Kitabı oku: «Kinder des Zufalls», sayfa 2

Yazı tipi:

2 Freiheit

Collin Goodwin wuchs in Long Beach auf, bei seinem Vater und der halbverrückten Polin. Die halbverrückte Polin war Collins Großmutter. Der Junge hatte nie geglaubt, dass dieses seltsame Wesen tatsächlich mit ihm verwandt war.

Tagsüber arbeitete der Vater in einer Werkstatt. Er war Automechaniker. Nach der Arbeit kam er nach Hause, aß, was die Polin gekocht hatte, und dann verschwand er wieder. Die Wohnung schloss er von außen ab. »Zu eurer Sicherheit«, sagte Donald Miroslaw Goodwin zu Collin und der Großmutter. »Damit euch niemand klaut.«

Meist kam er erst im Morgengrauen zurück, schlief ein Stündchen auf der Couch, bis der Wecker klingelte. Ein blechernes Ungetüm, das ein Eigenleben zu führen schien. An manchen Tagen schellte der Wecker so laut, dass ganz Long Beach es hören musste, an anderen Tagen summte er nur leise, als wollte er niemanden stören.

Die polnische Großmutter weinte viel. Ihr Englisch beschränkte sich auf wenige Wörter. Du. Da. Ja. Nein. Essen. Ich Pole. Du Pole.

Sie roch ranzig. Vor allem aus dem Mund.

Collin sprach kein Polnisch und sein Vater nur gebrochen. Als Kind hatte Donald die Sprache seiner Mutter beherrscht, aber dann wurde Agnieszka halbverrückt und redete nur noch Unsinn. Die polnischen Unterhaltungen verschwanden aus dem Hause Goodwin.

Niemand konnte oder wollte Collin sagen, wo seine Mutter war. »Sie ist weg«, war die einzige Antwort, die er jemals bekommen hatte. Obwohl er keine Erinnerung an seine Mutter hatte, fehlte sie ihm. Nicht die Frau, die ihn rausgepresst hatte. Eine Mutter zu haben, das fehlte ihm. Selbst eine Stiefmutter hätte genügt. Jemand, der nachts bei ihm blieb, ihn nicht mit der Verrückten alleinließ.

Der Vater verbot Collin, die Großmutter verrückt zu nennen. »Halbverrückt. Sie ist halbverrückt, und das ist ein gewaltiger Unterschied.«

Jedes Mal, wenn der Vater die Tür abschloss, setzte Collins Herz für einen Moment aus. Warum musste er sie einsperren? Wer würde sie schon klauen? Eine verrückte Polin und ein Kind, damit kann doch keiner etwas anfangen.

Eines Nachts, als Collin schon fast eingeschlafen war, schrie die Großmutter. Es war nicht das übliche Weinen, an das er sich einigermaßen gewöhnt hatte. Er hielt den Atem an, bewegte sich nicht, hoffte, dass es aufhören würde. Aber die Alte schrie und schrie und schrie. Er schlich ins Wohnzimmer. Wie ein Tier wälzte die Großmutter sich auf dem Boden.

»Sei still«, sagte Collin. »Sei doch bitte still.«

Vorsichtig berührte er ihre Schulter. Sie verstummte. Dann sah sie ihn an. »Du Pole«, sagte sie. »Du Pole. Ich Pole. Du Pole.«

Sie richtete sich auf. Packte ihn bei den Armen und schüttelte ihn, mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut hätte. Mühsam machte er sich los. Lief zur Tür. Er hatte Angst. Wollte raus. Doch die Tür, die verdammte Tür war abgeschlossen.

Die Großmutter stand hinter ihm. »Du Pole«, brüllte sie. Er dachte, sein Trommelfell würde zerspringen. Er stieß sie zurück und rannte in sein Zimmer. Schob einen Stuhl unter die Klinke und öffnete das Fenster. Sie wohnten im dritten Stock. Es war zu hoch.

Rittlings setzte er sich auf das Fensterbrett. Ein Bein baumelte im Freien. Zumindest ein Bein war frei.

