Kitabı oku: «Kein Krieg in Deutschland»
Inhaltsverzeichnis
Das Trojanische Pferd
Olaf könnte gegen den Krieg gestorben sein
Heimatgetrieben
Die Grillparty
Jibt ja ooch noch so wat wie Privatsphäre, oda?
Ich bin in Asgard aufgewachsen
Tina, ein Mädchen wie ein Schneewittchenapfel
Die Hungrigen und die Satten
Die Beine baumeln lassen
Nestlé
Trautes Heim
Schwestern
Im Land der toten Bäume
Die Autorin
Impressum
Das Trojanische Pferd
René Reuter saß mit übereinander geschlagenen Beinen im Café Himmelreich. Er hatte die Augen geschlossen und wendete sein Gesicht der Sonne zu. Seine Mundwinkel hingen blasiert herab, während er tief durch die Nase atmete und mit dem Zeigefinger nach dem Bestellknopf an der Stuhllehne tastete. »Zwei schwarze Kaffee, bitte.«
Tack, tack – schnell und energisch näherten sich die Hackenschuhe.
»Guten Tag, Frida«, sagte René, ohne die Augen zu öffnen. »Setz dich.«
Sie trug ein weißes Kleid und hatte rosa Lippenstift aufgelegt. Er betrachtete sie spöttisch.
»Nun, du hast dich also entschlossen, mein Angebot anzunehmen.«
»Ungern. Nun ja, die Politik …« Sie warf die Arme himmelwärts. »Kurz gesagt, wenn unsere Arbeit Früchte tragen soll, bin ich gezwungen, andere Wege zu gehen.«
»Mit mir zum Beispiel«, stellte er fest.
Eine junge Frau brachte zwei Tassen heißen Kaffees. René öffnete die Augen. »Selbstverständlich kann ich dir ein Labor besorgen, in dem ihr unbeobachtet seid. Im Gegenzug will ich die Ergebnisse.«
Frida hörte ihm zu, während ihr Zeigefinger rhythmisch auf den Tisch tippte.
»Die Sache darf nicht publik werden. Du musst vorsichtig sein, wem du den Auftrag gibst. Ich würde Agnes Krauß akzeptieren.«
»Agnes!« Frida lachte schallend.
René runzelte die Stirn.
»Agnes ist unsere herausragende Wissenschaftlerin«, stellte Frida fest. »Und, René, sie tut nichts gegen ihre Überzeugung.«
Seine Miene blieb unbewegt.
»Dann überzeuge sie! Das sind die Leute, die wir brauchen – kompetent und loyal. Ich weiß, du kannst sehr überzeugend sein!«
Mit einem Schnauben deutete er ein Auflachen an.
Seit es um Agnes ging, hatte Fridas Zeigefinger seine Tätigkeit eingestellt und sich in die Gesellschaft der übrigen Finger ihrer Hand zurückgezogen. »Ich werde mein Möglichstes tun«, gab sie nach, »trotzdem wette ich dagegen. Es gibt etwas in den Menschen, das sie deinem Einfluss entzieht, René. Agnes hat es im Übermaß.«
Er erhob sich. »Melde dich, wenn du sie soweit hast!« René steckte seine Chipkarte in den Schlitz an seinem Stuhl. »Auf Wiedersehen, Frida.«
»Einen schönen guten Morgen, liebe Agnes! Es ist Zeit aufzustehen.«
»Nein«, sagte Agnes Krauß und wälzte sich auf den Bauch.
»Oh doch! Die Arbeit ruft, die Mäuse warten.« Agnes setzte sich auf und stierte betrübt auf die Bettdecke. »Bist du wach, Agnes? Möchtest du Musik?«
»Bloß nicht!« Agnes griff in ihr Ohr und berührte den Sensor ihres WeckSteck. Adrienne hatte das Gerät zu Agnes’ Geburtstag gekauft und programmiert. »Ein egoistisches Geschenk. Dein alter WeckSteck hat zuviel Bass. Ich wache davon auf, selbst wenn du ihn tief in den Gehörgang klebst. Außerdem kannst du von nun an gleich frühmorgens meine Stimme hören, während ich noch neben dir schlafe wie ein Murmeltier.«
Agnes war nicht sicher, ob der tägliche Weckruf durch Adriennes Stimme ihrer Liebe zuträglich war. Sie war sich zur Zeit über verschiedenes nicht sicher. Nachdem sie kürzlich ihr 37stes Lebensjahr vollendet hatte, schien ihr die Zeit gekommen, zu überlegen, was sie in ihrem Leben noch zu erledigen hatte und wie sie die verbliebenen Jahre sinnvoll gestalten könnte. Doch ihre Tage waren voll und ließen wenig Zeit zum Nachdenken.
