünf Minuten!«
»Was ist in fünf Minuten?« fragte der Arzt.
»Luzern!« erwiderte der Schweizer und schlug hinter sich die Türe zu.
Alles sprang auf. Mit dem Gefühl, daß ein Wunsch, den man jahrelang Tag für Tag, Stunde um Stunde heiß ersehnt hatte, sich nun erfüllen sollte, umfaßte man in Gedanken schnell noch einmal alles, was hinter einem lag und nun plötzlich in endlose Ferne gerückt schien. Als lägen zwischen gestern und heute Jahre, so stark überschattete die Freude alles Vergangene, das nur noch wie ein Bild aus lang vergangener Zeit in der Erinnerung stand.