Am nächsten Tag erzählte er seinem Vater, was passiert war.

»Du übertreibst«, sagte er.

»Sie hat mich gepackt. Sie ist verrückt.«

»Halbverrückt. Agnieszka ist halbverrückt. Und was soll ich machen? Sie erschießen? Du bist doch ein Junge, ein starker Junge. Willst du mir etwa erzählen, dass der alte Lappen da«, er deutete auf die Großmutter, »dir Angst macht?«

»Bitte, Papa, schließ nicht mehr ab.«

»Damit euch jemand klaut, ja? Willst du das? Ja?«

»Papa. Bitte …«

»Hör auf mit der Heulerei.«

»Niemand klaut Leute einfach aus der Wohnung. Und schon gar nicht …«

»Schluss jetzt«, sagte Donald.

Collin wusste nicht, dass dem Vater schon einmal jemand aus der Wohnung geklaut worden war. Eines Abends war ein Mann gekommen und hatte Zoe Goodwin mitgenommen. Dass Zoe freiwillig gegangen und der Mann ihr Geliebter gewesen war, hatte Donald verdrängt. Ebenso die Tatsache, dass Zoe ihn schon lange nicht mehr geliebt, ihre Schwiegermutter immer gehasst und das Kind niemals gewollt hatte. Zoe wurde geklaut – das war Donalds Wahrheit. Er ahnte, wie zerbrechlich seine Wahrheit war, deshalb behielt er sie lieber für sich.

Seit jenem Abend saß Collin jede Nacht auf dem Fensterbrett. Ein Bein in der Freiheit. Erst wenn der Vater zurück war, legte sich Collin in sein Bett. Der Schlaf verschwand aus den Nächten und flüchtete in die Tage. Aus dem recht guten Schüler wurde ein ziemlich schlechter. Im Unterricht konnte Collin sich nicht konzentrieren, manchmal fielen seine Augen einfach zu.

Seit ein paar Monaten wohnte Collin in Ozzys Garage, die er sich mit einem alten Crosley Super Station Wagon teilte. Das taubengraue Gefährt war sein erstes eigenes Auto.

Nachdem er die Highschool abgebrochen hatte, war er von Long Beach nach Los Angeles gezogen, hatte in den Küchen sämtlicher Diners gearbeitet.

Ein eigenes Zuhause konnte er sich nicht leisten. Meist war er in den vier Wänden fremder Menschen untergekommen. Manchmal wurden aus den Fremden fast Freunde. Meistens nicht.

Ozzys Garage empfand Collin als Aufstieg. Er, sein Auto, ein Bett. Das war nicht viel und auch nicht sehr schön, für Collin aber war es Freiheit.

Er hatte Ozzy im Whisky kennengelernt. Ein paar Stunden vorher hatte Mary Collin verkündet, dass er ausziehen müsse.

»Ich werde heiraten«, hatte sie gesagt.

»Heiraten? Wen?«

»Er heißt Bill.«

»Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast.«

»Ist ziemlich frisch.«

»Und ihr heiratet?«

»Ja. Er hat noch nicht gefragt, aber ich habe da so ein Gefühl, und es wäre komisch, wenn … na ja, wenn hier ein anderer Mann lebt. Ich will nicht, dass er denkt … Tut mir leid, aber du musst ausziehen.«

Collin hatte sich bei Mary beinahe wohl gefühlt. Die Miete war günstig, das Apartment hübsch eingerichtet. Mary wusch seine Wäsche, ohne ihm etwas dafür zu berechnen, und abends wartete eine warme Mahlzeit auf ihn. Eigentlich ideal, wären da nicht Marys Annäherungsversuche gewesen. Hände, Knie, die Collin wie zufällig berührten. Mary war groß und dick. Ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen mit zu engen Kleidern am Leib und zu viel Make-up im Gesicht.

