Kitabı oku: «Das Wanderkind», sayfa 2
FÜNFTES KAPITEL
Corinne hat sich nie getraut, den Kleinen »mein Spatz« zu nennen. Alexandra und Hans hat sie früher instinktiv so genannt, wie die meisten Mütter ihre Kinder bei ihren Kosenamen nennen. Insgeheim würde sie den Kleinen auch heute noch am liebsten »mein Spatz« nennen, obwohl er schon neun Jahre alt ist.
Das Kind fasziniert sie, doch es entgleitet ihr immer wieder, wie einem Wasser durch die Finger rinnt.
Lange Zeit, mit Beginn des Zwillingsbandes, das ihr so zuwider ist, hatte sie das Gefühl, dass Hans ihr den Kleinen wegnimmt. Dabei geht es um etwas viel Subtileres, das sie zwar nicht durchdringt, aber allmählich zu respektieren lernt.
Sie beobachtet den Kleinen von Weitem. Er sitzt an den Schuppen gelehnt im Gras. Ein Streifenhörnchen klettert ihm zuerst auf die Hand, dann auf den Arm, die Schulter und den Kopf, auf dem eine Erdnuss liegt. Reglos und mit geschlossenen Augen kichert der Kleine in sich hinein.
Er ist allein. Hans ist mit Pierre einkaufen gegangen.
Bis zu ihrem vierten Lebensjahr waren die Zwillinge nie richtig voneinander getrennt: Jeder Versuch hat bei Hans solche Wutanfälle ausgelöst, dass der Kleine zu ihm zurückgebracht werden musste.
Während dieser Wutanfälle hat Hans weder geweint noch auf den Boden gestampft. Zuerst hat er mit der Stirn heftig gegen irgendetwas Hartes in seiner Nähe geschlagen, Wand, Tür, Autoscheibe, Stuhllehne oder Baum. Ohne zu schreien, ohne einen Mucks. Dann hat er sich einfach auf den Boden geworfen und nicht nur Essen und Trinken, sondern auch jede Bewegung verweigert, und sei es, um auf die Toilette zu gehen, solange er seinen Bruder nicht zurückbekam.
Wenn der Kleine von seinem Zwilling getrennt wurde, hat er nicht so spektakulär reagiert, sondern die Ohren gespitzt und sich auf die Lauer gelegt, als ob er aus der Ferne Hans’ Herzschlag lauschen wollte.
Zwei Tage nach ihrer Geburt, der Kleine war noch mit Sonden und Kathetern übersät, hatte der Kinderarzt befunden, dass zwei verschiedene, aber dicht nebeneinander liegende Brutkästen günstiger für die Zwillinge wären. Nach der Trennung waren kaum ein paar Stunden vergangen, da war Hans, der bislang eher kräftig gewesen war, matt und müde geworden, bis auch er Atemprobleme bekommen hatte. Mit dem Kleinen war es genauso schnell bergab gegangen, wobei man in seinem Fall gedacht hatte, dies liege in der Natur der Dinge. Kaum waren sie wieder Seite an Seite gelegen, waren beide wieder zu Kräften gekommen.
Hans hätte das Krankenhaus zwei Monate vor dem Kleinen verlassen können. Corinne und Pierre hatten zweimal versucht, ihn nach Hause zu holen, und jedes Mal war das Gleiche passiert: Nach drei Tagen hatten sie Hans in die Notaufnahme bringen müssen. Für die restliche Zeit im Brutkasten hatte der Kinderarzt ein kleines Doppelbett den jeweiligen Bedürfnissen der Zwillinge anpassen lassen.
Zu Hause hatten sie so lange im selben Bett geschlafen, bis der Psychologe dazu geraten hatte, jedem sein eigenes Zimmer zu geben, sein eigenes Universum.
Hans und der Kleine waren dreieinhalb Jahre alt gewesen. Mit großem Interesse und voller Neugierde hatten sie dabei zugesehen, wie ihre Zimmer eingerichtet wurden. Bisher hatten sie sich alles geteilt: Spielzeug, Kuscheltiere, Bücher, Poster, CDs, Strümpfe, Pullover. Nur einige wenige Kleidungsstücke waren den Zwillingen je eigen gewesen, aus dem einfachen Grund, dass sie unterschiedlich groß waren. Der neuen Strategie zufolge sollte jeder seine persönlichen Sachen haben, die zudem deutlich unterscheidbar sein sollten.