Sie hatte in dieser Nacht wieder von den Mäusen geträumt. Der Traum hatte sie in die Vergangenheit geführt, in die Zeit, in der sie etwa acht Jahre alt gewesen war. Damals war sie täglich auf dem Schulweg an einer Zoohandlung vorbeigekommen. Vor dem Schaufenster mit den Vogelkäfigen, den Leinen und dem Katzenfutter war Agnes stehen geblieben: In einem großen Glaskäfig lebten die Mäuse. Sie drängten sich gegen die Scheiben, versuchten, ihre kleinen Krallen in das glatte Material zu bohren, um hinaufzuklettern, hinaus in die Freiheit. Natürlich gelang es nicht. Sie rutschten ab, purzelten übereinander, konnten nicht aufgeben, unermüdliche, bewusstlose Sisyphose plagten sie sich vergeblich. „Das ist schlimm“, hatte Agnes, das Kind, gedacht. Sie hatte am Fenster gestanden und geweint.
Agnes stierte an die Zimmerdecke. Sie sollte aufstehen, sich auf den Weg machen in ihr Labor, zu den motorisch überbedüftigen Mäusen, die sie beobachten musste.
»Ich bin schlecht«, sagte sie sich, gab sich einen Ruck und hievte sich aus dem Bett. Es war keine neue Erkenntnis. Agnes hatte früh erkannt, dass etwas Schlechtes in ihr war, etwas, das stärker war als sie und ihr unbedingter Wille, Gutes zu tun.
Einmal hatte Agnes, das Kind, im Frühling einen jungen Spatz auf der Straße aufgelesen. Sie hatte ihn nach Hause genommen, hatte mit ihm gespielt, versucht, ihn zu füttern und ihm Flüssigkeit einzuflößen. Er war dabei ganz nass geworden. Da hatte sie ihm eine Kiste mit Watte ausgepolstert und ihn schlafen gelegt. Als sie später nach ihm sah, war er steif.
Agnes hatte nicht aufhören können zu schreien. Sie hatte immer daran denken müssen, wie die Eltern des kleinen Vogels ihr gefolgt waren, zeternd und piepsend, während Agnes mit dem Jungen in der Hand nach Hause gelaufen war.
„Diese Verzweiflung“, dachte Agnes, „wenn etwas nicht mehr gut zu machen ist.“
Ihre Mutter hatte an diesem Abend geseufzt, wie so oft: „Wer hat mich mit diesem Kind gestraft?“ Der Vater hatte in der Nacht wie in vielen Nächten zuvor die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufgerissen und gebrüllt: „Du bist ein Unglück! Ein Unglück!“ Sie hatte gewusst, dass es stimmte.
Aus dem Wissen um ihre Schlechtigkeit war Agnes ein wütender Trotz gegen die Welt erwachsen. Zugleich hatte ihr Wunsch, gut zu sein und in einer guten Welt zu leben, geradezu verzweifelte Züge angenommen. Da sie bei diesem Unterfangen auf die Unterstützung ihrer Eltern nicht bauen konnte, hatte sie sich allein auf den Weg gemacht, herauszufinden, was das ist, das Gute.
Erst jetzt bemerkte Agnes, dass Adrienne nicht wie sonst in ihrem Bett lag. Sie musste früh aufgestanden sein, wollte vermutlich mit Agnes frühstücken. Seit Monaten hatten sie viel zu wenig Zeit füreinander.
Agnes lächelte, während sie an ihre Freundin dachte. Noch hatte der tägliche Weckruf ihren Gefühlen nichts anhaben können. Als Adrienne vor vielen Jahren erstmals ein Kinderfoto von Agnes gesehen hatte, hatte sie gelacht:
„So ein trotziges, einsames Mädchen. Das muss man einfach lieb haben.“ Sie hatte das Bild zärtlich angesehen und gestreichelt.
Agnes hatte die Worte ungläubig aufgenommen und verwahrt. Seit Jahren nährte sie heimlich ihre Liebe daraus, die Liebe zu sich selbst wie die zu Adrienne.
