Über die Seele

"Über die Seele" (De Anima) ist eines der bedeutendsten Werke des persischen Universalgelehrten Avicenna (Ibn Sīnā, 980–1037) und zählt zu den grundlegenden Texten der mittelalterlichen Philosophie und Psychologie. In diesem philosophischen Traktat entfaltet Avicenna eine tiefgreifende Analyse der menschlichen Seele im Kontext aristotelischer Metaphysik, ergänzt durch seine eigene originelle Synthese von islamischer Theologie, neuplatonischem Denken und empirischer Beobachtung.

Avicenna unterscheidet zwischen verschiedenen Seelenteilen – der vegetativen, der animalischen und der rationalen Seele – und widmet sich insbesondere der Unsterblichkeit und Einzigartigkeit der rationalen Seele. Seine berühmte Gedankenübung des «fliegenden Menschen» diente dazu, die Selbstwahrnehmung der Seele unabhängig vom Körper zu beweisen – ein früher Beitrag zur Diskussion um Bewusstsein und Identität.

Das Werk war wegweisend für die arabisch-islamische wie auch für die lateinische Scholastik. Insbesondere im mittelalterlichen Europa, wo Avicennas Schriften ins Lateinische übersetzt wurden, beeinflussten seine Theorien maßgeblich Denker wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Seine Philosophie bildete eine wichtige Brücke zwischen dem griechischen Denken der Antike und der mittelalterlichen abendländischen Gelehrsamkeit.

Avicenna war nicht nur Philosoph, sondern auch bedeutender Arzt, Naturforscher und Logiker. Sein Hauptwerk Der Kanon der Medizin blieb über Jahrhunderte ein Standardwerk der Heilkunde. Als Vertreter des islamischen Rationalismus verband er metaphysische Spekulation mit systematischer Argumentation und beeinflusste somit das philosophische Denken weit über die Grenzen der islamischen Welt hinaus.

"Über die Seele" ist ein Schlüsseltext zum Verständnis des mittelalterlichen Menschenbildes und der Entwicklung der philosophischen Psychologie. Es dokumentiert eindrucksvoll Avicennas intellektuelle Tiefe und seine bleibende Bedeutung als einer der größten Denker der Weltgeschichte.