Damit die Kinder sich langsam an die Veränderung gewöhnen konnten, hatten sie sie auf sieben Tage ausgedehnt und mit einem Gespräch begleitet. In dieser Woche hatten Hans und der Kleine das Interesse an allem verloren, was sie normalerweise beschäftigte, um stattdessen aufmerksam die Vorgänge um sich herum zu verfolgen. Scheinbar ohne jeden Anflug von Protest. Corinne und Pierre hatten deshalb gedacht, dass sie das Spiel gewonnen hätten.
Eines Abends war dann das neue Einschlafritual in getrennten Zimmern vollzogen worden. Die Zwillinge hatten sich auf dem Flur einen Gutenachtkuss gegeben, ehe Hans von Pierre in das eine und der Kleine von Corinne in das andere Zimmer, direkt nebenan, begleitet worden war. Sie hatten vierstimmig das Lied über die heia machenden Küken gesungen und einander süße Träume gewünscht. Die Nachtlichter waren ein- und die Deckenlampen ausgeschaltet worden.
Erleichtert hatten sich Corinne und Pierre auf dem Flur getroffen.
Auf dem Treppenabsatz hatte Alexandra gesessen und alles belauscht. Sie hatte sich über die Trennung gefreut. Seit die Zwillinge auf der Welt waren, hatten sie ihr nicht nur die Eltern weggenommen, sondern sie auch konsequent aus ihrer selbstgenügsamen Zweisamkeit ausgeschlossen. Obwohl sie die Ältere war, hatten sie nie ihre Hilfe oder ihren Rat angenommen. Geschweige denn, dass sie sie hätten mitspielen oder ihr gemeinsames Reich betreten lassen.
Im Grunde hasste sie Hans. Dem Kleinen würde sie gern näherkommen, wäre gern mit ihm befreundet, obwohl er vier Jahre jünger war. Jetzt, da es getrennte Zimmer gab, hatte sie vielleicht eine Chance.
Seit der Ankunft der »Monster«, wie sie die Zwillinge oft nannte, hatte Alexandra kaum noch gelacht. An diesem Abend aber hatte Corinne gespürt, dass ihre Tochter guter Dinge war. Die Vorkehrungen, die getroffen worden waren, um die Zwillinge selbständiger zu machen, würden ihr womöglich mehr helfen als alles andere, was Corinne und Pierre bislang versucht hatten, um ihren Schmerz zu lindern.
Doch als Corinne und Pierre gegen Mitternacht einen letzten Blick auf die Zwillinge hatten werfen wollen, waren beide im Bett des Kleinen gelegen.
Von da an war ein stiller Kampf entbrannt, der sich über mehrere Monate erstreckt hatte. Bevor Corinne und Pierre selbst ins Bett gegangen waren, hatten sie den schlummernden Hans in sein Zimmer zurückgetragen. Aber sobald die Eltern eingeschlafen waren, hatte sich der Kleine zu Hans geschlichen. Mitten in der Nacht wurde er in sein Bett zurückgetragen.
Doch noch vor Sonnenaufgang war Hans wieder bei dem Kleinen gewesen.
Auch Gegenstände waren von dem einen ins andere Zimmer gewandert. Eines Morgens hatten sämtliche Kleidungsstücke in Hans’ Schubladen und alle Schuhe im Schrank des Kleinen gelegen. Und so weiter.
Am Ende hatte Pierre die Wand zwischen den Zimmern eingerissen.
Die Zwillinge sind neun Jahre alt. Manchmal schlafen sie noch im selben Bett. Aber nicht immer.
Corinne würde gern wissen, welcher von beiden entscheidet, ob sie heute Nacht getrennt oder gemeinsam schlafen.
SECHSTES KAPITEL
Hans bringt ein kaum hörbares »Mmmm« hervor, indem er die Vibration in der Nase eine Weile ausdehnt, ohne am Ende die Lippen zu öffnen, um den Laut auszustoßen.
Langsam nähert sich der Kleine seinem Bruder, ohne etwas zu sagen und sogar ohne ihn anzusehen.
Am frühen Nachmittag sind die Cousins und Cousinen gekommen. In der alten Scheune des Nachbarn haben sie miteinander gespielt, gebadet, sich gebalgt.