Agnes schüttelte unwillig über sich selbst den Kopf. »Träumerin«, schimpfte sie, »stehst hier rum, sentimental, ungewaschen und im Nachthemd.« Entschieden ging sie ins Bad. Die kalte Dusche würde sie aufwecken. Wenig später trat sie duftend und angekleidet in den runden Ess und Wohnraum. Adrienne ließ die Hand sinken, die gerade das Brötchen zu ihrem Mund geführt hatte. Ihr Mund klappte zu. Noch einmal zuckten ihre Augen über die Tagesnachrichten, die auf den Bildschirm in der Tischplatte übertragen wurden. Dann sah sie auf und suchte Agnes Blick. »Guten Morgen, Agnes.«
Agnes gähnte, ein Blick auf die Uhr. Schön, wenn Adrienne auf sie gewartet hatte, aber sie wollte nicht zu spät ins Labor, schaffte es womöglich nicht rechtzeitig zur Fütterung der genmanipulierten Mäuse.
»Du wirst mir immer fremder.« Adrienne betrachtete sie kühl.
Agnes’ Gesichtsmuskeln zuckten.
»Was ist?«
Adrienne näherte ihren Mund dem Tischmikrofon. »Artikel von gestern, Gentherapie«, forderte sie. Sie wartete, dass der Bildschirm reagierte, während Agnes sich setzte, zögernd nach einem Brötchen griff, es dann doch zurück in den Korb legte und stattdessen die Hände in ihrem Schoß stapelte.
»Das Ende der genetischen Selbstbestimmung?«
Adrienne las mit lauter, vorwurfsvoller Stimme. »Gläubige und andere Menschen, für die der Eingriff in das menschliche Erbmaterial ein Tabu ist, müssen sich auf schwere Zeiten einstellen. Vielen geht schon die genetische Sichtung der Embryoblasten zu weit, wie sie seit sieben Jahren für jede Schwangere Vorschrift ist. Jetzt bemühen sich einflussreiche Kräfte darum, auch die Manipulation bestimmter Gene zur allgemeinen Pflicht zu machen. Die angestrebte Regelung betrifft alle Gene, die anerkannte Erbkrankheiten wie zum Beispiel die Mucoviscidose vererben.«
»Ja«, sagte Agnes.
Adriennes Blick stach in Agnes’ Augen wie eine Pipette und saugte alles in sich hinein, was ihr schlecht erschien.
»Bitte, lass«, Agnes streckte ihre Hand über den Tisch zu Adrienne hin.
»Weißt du noch, was du gesagt hast?«, fragte Adrienne, ohne die ausgestreckte Hand zu beachten. »Weißt du, was sie über dich schreiben?«
Agnes erinnerte sich genau: Das verwirrende Gespräch mit Frida – Frida hatte sie aufgefordert, die Rede auf der Abschlussveranstaltung des Kongresses zur Gentherapie zu halten, und Agnes hatte es schließlich getan, unvorbereitet, mit ein paar Notizen und Anregungen von Frida.
»Es ist widersinnig, wenn Eltern das Recht haben, erbliches Leid an ihre Kinder weiterzugeben«, hatte sie erklärt. »Diesem fragwürdigen Recht misst die jetzige Gesetzgebung jedoch höheren Wert bei als den Bemühungen der Medizin, Erbkrankheiten endgültig aus dem menschlichen Genom zu tilgen.«
Blitzlichter waren aufgeflammt, wenig später war Agnes von Journalisten umstellt worden, die sie mit ihren Mikrofonen bedrängt hatten.
Die Gewissheit, dass die Mucoviscidose ausgerottet werden musste, hatte Agnes durch den Sturm von Unterstellungen, Verdrehungen und Fragen geleitet, dem sie dann eine gefühlte Ewigkeit ausgesetzt gewesen war.
Seit elf Jahren war die Bekämpfung dieser entsetzlichen Krankheit der bedeutungsvollste Inhalt ihres Lebens – abgesehen von ihrer Liebe zu Adrienne. »Eigentlich«, überlegte Agnes, »war beides nicht voneinander zu trennen.« Sie erinnerte sich lebhaft an den Tag, an dem es begonnen hatte: Sie hatte den Berg eben überwunden. Hinter ihr war Adrienne auf ihrem Fahrrad die letzten Meter bergauf gekeucht. »Juchuh«, hatte Agnes gerufen und den Lenker losgelassen. Mit ausgebreiteten Armen war sie ins Tal gerast, hatte gespürt, wie der Fahrtwind an ihrem leichten Seidentop zog. Sie rollte und rollte.
»Den Berg hoch bin ich langsamer, aber bergrunter hast du keine Chance«, hörte sie Adrienne neben sich mit betont gelassener Stimme sagen. Schon war Adrienne vorbeigesaust und Agnes strengte sich an, die Führung zurückzugewinnen. Auf gerader Strecke hatten sie die Räder auslaufen lassen und schließlich an einem Fleckchen Wiese gehalten. Es waren noch dreißig Kilometer nach Fredersdorf, wo Adriennes Schwester wohnte.