Aber es war nicht ihr Äußeres, das Collin abschreckte, es war die Verzweiflung, die in ihren Augen flackerte. Ein Fünkchen dieser Verzweiflung wohnte auch in ihm. Manchmal, wenn Marys graue Augen ihn zu lange ansahen, glaubte er, in einen Zerrspiegel zu schauen. Das Gefühl, das er fürchtete, das er im Schach zu halten versuchte, wuchs unter ihrem Blick, breitete sich in ihm aus.

Ähnliche Augen wie Marys gab es zu Tausenden in Los Angeles. Menschen mit übergroßen Träumen, Menschen mit begrabenen Träumen und Menschen, die niemals Träume gehabt hatten.

Während Collin sich überlegte, wie es weitergehen würde, lief er ziellos durch die Nacht. Irgendwann landete er im Whisky a Go Go am Sunset Boulevard.

Wunderschöne Mädchen in kurzen Röcken tanzten ein paar Meter über dem Boden in Käfigen. Der ganze Raum war in Bewegung.

Collin drängte sich durch die Menge. Ein Bier in der Hand, lehnte er an der Wand. Etwas schien alle hier miteinander zu verbinden. Als wollten ihre bebenden Körper gemeinsam denselben Teufel austreiben. Nur Collin gehörte nicht dazu, seine Glieder waren steif. Und dann stand Ozzy vor ihm.

»Die da«, sagte er und deutete auf das hübscheste Mädchen, »war mal meine Braut.« Er lachte. »Verdammte Schlampe«, schrie er. Die Musik übertönte seine Worte. Außer Collin konnte niemand ihn hören.

»Komm, lass uns woanders hingehen. Ich kann es nicht ertragen. Verdammte Schlampe«, brüllte er noch einmal, das Mädchen fixierend. Dann wandte er sich Collin zu. »Wie heißt du, mein Freund?«

»Collin.«

»Komm, Collin, raus hier. Geht alles auf mich. Alles, was wir trinken, alles, was wir rauchen.«

Er legte seinen Arm um Collins Schultern und zog ihn nach draußen. »Wo steht dein Auto?«

»Ich hab keins, bin zu Fuß.«

»Kein Auto? Das müssen wir ändern. Ich hab zwei. Ich schenk dir eins.«

Ozzy war laut. Ein paar Leute drehten sich nach ihnen um. »Verpisst euch«, brüllte er.

Obwohl der bullige Mann mit den orangefarbenen Haaren und dem heftigen Temperament Collin nicht ganz geheuer war, stieg er in den Plymouth Fury.

»Was ist dein Problem? Mann, du siehst aus wie einer, der Probleme hat. Was ist es? Weiber? Kohle? Army? Du bist doch kein verfluchter Scheißhippie, oder? Freie Liebe. Wir sind alle gleich. Glaubst du den ganzen Scheiß?«

»Nein«, antwortete Collin und betete, dass Ozzy auf die Straße schauen würde, statt ihn weiter anzustarren.

»Nein, was? Keine Probleme? Kannst du jemand anderem erzählen.«

»Doch. Klar hab ich Probleme. Ich meine, nein, ich glaube nicht an das ganze Zeug von freier Liebe und so. Ich …«

Ozzy lachte. »Los, erzähl! Was läuft falsch? Ozzy hört dir zu.«

Collin zögerte einen Moment. Doch während Ozzy viel zu schnell Richtung Hollywood fuhr, begann Collin zu reden, erzählte von Mary, von seinem Job, mit dem er sich gerade eben über Wasser halten konnte. Er sprach – und das hatte er noch nie getan – über die Verzweiflung. Dieses embryogroße Ding, das in ihm hauste. Das es kleinzuhalten galt. Davon, dass er Angst hatte, was geschehen würde, wenn er es nicht beherrschen könnte.

»Mann«, sagte Ozzy, »du wohnst bei ’ner fetten Schlampe, die dich heiß findet. Und weil du sie nicht bumsen willst, schmeißt sie dich jetzt raus. So was passiert. Du bist ein kleiner Schisser. Du musst dich mal ein bisschen lockermachen. Jetzt hast du Ozzy. Ozzy wird dir aus der Scheiße helfen.«

Von seinem Bungalow aus konnte man den Hollywood Freeway sehen. Neben dem Bungalow war eine Garage. Ozzy öffnete das Tor.