Am Lagerfeuer ist es allmählich ruhiger geworden. Eine wohlige Mattigkeit hat von den Kindern Besitz ergriffen, als ob eine große Anspannung von ihnen abgefallen wäre. Gleichzeitig wurde Hans von dem Gefühl der Leere und der Einsamkeit übermannt, das ihm solche Angst macht. Das Gefühl ist da, und Hans weiß, dass er damit nicht allein ist. Er spürt es unablässig bei Alexandra.
Aber nie bei dem Kleinen.
Ein »Mmmm« hat genügt, um den Bruder herbeizurufen und an seinem stillen Glück teilzuhaben.
Seit ihrem ersten Brabbeln hat Hans für sich und den Kleinen eine eigene Sprache entwickelt und mit der Zeit perfektioniert. »Für unsere internen Angelegenheiten«, wie er sich ausdrückt. Es handelt sich um einen umfangreichen, vielschichtigen Code.
Hans braucht auch unzählige Laute, Wörter und Bilder, um all die obskuren Gedanken zu erfassen, die in seinem Kopf herumschwirren, die ihn verstören – und die niemand je wirklich anspricht. Zwar hat man ihm beigebracht, wie man die Pflanzen, die Tiere, die Körperteile, die Länder, ja sogar die Sterne bezeichnet, aber nicht das, was ihn umtreibt und so flüchtig ist wie ein Duft.
Hans hebt den Kopf und wendet den Blick leicht nach rechts. Auf der anderen Seite des Feuers sitzt Alexandra und beobachtet ihn. Er weiß, dass sie den geheimen Ruf trotz des Trubels gehört und die Reaktion des Kleinen gesehen hat. Und er weiß auch, dass ihr das wehtut.
Lange Zeit hat er sich ihr überlegen gefühlt, weil er zweisam war und allen außer sich und dem Kleinen jegliche Gefühle abgesprochen hatte. Als ob alle anderen nur große, leere Schalen wären. Aber vor ein paar Monaten hat er einen Blick erhascht auf Alexandras innere Welt, die sie so gut vor ihnen verbarg.
Seit Hans als Baby in die Familie gekommen war, hatte er Alexandra als Bedrohung empfunden. Hartnäckig hatte sie versucht, sich in das Leben der Brüder einzumischen, sich zwischen sie zu drängen, die beiden ihr und den anderen gleich zu machen. Hans hatte schnell eine dicke Mauer um sich und seinen Zwilling errichtet.
Kaum hatte Alexandra sich hingesetzt, um Hans unter Aufsicht der Eltern zu halten, hatte er sie angespuckt. Wenn man ihr stattdessen den Kleinen in die Arme hatte legen wollen, hatte Hans geschrien, bis man seinen Bruder zu ihm in die Wiege oder den Laufstall zurückgebracht hatte.
Später hatte Hans seiner Schwester nicht nur den Zutritt zu ihrem heiligen Reich, sondern auch beinahe jede mündliche Kontaktaufnahme verweigert.
Zuerst war Alexandra ein weinerliches Kind geworden, das bei der geringsten Zurückweisung durch Hans in die Arme der Mutter geflüchtet war. Mit der Zeit hatte sie aufgehört zu weinen und sich abgekapselt, jeder weiteren Versuchung widerstehend, sich den kleinen Brüdern anzunähern.
Hans hat die Gefahr gebannt, die Alexandra für sie darstellte. Er hat keine Angst mehr vor ihr.
Obwohl sie die Ältere war, hatte er sie zu seinem Fußabtreter machen wollen, um seinen Triumph zu besiegeln. Doch entgegen seinen Hoffnungen hatte sie sich nicht beirren lassen, keinen Angriff erwidert, sich keiner sarkastischen Bemerkung gebeugt, ja einfach nicht darauf reagiert. Manchmal waren ihr die Tränen in die Augen gestiegen, aber mehr nicht.
Enttäuscht hatte Hans ein paar Wochen lang versucht, den Kleinen in seine Machenschaften gegen die Schwester hineinzuziehen, um mehr Wirkung zu erzielen. Aber der Kleine hatte nicht mitspielen wollen, und Alexandra hatte mehrmals Hans’ Unmut bemerkt, wenn der Kleine sich gesträubt hatte, sich den Attacken anzuschließen.