»Komm«, Adrienne zog Agnes zu sich ins Gras. »Leg dich auf mich.«
Agnes hatte die Augen geschlossen und Adrienne schlang die Arme fest um ihre Taille. Still hatten sie gelegen. »Ich zerfließe«, hatte Agnes gedacht.
»Ich bin so gespannt auf deine Schwester«, murmelte sie, während ihr Gesicht an Adriennes Wange rieb.
Adrienne seufzte wohlig.
»Ich freue mich vor allem auf die kleine Pauline! Ich hoffe nur, es geht ihr gut zur Zeit.«
Adrienne hatte dann bald aufbrechen wollen, war ungeduldig ihr Nichtchen wiederzusehen. Agnes hatte den Generator an ihrem Fahrrad angestellt. Ihr Modell war schon etwas älter, aber die Grundidee war die gleiche wie bei moderneren Geräten. Ihre Muskelkraft wurde in Strom umgewandelt, der in den Motor des Rades eingespeist wurde. »Dann sind wir schneller!«
»Faulpelz«, kommentierte Adrienne und trat energisch in die Pedale.
Adriennes Schwester Carla wohnte mit Pauline in einer ausgebauten Gartenlaube. Kaum hatten sie ihre Räder durch die Gartenpforte geschoben, als ein zartes Mädchen aus dem Haus stürzte. Es hustete und röchelte, während es auf sie zurannte.
»Tante Adrienne«, schrie das Mädchen mit hochrotem Gesicht.
»Paulinchen«, rief Adrienne. Sie nahm das kleine Wesen hoch und drückte es an sich.
»Ich dachte, sie wäre schon älter«, flüsterte Agnes ihr zu.
»Ich bin älter.« Pauline war gegen diese Art Bemerkungen gewappnet. »Ich bin acht. Ich wachse nicht, weil ich krank bin. Ich habe Mucoviscidose.«
Agnes bemerkte, wie ein eigenartiger Ausdruck in Adriennes Augen trat.
Später hatten sie in der Sonne gesessen. Es hatte Kuchen gegeben, Kaffee und Kakao. Kaum war ihr Kakao ausgetrunken, wollte Pauline mit der Tante spielen. Carla hatte sie zurückgehalten: »Nachher, Schätzchen, du musst erstmal inhalieren. Das weißt du doch.«
»Aber Tante Adrienne ...«, jammerte Pauline.
»Ich bleibe doch noch bis abends. Und zum Inhalieren komme ich natürlich mit.«
Pauline hatte am Küchentisch gesessen und sich den Inhalator vor das Gesicht gehalten, während Adrienne ihr Geschichten erzählte. Wenn es zu komisch wurde, musste Pauline aufhören zu inhalieren. Lachen und inhalieren, das ging nicht zusammen. Sie hustete, Luft quietschte durch den getrockneten Schleim in den Bronchien. Pauline kämpfte Zug um Zug um ihren Atem. Wieder trat der fremde Blick in Adriennes Augen und Agnes begriff, dass es Schmerz war. Das war der Moment gewesen, in dem Agnes Krauß beschloss, die Mucoviscidose zu besiegen.
Agnes schob ihre Hand weiter zu Adrienne hinüber. »Ich habe gesagt, was ich für richtig halte.«
Adrienne beobachtete sie. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.
»Die anerkannte Gentherapeutin Agnes Krauß erhielt insbesondere von den Vertreterinnen der Krankenversicherungen Applaus. Man strebe eine Übereinkunft an, die Behandlung von Krankheiten, die infolge verweigerter embryonaler Genomtherapie vererbt wurden, generell aus dem Leistungskatalog auszugliedern. »Ein Schritt in die richtige Richtung«, so Krauß, »die Eltern müssen Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen.«
Die Hand lag immer noch hilflos geöffnet auf halbem Weg zwischen Agnes und Adrienne.
»Du willst, dass die kranken Kinder im Stich gelassen werden? Ich fasse es nicht.«
Auch Agnes’ Pupillen verengten sich. »Wir könnten die Krankheit ausrotten, dann gäbe es keine kranken Kinder mehr.«
»Es geht dir doch nur um deine Karriere«, Adriennes Kiefermuskel zuckte.
Agnes zog ihre Hand zurück, griff nach der schwarzen Aktentasche, die am Boden stand, ging wortlos zur Fahrstuhltür.
Adrienne blieb am Küchentisch sitzen, hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, dann das Hauchen, als der Fahrstuhl nach unten schwebte.