»Das ist dein neues Zuhause. Gibt sogar ein Klo und ein Waschbecken. Duschen kannst du im Haus. Und das …«, er deutete auf den Crosley Super Station Wagon, »… das ist dein neues Auto. Fährt leider nicht, muss man ein bisschen Arbeit reinstecken.«

Collin fühlte sich wie in einem Traum. Ein Zuhause, das er sich mit niemandem teilen musste. Ein Auto, ein eigenes Auto.

»Was … was willst du dafür?«, fragte er vorsichtig. Die meisten Träume konnte er sich nicht leisten.

»Für was?«

»Das Auto. Die Garage.«

»Hast du was auf den Ohren? Ich hab doch gesagt, ich schenk dir das Auto? Und die Garage? Ist bloß ’ne verdammte Garage. Bleib, solange du willst.«

Warum?, überlegte Collin, wagte aber nicht, es auszusprechen. Ozzy könnte dämmern, dass er gar keinen Grund hatte, Collin ein Auto zu schenken und ihn in seiner Garage wohnen zu lassen.

Mary weinte beim Abschied am nächsten Abend. »Es hätte auch alles anders kommen können. Du und ich …«

»Ich wünsch dir viel Glück«, antwortete Collin und stieg in Ozzys Plymouth Fury. Mary lehnte am Türrahmen und winkte. Tränen, so viele Tränen rannen über ihre Wangen.

»Kein Wunder, dass du sie nicht pimpern willst«, sagte Ozzy. »Die sieht aus wie ein Schrank.«

»Ein Schrank?«

»Ja, Mann, ein Schrank. Und wer will schon einen Schrank pimpern.«

Als sie Collins Matratze und seinen spärlichen Besitz in der Garage verstaut hatten, klopfte Ozzy ihm auf die Schulter.

»Und jetzt fragst du dich wahrscheinlich, was ich dafür haben will.«

»Was?«

»Na ja, die Garage, das Auto.«

»Ich … ich … also …«

»Ja?«

»Ich dachte … Gestern hast du … Ich meine … Okay, was willst du dafür haben?«

»Mann, scheiß dich nicht an, mein Freund. War ’n Witz. Ist geschenkt. Hab ich doch gesagt. Glaubst du, Ozzy lügt?«

In der Nacht öffnete Collin das Tor. Er hockte auf dem Boden, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt, das linke Bein in der Freiheit. Das Leben ist gut, dachte er und blickte sich um. Er wollte es sich genau einprägen:

Das taubengraue Auto.

Ein Tor, das er immer öffnen konnte.

Der Mond hinter einer dünnen Wolkenschicht.

Eine Spinne, die über den Beton krabbelte.

Die Lichter der Stadt.

Das ewige Summen des Hollywood Freeway.

Ein vollkommener Augenblick.

3 Offenbarung

Ozzy besorgte Collin einen Job als Nachtportier in einem Hotel in Downtown. Die Art-Deco-Lobby war prächtig. Marmorsäulen und Skulpturen. Doch das vierzehnstöckige Hotel war nicht für seine schöne Lobby bekannt, sondern für zwei Selbstmorde, einen Mord und einen ungeklärten Todesfall. Es gab Zimmer mit Bad und Zimmer ohne Bad. Es gab Gäste, die auf der Durchreise waren, und Gäste, die auf unbestimmte Zeit hier wohnten. Ihre Barschaft reichte für ein paar Nächte oder mehrere Wochen. Das Hotel war ihre Zuflucht. Manchmal ihr letzter Halt. In den Augen vieler brannte die Verzweiflung.

Der steinerne Tresen der Rezeption und sein neues Leben schafften Distanz zwischen Collin und ihnen. Er fühlte sich gewappnet.

Der Station Wagon war repariert, und da Collin keine Miete zahlte, hatte er mehr Geld als je zuvor. Er konnte den Verzweifelten furchtlos ins Gesicht schauen. Vielleicht, so dachte er, hatte dieses ungute Gefühl ihn ganz verlassen.