Verzweifelt hatte Hans eines Tages beschlossen, einen großen Coup zu landen.
Seit ihrem Rückzug hatte Alexandra angefangen, emsig in kleine Hefte zu schreiben, die sie sorgsam in ihrem Zimmer versteckt hielt, in den abschließbaren Schubladen des alten Sekretärs. An einem Samstagmorgen, Alexandra war beim Klavierunterricht, hatte Hans das Schloss einer Schublade aufgebrochen und zwei Hefte entwendet.
Dann hatte er den Kleinen unter die Eiche am Fluss geschleift und dort mit vor Ironie triefender Stimme aus dem Tagebuch ihrer Schwester vorgelesen. Er hatte seinen Bruder dazu bringen wollen, zusammen mit ihm in Alexandras Innerstes einzudringen. Aber nach wenigen Seiten hatte der Kleine angefangen leise zu weinen, und auch Hans war das Lachen schnell im Hals stecken geblieben.
Wovor er solche Angst hat – vor der schrecklichen Einsamkeit, der gähnenden Leere, die nur der Kleine ausfüllen kann –, Alexandra kennt das Gefühl nicht nur genauso gut, sondern sogar noch besser als er. Hans spürt immer deutlicher, dass er eines Tages, wenn sein Bruder sterben sollte, genauso allein sein wird wie sie.
Der Kleine ist oft krank. Lange Zeit hat sich Hans nicht die geringsten Sorgen um ihn gemacht. Als ob der Kleine einfach die Krankheiten beider Zwillinge auf sich nehmen würde. Hans hat sich im Gegenzug um die ›Öffentlichkeitsarbeit‹ gekümmert. In letzter Zeit ist er sich allerdings der Risiken bewusster, denen der Kleine durch diese Art der Arbeitsteilung ausgesetzt ist.
Statt morgens seine Vitaminpillen zu nehmen, lässt Hans sie jetzt heimlich in die Hosentasche gleiten. Später gibt er sie dem Kleinen, der schon seine eigenen Pillen geschluckt hat. Er achtet darauf, dass sein Zwilling nicht friert, genug isst, sich häufig die Hände wäscht und nicht zu nah an verschnupfte oder anderweitig ansteckende Kinder herankommt.
Die übertriebene Aufmerksamkeit, die sein Bruder ihm widmet, bringt den Kleinen manchmal zum Lachen, doch er lässt ihn gewähren. Er weiß genau, dass sie einer furchtbaren Angst entspringt, die Hans sich nur zögerlich einzugestehen wagt.
Statt Alexandra verächtlich anzusehen, was er vor der Lektüre ihrer Hefte getan hätte, senkt Hans den Blick zum Feuer.
Zwei Cousins bringen noch die Kraft auf, ein paar Witze zu reißen, doch Hans kann nicht mehr darüber lachen.
Manchmal wäre er Alexandra gern näher, wie auch jetzt gerade, um ihr etwas von der Wärme abzugeben, die der Kleine ihm schenkt. Doch er befürchtet, sich lächerlich zu machen, weil er noch nie einen Versuch in diese Richtung gewagt hat. Außerdem ist der Abgrund in Alexandra so tief, dass er Angst hat, hineinzufallen.
Kaum merklich schmiegt Hans sein Bein an das seines Bruders.
SIEBTES KAPITEL
Hans steckt die Schlüsselkarte in das elektronische Türschloss und drückt die Klinke herunter, an die er das kleine Schild mit der Aufschrift Bitte nicht stören gehängt hat.
Bereits seit drei Jahren nimmt Pierre, wenn er geschäftlich in der Stadt übernachten muss, abwechselnd einen der Jungen mit. Nach Feierabend sehen sie sich gemeinsam Theaterstücke an, besuchen Ausstellungen oder Sportveranstaltungen. Oder sie setzen sich einfach auf eine Parkbank und füttern die Vögel. Die Geschmäcker der Zwillinge sind verschieden.
Als Pierre den Zwillingen zum ersten Mal vorgeschlagen hat, ihn einzeln zu begleiten, hat Hans ihm eine scharfe Abfuhr erteilt. Zu seinem Erstaunen hat sein Bruder jedoch ohne Umschweife eingewilligt.