Schwerfällig erhob sie sich. An den Schläfen war ihr Haar ersilbert. Sie war korpulent geworden. Adrienne seufzte. Was war da noch zwischen Agnes und ihr, abgesehen davon, dass sie sich eine Wohnung teilten?
Eine fröhliche Melodie unterbrach sie in ihren Gedanken. Adrienne griff in die vordere Tasche ihrer Jeans, wühlte ihr Handy heraus und klappte es auf.
»Ja? – Ach, Helge! Ich überlege gerade, wie meine Chancen bei den Frauen stehen. – Ja, wir haben uns gestritten. Vielleicht verlasse ich sie. – Lass uns tanzen gehen und nach fremden Frauen gucken.– Nein, mal ehrlich, lass uns lieber reden. Hast du Zeit? – Ich danke dir, ich bin gleich da.«
Robert saß am Computertisch und tippte, als Agnes das Büro betrat. Ihre schmale Gestalt sah ganz zusammengefallen aus. Sie grüßte nicht einmal.
»Hallo«, Robert dämpfte vorsichtig seine Stimme. Sie zuckte dennoch zusammen. Er lächelte entschuldigend.
Agnes holte tief Luft. »Die Embryoblasten von heute früh sind schon eingefroren?«
»Sind im Labor im Trockeneis, elf waren es heute.«
Sie nickte, setzte sich, stellte die Aktentasche auf ihre Knie, als wäre sie nur auf Durchreise in ihrem Büro.
Er räusperte sich: »Die Abteilungsleitung hat eine außerordentliche Zusammenkunft anberaumt.«
»Ahja?« Sie sah auf.
»René Reuter von der umstrittenen Organisation zur Entwicklung des menschlichen Genoms hat dich für deine Äußerungen zur gentherapeutischen Elternpflicht gelobt. Augenblick!« Robert drehte sich schwungvoll zum Tisch und griff ein Papier aus der Ablage. »Hier ist das Pamphlet: ,Wir geben der Gentherapeutin Agnes Krauß recht: Die Verseuchung des menschlichen Genoms muss aufgehalten werden.‘ Sie schlagen vor, alle zwangszusterilisieren, die gentherapeutische Maßnahmen ,hartnäckig verweigern‘.«
Agnes atmete schwer.
»Beifall von der falschen Seite, Chefin. Dagegen ist niemand gefeit.« Robert wartete einen Moment, bevor er fortfuhr: »Frida will sich mit unseren Diagnostikerinnen und Therapeutinnen zusammensetzen, um die Haltung der Abteilung zu diesen Fragen herauszuarbeiten.«
»Das ist gut.« Ihr Körper richtete sich auf wie eine welkende Blume, die in Wasser gelegt wird. »Wann ist die Sitzung?«
Er warf einen Blick auf den Bildschirm des Laptop. »Jetzt.«
Agnes setzte sich neben Andresen, den Diagnostiker.
»Die Frau hat’s drauf.« Andresen starrte nach vorne, wo Frida stand und sprach, dunkel, gelassen, selbstsicher, überzeugend, dazwischen das energische Klacken ihrer Hackenschuhe.
»Die Welt verändert sich – und die Menschen verändern die Welt. Alles Leben, das sich der Veränderung nicht anpasst, wird aussterben, auch wir Menschen.«
Ein Mitarbeiter hob die Hand. Agnes lehnte sich zu Andresen hinüber.
»Wer ist das?«, zischte sie.
»Rohloff«, flüsterte er, »der ist neu bei uns in der Diagnostik. Er ist scharf auf die Frida. Ah, sieh an, er hat es geschafft: sie beachtet ihn.«
»Bei deinem Vortrag gerade geht es nicht um die Mucoviscidose«, stellte Rohloff fest.
»Richtig. Ich möchte, dass uns allen klar ist: Gentherapie ist die Technik der Zukunft. Die Mucoviscidose ist nur ein Probelauf für die Aufgaben, die noch auf uns warten.«
Rohloff hakte ein: »Die genetische Umstrukturierung der Menschheit? Ist das nicht anmaßend?«
Frida hob beruhigend ihre offene linke Hand. »Ich spreche von Krankheiten. Vieles, was unter heutigen Verhältnissen noch gesund ist, wird unter veränderten Umständen Leid verursachen. Nehmen wir die Erwärmung der Erde. Schon heute haben viele, auch schon sehr junge Leute gesundheitliche Probleme aufgrund der zunehmenden Hitze. Sie sind genetisch bedingt empfindlicher als der Durchschnitt. Wir beobachten das Entstehen einer künftigen Erbkrankheit.«
»Ist das Institut aktuell mit der Diagnostik künftiger Erbkrankheiten befasst?«
Frida entließ Rohloff aus ihrem Blick und warf ihn ohne Zögern auf Agnes. Agnes bekam eine Gänsehaut.