Manche Gäste erzählten Collin ihre Geschichte. Jungs aus Idaho oder Oklahoma, die zum Film wollten. Geschäftsleute auf der Flucht vor Gläubigern. Spieler, die zu oft auf die falsche Zahl, auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Frauen und Männer mit gebrochenen Herzen.

Und dann, eines Nachts, stand sie vor ihm. Nur in ein dunkelrotes Negligé gehüllt. Entschlossenheit in ihren dunkelblau umrandeten Pupillen.

»Im Zimmer neben mir weint jemand. Seit Stunden«, sagte sie.

»Das … das tut mir leid.« Die blonde Frau hatte einen seltsamen Akzent.

»Ich kann nicht schlafen. Es ist laut. Unnatürlich laut. Können Sie etwas dagegen tun?«

Collin lehnte sich weit über den Tresen, um ihr näher zu sein. Immer wieder würde er Charlotte von ihrer ersten Begegnung erzählen. »Du hattest nur ein Nachthemd an, und du sahst so … so vollkommen aus. Alles in meinem Kopf begann zu schwirren.«

»Ich habe diese Wirkung auf Männer«, sagte sie dann lachend.

»Möchten Sie ein anderes Zimmer?«, fragte Collin und versuchte, sie nicht anzustarren.

Sie schüttelte den Kopf. »Können Sie nicht mit diesem Menschen reden? Können Sie ihm nicht sagen, dass er ruhig sein soll?«

Das Weinen war schon auf dem Gang zu hören. Ein Wehklagen, das in den Ohren schmerzte.

Als Collin an der Tür klopfte, stand die blonde Frau hinter ihm. Er spürte ihre Wärme.

»Klopfen Sie fester.«

Er gehorchte. Hämmerte gegen das Holz. Niemand öffnete.

»Hier spricht das Hotel«, sagte er schließlich.

»Sie sind doch nicht das Hotel«, zischte Charlotte und stieß ihm ihren Ellbogen in die Rippen.

»Hier spricht das Management, öffnen Sie die Tür. Sonst sehe ich mich gezwungen, Gewalt anzuwenden.« Etwas Ähnliches hatte er jemanden mal in einem Film sagen hören. Es klang souverän, dachte er.

»Was soll das denn?«, fragte sie. »Haben Sie keinen Schlüssel? Einen Generalschlüssel? Sie müssen doch einen Generalschlüssel haben.«

Collin nickte.

»Dann schließen Sie auf. Worauf warten Sie noch?«

Eine Nachttischlampe brannte. Auf dem Bett lag ein junger Mann, etwa so alt wie Collin. Als sie das Zimmer betraten, verstummte er. Seine Augen waren verquollen. Seine Haare kurz geschoren.

Er richtete sich auf, blickte von einem zum anderen. »Hat man Sie geschickt? Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich dachte … ich dachte, ich könnte. Aber ich kann nicht.« Er zitterte, schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht. Ich kann nicht«, wiederholte er immer und immer wieder.

Während Collin überlegte, was zu tun sei, setzte Charlotte sich neben den traurigen Mann. »Was haben Sie denn nur?« Ein Hauch von Vorwurf lag in ihrer Stimme. Collin spürte Eifersucht. Eifersucht auf den Fremden.

Ein Schritt. Zwei Schritte. Dann saß auch er auf dem Bett.

Der Zufall hatte sie hier aufgereiht.

In der Mitte Charlotte.

Zu ihrer Rechten Collin.

Zu ihrer Linken Bob.

Bob war 19 Jahre alt. Geboren in Santa Ana, Orange County. Er hatte sich freiwillig zu den Marines gemeldet. Weil sein Vater vor 26 Jahren das Gleiche getan hatte. Weil sie ihn früher oder später sowieso eingezogen hätten. MCRD San Diego, Bootcamp. Camp Pendleton, Infanterie-Training. Er war stark, mutig, ein guter Schütze. Mit Bravour hatte er seine Ausbildung absolviert. Bob, ein Marine. Wie sein Vater.