In der Nacht vor ihrer Abreise ist Hans allein in seinem Bett geblieben, als ob er seinen Zwilling bestrafen wollte. Doch die Angst war so erdrückend, dass er nicht schlafen konnte.
Später ist der Kleine zu ihm gekommen und hat sich an ihn gekuschelt, bis Hans schließlich eingeschlafen ist. Er hatte Albträume. Nach dem Aufwachen konnte er sich nur an ein furchtbar schrilles Geräusch erinnern, wie das Kreischen der riesigen Kettensäge, mit der sein Vater und seine Onkel die große Linde gefällt haben, in die der Blitz gefahren war.
Am nächsten Morgen hat Hans zugesehen, wie der Kleine mit Pierre das Haus verlassen hat, ohne ihn.
Das nächste Mal, als Pierre ihn mitnehmen wollte, ist Hans sofort auf das Angebot eingegangen. Er hat allerdings darauf bestanden, Ticopin mitzunehmen. Da Pierre absolut dagegen war, hat Hans sich aber letztendlich gefügt.
Pierre hat etwas gefunden, das Hans während der kurzen Trennungen von seinem Zwilling beruhigt. Tatsächlich hat ihn der Kleine auf diese Spur gebracht.
Beim Betreten der Hotellobby hat Pierre zum ersten Mal bemerkt, dass der Kleine traurig war. Im Fahrstuhl zu ihrem Zimmer hat er versucht, ihn von seinem Kummer abzulenken. Pierre hatte Angst vor dieser Traurigkeit, genauso wie Corinne zu Hause Hans’ Reaktion fürchtete. Natürlich waren die Zwillinge schon einmal getrennt gewesen, nicht zuletzt während der Krankenhausaufenthalte des Kleinen, aber nie zuvor auf Initiative eines der Jungen, ›einfach so‹.
Sobald sie ihr Zimmer erreicht hatten, hat sich der Kleine auf die Bettkante gesetzt. Pierre hat den Fernseher eingeschaltet, aber nirgendwo lief ein Zeichentrickfilm, und so hat er das Gerät wieder ausgeschaltet.
Pierre bereute es jetzt beinahe, den Zwillingen einen solchen Vorschlag gemacht zu haben. Die Zusage des Kleinen hatte ihn genauso überrascht wie Hans. Nun stand er da, in diesem Hotelzimmer, und wusste nicht recht, was er mit dem traurigen Kind anstellen sollte, das wider Erwarten beschlossen hatte, getrennt von seinem Bruder bei seinem Vater zu sein.
Es war ein Wunder, dass der Kleine hier saß, mit ihm ganz allein. Pierre hätte sich gern darüber gefreut, spürte aber nur eine gewisse Panik im Angesicht des kleinen Jungen, der jetzt still vor sich hinweinte, was er immer wieder ohne offensichtlichen Grund tat.
In solchen Momenten gesellt Hans sich einfach zu ihm. Still und stumm sitzt er dann da, neben seinem Bruder. Pierre hat beschlossen, Hans’ Beispiel zu folgen. Er hat sich dicht neben den Kleinen gesetzt und ihn in Ruhe weinen lassen.
Nach einer Weile hat der Kleine Pierre auf die Wange geküsst, ist aufgestanden und leichtfüßig in Richtung Badezimmer gelaufen. Als er zurückgekommen ist, hat er das Licht eingeschaltet und gesagt:
»Komm und schau!«
Aus dem Spiegelschrank des Badezimmers lächelten ihnen unendlich viele Ebenbilder der Zwillinge entgegen.
Wann immer Hans das Hotelzimmer betritt, schließt er sich für eine Weile im Badezimmer ein. Pierre hat nie mit ihm über den Zauberspiegel gesprochen. Er hat es ihn selbst herausfinden lassen.
Anders als der Kleine läuft Hans gerne im Hotel herum. Die Angestellten kennen und mögen ihn. Dabei hat es eine Weile gedauert, bis sie begriffen haben, dass Pierre nicht immer mit demselben Jungen unterwegs ist, sondern dass es zwei von ihnen gibt.
Kürzlich hat der Hoteldirektor gefragt, ob Pierre nicht eines Tages beide Zwillinge mitbringen wolle.
Das ist das Letzte, was Pierre tun würde.
ACHTES KAPITEL
Draußen tobt ein Sturm. Die März-Stürme sind immer die schlimmsten. Alexandra blickt aus dem Wohnzimmerfenster und schimpft. Schon seit Stunden sitzt sie dort, lauscht dem Radio, telefoniert ununterbrochen und schäumt.
Alexandra feiert heute ihren vierzehnten Geburtstag und muss sich der Tatsache beugen: Etliche Straßen sind gesperrt und keiner ihrer Gäste kann kommen.
Corinne kann nicht einmal das Haus verlassen, um den Kuchen abzuholen, den sie für Alexandra bestellt hat. Noch dazu ist seit dem Morgen der Strom ausgefallen. Zusammen mit Pierre versucht sie ein kaltes Buffet zusammenzustellen, das zumindest ein bisschen festlich aussieht. Aber sie ist nicht bei der Sache.
»Wir sind zu weitab vom Schuss. Warum können wir nicht in der Stadt wohnen, wie alle anderen auch?«
Seit einem Jahr beschwert sich Alexandra ständig darüber, dass sie auf dem Land leben. Tatsächlich wohnen sie nur fünfundzwanzig Minuten von der Großstadt entfernt, für Alexandra aber bedeutet das »am Ende der Welt«, »im hintersten Winkel«, »mitten in der Pampa«. Schon jetzt leitet sie ihre Sätze regelmäßig mit »wenn ich ausgezogen bin« ein. Sie fühlt sich nicht wohl in diesem Haus.
Obwohl die Atmosphäre sich deutlich entspannt hat. Hans ist Alexandra gegenüber gar nicht mehr feindselig. Manchmal hat sie sogar den Eindruck, dass er auf ungeschickte Weise versucht, nett zu ihr zu sein. Der Kleine ist schon immer nett zu ihr gewesen, wenn auch im Verborgenen, weil Hans eifersüchtig über ihn wacht. Die Wärme des Kleinen ist jedoch stärker als alle Mauern, die Hans so beharrlich errichtet. Das weiß Alexandra. Eines Tages hat sie den Beweis dafür erhalten.
Zum zehnten Geburtstag hatten Corinne und Pierre ihr eine kleine, getigerte Katze geschenkt, in der Hoffnung, Alexandra würde sie zu ihrer Freundin, ihrer Vertrauten, machen. Mademoiselle war bis in den Frühling hinein fast die ganze Zeit über in Alexandras Zimmer geblieben, weil Hans seinem Pudel jedes Mal, wenn die Katze ihm im Haus begegnet war, »Fass!« zugeraunt hatte. Und der Hund war dem Kätzchen hinterhergejagt, ohne ihm allerdings je etwas zuleide zu tun.
An einem Tag Anfang Mai hatte Alexandra sich vergewissert, dass Hans mit Ticopin bei den Nachbarn war, ehe sie mit Mademoiselle auf die Terrasse hinter dem Haus gegangen war. Aber rein zufällig war genau in diesem Moment Hans auf seinem Fahrrad aufgetaucht, mit Ticopin im Schlepptau.
Ohne dass Hans ihm das Kommando gegeben hätte, war der große Pudel geradewegs auf die Katze zugestürmt, die sich schnell in Richtung Wald davongemacht hatte. An diesem Abend war sie nicht nach Hause zurückgekehrt.
Am Wochenende darauf hatten Corinne und Pierre mit den Cousins und Cousinen eine Suchaktion im Wald veranstaltet. Alexandra aber war klar gewesen: Je länger die Suche dauerte, desto geringer würde die Wahrscheinlichkeit, Mademoiselle wiederzufinden. Sie war ein ängstliches Kätzchen und das lärmende Treiben würde sie für immer in die Flucht schlagen.
Am Montag hatte Alexandra wegen hohen Fiebers nicht in die Schule gehen können. Die Zwillinge hatten an diesem Tag frei gehabt. Hans war am frühen Nachmittag an einem Videospiel hängen geblieben. Der Kleine hatte unterdessen der Nachbarin im Garten geholfen. Gegen drei war Hans nach draußen gegangen, um nach seinem Bruder zu sehen. Da war der Kleine jedoch schon seit über einer Stunde nicht mehr bei der Nachbarin gewesen.
Corinne, Hans und Madame Dubreuil hatten zunächst überall dort nach ihm gesucht, wo sich die Zwillinge normalerweise aufhielten. Ohne Erfolg.
Hans hatte gezittert wie Espenlaub.