»Unsere Kollegin Agnes Krauß arbeitet seit vielen Jahren an dem Phänomen der motorischen Überbedürftigkeit (MÜB). Vor hundert Jahren war das noch eine Randerscheinung. Bestimmte Erscheinungsformen dieser Krankheit wurden ADHS genannt und medikamentös behandelt. Je weiter wir uns von der Jäger und Sammlergesellschaft entfernen, desto problematischer wird jedoch die MÜB für die Betroffenen und auch für ihre Umwelt! Wir vermuten, dass frustrierte MÜB eine der Hauptursachen für aggressives Verhalten ist.«
»Die Kollegin forscht an menschlichen Embryoblasten?«
»Das leider nicht! Die Krankheit ist als solche bisher nicht anerkannt. Daher sind Forschungen an menschlichem Material noch verboten.«
»Dann sollte das Institut für eine Anerkennung der motorischen Unruhe als Erbkrankheit eintreten.«
»So ist es«, stimmte Frida zu.
»Was ziehen die da eigentlich ab«, brummte Andresen, »das ist doch ein abgekartetes Ping-Pong-Spiel.«
Nervös rieb Agnes ihre rechte Schläfe. »Den Rohloff kenne ich ... Aber ich erinnere mich nicht …«
Rohloff platzierte seinen Arm auf der Rückenstütze des benachbarten Stuhls und lehnte sich zurück. Agnes starrte zu ihm hinüber. »Mein Gott, ist der selbstgefällig«, hörte sie Andresen sagen.
»Ich bin da in etwas hineingeraten«, dachte Agnes, während ihre Augen zwischen Frida und Rohloff hin und her wanderten. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie Frida ihr auf dem Kongress zur Gentherapie diese unselige Abschlussrede aufgenötigt hatte. Vor drei Tagen war das gewesen. Frida hatte sie mit ihrem rot geschminkten Mund angelächelt, dass Agnes ganz schwummrig geworden war. Es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Mit einem Sekt hatten sie sich in eine ruhige Ecke im Foyer zurückgezogen. Frida hatte zu einer kleinen Rede ausgeholt. »Man muss die Weichen für die Zukunft stellen: Die Menschheit hat sich der natürlichen Selektion entzogen. Zum Glück«, hatte sie sehr ernst hinzugefügt »denn jeder Einzelne hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben.«
Solche Worte trieben Agnes die Tränen in die Augen, so verdammt rührselig war sie.
»Wer sich der natürlichen Selektion entzieht, muss sich der Herausforderung zur Selbstgestaltung stellen.«
Agnes hatte genickt, sie hätte wohl zu fast allem genickt, was der rote Mund ihr vertraulich zuraunte.
»Du kennst die Situation. Die Welt verändert sich, die Zeit drängt. Aber die Menschen sind gefangen in einem Kinderglauben und fürchten die Rache Gottes, wie damals, als die Eisenbahn erfunden wurde, wie immer, wenn die Menschheit ein Stück über sich hinauswächst. Überall werden uns Steine in den Weg gelegt.« Frida hatte ihre Hand auf Agnes’ Oberarm gelegt. »Wir werden es über die Krankheiten erklären müssen«, hatte sie ihr eingeschärft. »Das verstehen sie. Morgen auf der Pressekonferenz musst du klarmachen, dass du als Gentherapeutin nicht akzeptieren kannst, wenn Einzelne ihre genkranken Embryoblasten weiterhin der Gentherapie entziehen und dadurch das menschliche Genom verseuchen.« Frida griff fester in Agnes’ Oberarm, sie bohrte die Spitzen ihrer Fingernägel hinein. »Du musst es sagen, Agnes! Du bist die anerkannte Wissenschaftlerin, dein Wort gilt etwas.«
»Ein abgekartetes Spiel«, das waren Andresens Worte gewesen.
»Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fragte Andresen nun. Er lachte. Am Ausgang drängelten sich die Kolleginnen.
»Agnes«, rief Frida und steuerte direkt auf sie zu. Sie streckte ihr beide Hände entgegen. »Du siehst, die Abteilung steht hinter dir. Ich muss mit dir reden, am besten in meinem Büro. Da sind wir ungestört. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es dir zu sagen: Du warst großartig auf der Pressekonferenz«, Frida hastete mit so flottem Gang den Flur entlang, dass Agnes Mühe hatte, Schritt zu halten. »Morgen bist du zu der Talkshow Marina am Freitag eingeladen. Ein Gespräch mit einem Vertreter der Christen und René Reuter von der OzEmG.«
»Die Organisation zur Entwicklung des menschlichen Genoms ist zu einer Talkshow eingeladen?«, fragt Agnes verwirrt. »Die werden doch geächtet wegen ihrer menschenfeindlichen Positionen.«
»Ja«, Frida nickte langsam, »da hat sich viel getan.«
»Ich kann da nicht hingehen«, Agnes sah Frida direkt ins Gesicht, »wir können diese Organisation nicht als Gesprächspartner anerkennen.«
»Das geht nicht! René ist ein wichtiger Sponsor unserer Arbeit. Mach unsere Grenzen klar, aber schlag die Tür nicht zu.«
Agnes stutzte: »Wir werden von der OzEmG gesponsert? Ist das vertretbar?«
»Geld stinkt nicht. In großen Bereichen decken wir die Interessen der Organisation. Die extremen Positionen müssen wir nicht bedienen. Ich wollte allerdings über etwas anderes mit dir sprechen.«
Sie zückte ihr Handy und ließ die Bürotür aufspringen. »Setz dich.«
Agnes setzte sich aufrecht auf einen der unbequemen harten Stühle. Sie spürte Fridas warme Hand auf ihrer Schulter. Agnes dreht sich um und versank in Fridas weiten schwarzen Pupillen. Es war wie damals, als Frida die Leitung der Abteilung übernommen hatte. Es war viel getuschelt worden, als sich herumsprach, dass die Stelle extern besetzt werden würde. Gerüchte verbreiteten sich wie Krankheiten über die Flure. Die neue Chefin sollte beängstigend sein, atemberaubend, irgendwie besonders. Dann hatte Frida alle Mitarbeiterinnen einzeln zu einem persönlichen Gespräch gebeten. Agnes war nach dem Gespräch wie benommen gewesen.
»Diese Augen! Als wären ihre Pupillen ein Tunnel, der mich ohne Umschweife in ihr Innerstes führt. Sie ist einsam, denke ich. Seltsam, wie warm sich das anfühlt.«
Robert hatte die Achseln gezuckt: »Vielleicht ist es Sehnsucht. Ein Liebesversprechen aus Sehnsucht. Aber sie wird es nicht einhalten können, verlass dich drauf. Die Frau ist kalt.« Aber Agnes hatte unbeirrt geschwärmt: »Wie sie redet! Klar, logisch, auf den Punkt gebracht.«
Robert hatte aus dem Fenster gesehen, den Blick in etwas Fernem fest verankert. »Weil sie kalt ist. Sie könnte dir beim Ertrinken zusehen ohne jedes Mitgefühl. In ihr ist die Leere, nichts, was die Klarheit ihrer Gedanken trübt oder ihren Gedanken die Schärfe nimmt. Da ist keine Gefühlsregung, die sie irritiert.« Robert hatte Agnes angesehen, fast hatte er sie mit seinen tiefbraunen Augen gestreichelt. »Lass dich bloß nicht verführen. Logik kann wahnsinnig sein, in sich schlüssig und total verrückt. Ich kenne mich damit aus, glaub mir.«
»Sie berührt mich sehr«, Agnes hatte schlucken müssen, »es schmerzt.«
Adrienne war mit dem Fahrrad gut durch den Verkehr gekommen. »Komm rein, komm rein«, forderte Helge sie auf. Sie küsste ihn und griff nach seinem gelben kurzgeschnittenen Schlips. »Du bist mal wieder ausgesprochen hübsch und originell angezogen.«
»Nicht wahr?«, er senkte den Kopf und bedachte sie mit einem Augenaufschlag. »Setz dich nur, ich hole uns zur Aufmunterung ein frühes Sektchen.« In jeder Hand ein langstieliges und gut gefülltes Glas kehrte er kurz darauf aus der Küche zurück. Vorsichtig, um nur nichts zu verschütten, setzte er sich neben sie.
»Auf die Liebe! Und nun erzählst du, was los ist mit euch beiden.«
Adriennes Schultern begleiteten einen tiefen Atemzug. »Es hat angefangen, als diese Frida die Abteilung übernommen hat. Ich hasse sie.«
»Frida, die diabolische Abteilungsleiterin! Ein leckeres Schnittchen! Immer noch eifersüchtig?«
Adrienne lachte. »Abgründig. Diese Frida ist abgründig. Sie berührt Agnes auf eine Art, die nicht zu ertragen ist. Es ist nicht gut.«
Helge saß nur da mit ihrem Sektglas. Jetzt zog sie die Augenbrauen hoch und betrachtete kokett ihre gelb lackierten Fingernägel.