Das hier ist mein Gewehr!

Es gibt viele andere, aber dies ist meins!

Mein Gewehr ist mein bester Freund! Es ist mein Leben!

Ich muss es meistern, wie ich mein Leben meistern muss!

Ohne mich ist mein Gewehr nutzlos! Ohne mein Gewehr bin auch ich nutzlos!

Mein Gewehr verfehlt sein Ziel nie!

Ich muss schneller schießen als mein Feind, denn sonst tötet er mich!

Ich muss ihn erschießen, bevor er mich erschießt! Das werde ich!

Bob sollte jetzt eigentlich in seinem Kinderzimmer in Santa Ana liegen. Schlafend, nicht weinend.

Eine Woche lang hätte ihn seine Mutter bekochen, sein Vater stolz auf ihn sein können. Er hätte mit seiner Freundin Bridget ins Kino gehen können. Stattdessen hatte er sein Auto aus der Garage geholt und einen Brief auf den Küchentisch gelegt. Mitten in der Nacht. Wenige Worte. Er wolle bis zum Abflug allein sein. Der Vater würde es verstehen, die Mutter nicht. Bridget hatte er in diesem Moment ganz vergessen. Keinen Gruß an sie hinterlassen. Keine Schwüre, keine Versprechen. Bridget mit den erdbeerblonden Haaren und dem Lachen eines Zickleins. Sie würde wütend sein, traurig. Immerhin, sie konnte ihren Freundinnen davon erzählen: ›Er hat nicht mal Lebewohl gesagt.‹ Ein Haufen alberner Mädchen würde winzige Schreie des Entsetzens ausstoßen und ›Was für ein Schuft!‹ rufen. ›Was für ein elender Schuft! Arme Bridget. Unfassbar. Unglaublich.‹ Wie ihre eigenen Mütter würden sie klingen. Aber auch ihre Mütter klangen meist nicht wie sie selbst.

Morgen würde der Schuft nach Okinawa, Japan fliegen. Dann Vietnam.

Auf dem Weg von Camp Pendleton nach Santa Ana war die Angst gekommen, vielleicht war sie schon früher da gewesen, nur hatte Bob sie nicht bemerkt. Sie war wie ein unscheinbares Mädchen. Nicht hässlich oder hübsch genug, als dass sie einem gleich auffallen würde. Eines Tages steht sie direkt vor einem und lächelt. Dann lässt man sie nicht mehr aus den Augen.

»Geh nicht, tauch unter«, sagte Collin. »Kanada. Da kann dich niemand finden.«

Bob schüttelte den Kopf. »Vietnam. Vietnam«, flüsterte er, einer todbringenden Zauberformel gleich.

»Ich kannte mal einen Japaner. Ich dachte, er wäre ein Chinese, und ich dachte, ich würde ihn eines Tages heiraten. Aber er war sehr alt und ich nur ein Kind. Er ist tot, schon lange«, sagte Charlotte.

»War das in Vietnam?«, fragte Collin.

»Nein. Warum?«

»Ich dachte nur, weil Bob«, er zeigte auf den Soldaten, »von Vietnam gesprochen hat.«

»Er hat auch etwas über Japan gesagt. Und außerdem ist das ja alles sehr gleich, nicht wahr?«, fragte sie an beide gewandt.

Während Collin nickte, ballte Bob die Hände zu Fäusten. »Ich darf keine Angst haben«, sagte er, »keine Angst.«

»Jeder hat Angst, zumindest ein bisschen, vor … vor bestimmten Dingen«, entgegnete Collin. »Ich … ich habe Angst vor verschlossenen Türen.« Verblüfft über sein eigenes Geständnis, zuckte er zusammen.

Offenbarung. Offenbarung. Doch es folgte kein Gewitter, keine Frage. Götter und Menschen reagierten mit Gleichgültigkeit. Bob hatte nicht zugehört, und Charlotte gähnte.