Dann hatte Corinne Pierre angerufen und gebeten, früher von der Arbeit nach Hause zu kommen. Schnell war ein zweiter Suchtrupp auf die Beine gestellt worden, diesmal mit den Onkeln, Tanten und Nachbarn. Sie hatten vermutet, der Kleine könnte in den Wald zurückgegangen sein, wo sie am Vortag Mademoiselle gesucht hatten. Auch unten beim Becken und im Fluss am anderen Ende des Grundstücks hatten sie gesucht.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatten sich alle in der großen Küche versammelt. Alexandra war trotz ihres Fiebers aufgestanden und hatte sich hartnäckig geweigert, wieder ins Bett zu gehen. Hans hatte sich in seinen mittlerweile viel zu kleinen Kinderschaukelstuhl gekauert, den er unbedingt hatte behalten wollen, sich gewiegt und den leeren Schaukelstuhl des Kleinen mit sich gezogen. Als er noch ganz klein gewesen war, hatte Hans die Armlehnen der Schaukelstühle mit Schnüren zusammengebunden, damit sie im Einklang schwingen konnten.
Es war eine finstere Nacht gewesen. Ein kalter Regen war niedergegangen. Man hatte in Erwägung gezogen, erst am nächsten Morgen weiterzusuchen, doch Pierre hatte davon nichts hören wollen. Gerade hatte er mit zweien seiner Brüder erneut aufbrechen wollen, um notfalls die ganze Nacht lang zu suchen, da war – tropfnass und schmutzig, aber erkennbar vergnügt – der Kleine aufgetaucht.
Er war geradewegs auf Alexandra zugelaufen, um ihr Mademoiselle zu überreichen, die er den ganzen Weg über in seine Strickjacke gehüllt hatte.
Jedem anderen Kind hätte man Vorwürfe gemacht, aber nicht dem Kleinen. Im Gegenteil. Sie hatten gefeiert, bis alle glücklich und erleichtert nach Hause gegangen waren.
Dann war alles wieder wie vorher geworden. Hans hatte die Wärme des Kleinen für sich allein beansprucht und sorgfältig die Dosis bestimmt, die er den anderen davon abgeben wollte.
Alexandra hat manchmal das Gefühl, die Geschichte von dem Kleinen, der ihr Mademoiselle zurückbringt, nur geträumt zu haben. Sie hat viel Fantasie. Aber es ist wirklich passiert. Ihre Eltern sprechen gelegentlich noch davon.
Sie kann die Gefühle, die sie gegenüber den Zwillingen hegt, jetzt besser einordnen. Der Anblick ihrer Brüder, gemeinsam verpuppt in dem schützenden Kokon, macht sie krank. Als ob sie ohne Arme und Beine geboren und dazu verdammt wäre, Hans und dem Kleinen dabei zuzusehen, wie sie unaufhörlich vor ihrer Nase herumrennen und miteinander spielen. Am Geburtstag der Zwillinge Mitte April hat es nie einen Sturm oder auch nur das Mindeste gegeben, was die Cousins, Cousinen und Freunde am Kommen gehindert hätte.
Wenn Alexandra wütend ist, dann immer auf Hans. Als ob er die Ursache all ihres Unglücks einschließlich des Sturms wäre. In solchen Momenten steigt stets dieselbe Vision in ihr auf.
Hans fährt auf Inlineskates die ›Klippe‹ hinunter, was er tatsächlich oft tut, obwohl die Eltern es verboten haben. Der Kleine hat Angst um seinen Bruder, läuft ihm am Straßenrand hinterher und ruft ihm zu, dass er anhalten soll. Am Ende wird der Kleine von dem Auto erfasst, das eigentlich Hans ausweichen wollte.
Das Szenario in Alexandras Kopf ist sehr lebendig. Und die Szene, die sie immer wieder von Neuem abspult, als ob sich dadurch der Schmerz in ihrem Inneren lindern ließe, ist der Moment, da Hans neben dem Kleinen kniet und sich ohne ein Wort, ohne einen Wehlaut, die Stirn am Pflaster blutig schlägt.
Statt jedoch Linderung zu verspüren, ist Alexandra jedes Mal so erschüttert, dass sie in Schluchzen ausbricht, als wäre sie Hans und hätte gerade ihren Zwilling verloren.
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