»Agnes hat etwas schrecklich Verlorenes.« Adriennes Finger krümmten sich und kratzten an der Handfläche.
»Ich weiß.«
»Manchmal träume ich, wie Agnes ganz allein in einem unendlich weiten, unendlich schwarzen See schwimmt. Sie ertrinkt beinah. Sie streckt die Hand nach mir aus und ich greife sie und ziehe sie an Land.«
»Rührend«, Helge tupfte die Augen mit einem gelben Seidentuch. »und nun badet Frida mit ihr.«
»Nein, Frida hat das Schwarze getrunken. Sie ist bis zum Hals damit abgefüllt. Sie zeigt es Agnes. Agnes läuft ihr hinterher. Sie will das Schwarze haben. So steigen sie einander hinterher auf einen hohen Berg. Auf der Spitze zeigt Frida mit großartiger Gebärde über das Land. Hier auf dem Gipfel sei der Ort der Erkenntnis, behauptet sie. ,Wir überblicken die Welt. Von dieser Warte erschließt sich alles, was das kleine Gewimmel im Tal niemals begreifen wird.‘ Dann kotzt Frida das Schwarze aus. Es stürzt den Berg hinunter, reißt Bäume mit sich, Tiere, Städte, Menschen, alles. ,So ist das Leben‘, sagt Frida.«
»Lass mich raten«, Helge klimperte mit den Augenlidern, »jetzt retten sie gemeinsam die Welt.«
»Die Menschen sind dieser Welt auf Dauer nicht gewachsen«, erklärte Adrienne mit ernstem Gesicht. »Sie müssen vollständig gentherapiert werden.«
Helge warf sich kreischend in eine Sofaecke. Nein«, japste sie. »Und damit kommt sie durch? Da bin ich doch spießig mit meinem konventionellen BusenImplantat.«
»Ich würde auch lachen. Aber ein Großteil der Medien ist bereits auf die neue Linie eingeschwenkt: Gentherapie, die Technik der Zukunft.«
»Warte mal«, Helge horchte. Was ist das für ein Geräusch?«
Gerade hatte es sich angehört wie das Sirren eines Mückenschwarms, jetzt schwoll der Lärm an, wurde zum Dröhnen. Dann brachen Hubschrauber in den Himmel ein, schwarze Ungetüme mit um sich schlagenden Rotoren. Sie steuerten direkt auf das Fenster zu. Kurz bevor das Glas splitterte, drehten sie ab. Adrienne sah einen der Piloten lachen. Sie rissen Spruchbänder hinter sich her mit roten harten Buchstaben: Wer die Gentherapie verweigert, verseucht das menschliche Genom.
Auf der Straße skandierten Menschen: »Nein zum Elend, nein zum Leid – Krankheiten vererben, das geht zu weit.«
Adrienne und Helge waren zum Fenster geeilt und beugten sich vorsichtig hinaus. Dort unten schnellten Fäuste wie auf Befehl gemeinsam in die Höhe.
Wieder lärmte ein Hubschrauber vorüber: Eine Demonstration der Organisation zur Entwicklung des menschlichen Genoms.
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Adrienne und Helge standen reglos, bis der Lärm verebbte. Adrienne brach das Schweigen: »Was geht hier vor?«
Helge fältelte seine Stirn.
»Unsere Redaktion hat keine Meldung über eine Demonstration bekommen.«
»Das war eine Spontandemo. Die wittern Morgenluft wegen Agnes’ Äußerungen auf dem Kongress. Und irgendjemand hat diese Demo genehmigt.«
»Was ist das? Wer hat das genehmigt?«
Vor dem Fenster des Francis-Crick-Hochhauses flogen schwarze Hubschrauber. Sie kreisten um das Gebäude, so dicht, dass die Spruchbänder gegen die Mauern klatschten.
Frida stellte sich neben Agnes. »Sie haben Kontakte. Sie haben Kontakte, darum haben sie Geld, sie haben Geld, darum haben sie Kontakte. Demokratie ist eine Farce. Wer Geld hat, hat die Medien, früher oder später. Menschen sind manipulierbar. Sie sind der Demokratie genetisch nicht gewachsen. Manchmal denke ich, es wäre besser, die Demokratie auszuhebeln, bis wir mit der Gentherapie der Menschheit weiter vorangeschritten sind.«