Dann stand sie auf. »Versprichst du mir, nicht mehr zu weinen?« Sanft berührte sie Bobs Arm. »Oder ein bisschen leiser, wenn es nicht anders geht?«

Bob und Collin blickten ihr nach, als sie aus dem Zimmer verschwand.

»Ich sollte auch gehen«, sagte Collin schließlich. »Gute Nacht.«

»Seid ihr ein Paar?«, fragte Bob.

»Wer?«

»Du und die Blonde.«

»Nein.«

In der Tür drehte Collin sich noch einmal um. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Pass gut auf dich auf.«

Der Marine schaute ihn an. In diesem Moment sah Bob tatsächlich aus wie ein Krieger, der sein Gewehr und sein Leben meistern würde. Der schneller schießen würde als sein Feind. »Du bist auch bald dran.« Es klang wie eine Drohung.

Collin lächelte. »III A.«

»Was ist III A?«

»Meine Großmutter. Ich kümmere mich um meine Großmutter.«

»Das ist doch nur ’ne Ausrede. Ne beschissene Ausrede.«

»Irgendwie ja, aber …« Weiter kam Collin nicht.

»Hau ab!«, schrie Bob. »Raus, raus hier!«

Es dämmerte, als Collins Schicht im Hotel endete und er in den Station Wagon stieg.

Er ging nicht in die Garage, sondern in den Bungalow. Ozzy lag auf der Couch. Das Wohnzimmer roch nach Wein und altem Rauch.

»Ozzy? Ozzy. Ich bin’s. Wach auf, wach auf!«

Collin rüttelte an den Armen des Sofas, an Ozzys Armen, bis der seine Augen öffnete. Blutunterlaufen von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf.

»Ozzy, ich hab mich verliebt«, sagte Collin.

Langsam setzte Ozzy sich auf. »Und deshalb veranstaltest du hier so ein Buhei? So ein Scheiß. Ich verlieb mich jeden Tag. Manchmal drei Mal in einer Stunde. Soll ich dir jedes Mal eins auf die Fresse hauen, wenn es so weit ist? Verliebt. Ich bin auch verliebt, na und?«

»Nein, nicht so. So … na ja, richtig. Richtig verliebt.«

Und dann erzählte er von der blonden Frau in dem dunkelroten Negligé und von dem weinenden Soldaten.

Ozzy lachte. »Du bist hier und sie in einem Hotelbett. Das ist keine Liebesgeschichte, mein Freund.«

Die Liebesgeschichte begann am nächsten Abend. Sie hatte ihren Koffer gepackt. Ihr Rock war eng, die Bluse tief ausgeschnitten. Sie stand an der Rezeption, als Collin seinen Dienst antrat.

»Der Soldat ist fort, und ich möchte auch nicht hierbleiben. Ich mag dieses Hotel nicht. Wo wohnst du?«, fragte Charlotte.

»In Hollywood. In einer Garage«, antwortete Collin. Eigentlich hatte er später an ihre Zimmertür klopfen wollen, um zu fragen, ob er sie irgendwann ausführen dürfe. Vergessen waren die zurechtgelegten Sätze.

»Eine Garage? Das ist auch nicht sehr schön. Aber besser. Wusstest du, dass hier Leute ermordet wurden? Und dass zwei Frauen aus dem Fenster gesprungen sind?«

Collin nickte.

»Wie kann man nur aus dem Fenster springen?«

»Wie kann man nur?«, sagte er leise.

»Wann gehen wir?«

»Was?«

»Wann bist du fertig?«

»Ich? Um … um halb sechs.«

»Dann warte ich«, antwortete sie bestimmt.

»Auf mich?«

»Ja. Oder ist da kein Platz in deiner Garage?«

»Platz?«

»Ich meine, ich kann auch in ein anderes Hotel, aber …«

»Nein. Nein.« Jetzt erst verstand er. »Natürlich ist da Platz.«

Er hatte kräftige Arme, ein sanftes Gemüt und eine Garage. Diejenigen, die sich nur vom Schlag ihres Herzens leiten lassen, finden, was sie brauchen.

₺464,95
Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
18+
Hacim:
190 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783311700012
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu