Kitabı oku: «LiebesTaumel»
Vorwort
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Impressum neobooks
LiebesTaumel
von
Axel Adamitzki
Vorwort
Hinweis:
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Ausgabe des Buches, das 2015 unter dem Titel ›Das Erbe von Hohenberg‹ und 2016 unter dem Titel ›Heritage‹ beim Droemer-Knaur Verlag unter meinem Pseudonym ›Andrea von Schlondorf‹ erschienen ist. Alle Rechte an dem Werk liegen beim Autor.
Die Kunststudentin Vivian liebt den jungen Schauspieler Clemens, der seine erste Rolle in einer Daily Soap übernommen hat. Vivian hat Angst, dass er sie über seine mögliche Berühmtheit vergessen könnte.
Doch dann kommt plötzlich alles anders. Vivians unbekannter Vater, der vor Wochen verstorben ist, hat ihr den Titel einer Gräfin und die Hauptanteile einer Privatbank hinterlassen. Die Adelsfamilie, zu der sie auf einmal auch gehört, ist ein Haifischbecken. Man ist nicht bereit, sie als Erbin zu akzeptieren. Man bedroht sie, man macht ihr Angst, man will sie loswerden. Über all das verlieren sich Vivian und Clemens mehr und mehr aus den Augen.
Hat ihre Liebe dennoch eine Chance? Oder gibt es da eine andere Liebe?
Impressum
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Das nachfolgende Werk ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch stimmen Orte und ihre Beschreibungen nicht mit der Wirklichkeit überein. Markennamen sowie Warenzeichen, die im vorliegenden Werk Verwendung finden, sind Eigentum ihres rechtmäßigen Eigentümers.
Alles ist nur Fiktion, und doch – emotional und abstrakt betrachtet – wäre alles genau so möglich.
ca. 195 Normseiten.
Axel Adamitzki
Scheiblerstraße 81
47800 Krefeld
adamitzki@t-online.de
www.axel-adamitzki.de
Schlusslektorat: Bianca Weirauch, Weida
Covererstellung: A. Adamitzki, Krefeld
Bildnachweis: www.depositphotos.com
Kapitel 1
Der Februar ging zu Ende. Trüb und grau drängte ein neuer Morgen durch das Fenster, blieb bald vollständig in den dünnen geschlossenen Gardinen hängen und schaffte es kaum in die hinterste Ecke des Appartements, in der das Bett stand.
Vivian lag in Clemens´ Arm. Er strich ihr zärtlich durch das dunkelbraune, fast schwarze Haar und wartete auf das erste Blinzeln, auf das erste Anzeichen, dass sie erwachte.
Das Streicheln holte Vivian aus einem traumlosen Schlaf und brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Es war eine Wirklichkeit, die ihr Leben seit gestern Abend für die nächsten sechs Monate verändern sollte – so war es geplant.
Das möblierte Appartement gehörte der Firma, die die Daily Soap ›Die Liebe siegt‹ produzierte und war Clemens zur Verfügung gestellt worden. Vor einem Jahr hatte er die Schauspielschule in Stuttgart erfolgreich abgeschlossen, und die Rolle eines Schurken in dieser Soap war sein erstes wirkliches Engagement.
»Das ist mein Sprungbrett«, hatte er gesagt, gebrüllt, schlankweg frohlockt, als er die schriftliche Zusage in den Händen gehalten hatte. Und immer wieder war er wie ein kleiner Junge durch seine Wohnung in Überlingen gehüpft. »Mein erstes Engagement, mein Sprungbrett«.
Vivian freute sich für ihn, doch machte dieses ›Sprungbrett‹ sie auch kleinmütig.
Villingen-Schwenningen war nur etwa achtzig Kilometer von Überlingen entfernt, das war nicht das Problem, die Schauspielschule in Stuttgart war weiter weg gewesen, vielmehr beunruhigte sie die Veränderung, das wirkliche Leben, das jetzt für Clemens begann.
Und was wird dann aus uns?, hatte sie sich während seines Jubels immer wieder gefragt – innerlich und lautlos natürlich. Äußerlich hatte sie sich beinahe aufrichtig für ihn gefreut.
Ihre gemeinsamen Pläne, die anders ausgesehen hatten, waren durch dieses Engagement durcheinandergeraten. Eine gemeinsame Wohnung hatten sie, zumindest für das nächste halbe Jahr, gedanklich zurückgestellt. Einen anderen Wunsch, ihren sehnlichsten, von dem Clemens noch nichts wusste, den sie aber seit längerer Zeit in sich trug, würde sie erst in ein oder zwei Monaten langsam an ihn herantragen können. Vielleicht! Jetzt ging das nicht, er würde sich bedrängt fühlen, verpflichtet, am Ende würde er ihr diesen Wunsch verübeln und sich vorschnell und ungewollt von ihr zurückziehen – ein schrecklicher Gedanke.
Vivian hob den Kopf, küsste ihn zweimal auf die nackte Brust, legte die Hand auf seinen muskulösen Oberarm und schmiegte sich wieder an ihn. Sie wollte nicht aufstehen, noch nicht.
Gestern Abend hatten sie einige persönliche Sachen aus seiner Wohnung in Überlingen hergebracht, hatten versucht, diesem Appartement eine eigene, eine wohnliche Note einzuhauchen: durch sieben Bilder, die jetzt die Wände im Flur und in dem Wohn- und Schlafraum verschönerten; durch einen großformatigen Kalender mit Motiven von Mark Rothko – an der Wand neben der Küchenzeile –; durch Bücher, die inzwischen auf dem Regal standen; durch ihre Lieblingsbettwäsche, schlafende Katzen auf lindgrünem Hintergrund und durch weitere ausschmückende Details.
Sie waren erst lange nach Mitternacht fertig gewesen. Vivian wäre fast schon unter der Dusche eingedöst, und sie hatte kaum das zweite Bein im Bett gehabt, da war sie bereits eingeschlummert – obwohl sie es nicht wollte, obwohl sie ihn noch verführen wollte. Sie hatte sich den ganzen Tag darauf gefreut ... und war dann vor Erschöpfung einfach eingeschlafen.
»Guten Morgen, da bist du ja«, sagte Clemens. »Hast du gut geschlafen?« Zärtlich küsste er ihr Haar. »Und hast du was Schönes geträumt? Du weißt ja, was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.«
Vivian überlegte nicht lange und antwortete, jetzt hellwach: »Leider nicht. Ich hab nur einfach geschlafen ... wie ein Stein.«
Er hob eine Augenbraue und dachte kurz nach. »Das freut mich, denn ich glaube, das ist auch ein gutes Zeichen.« Und wieder strich er ihr durch das halblange Haar und küsste es dabei. »Möchtest du frühstücken?«
Vivian schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt nicht frühstücken, sie wollte etwas anderes, sie wollte endlich ihn, und sie ließ die Hand von seinem Oberarm nach unten gleiten, strich ihm über die Brust, über den Bauch und tiefer ...
»Was machst du da?«
»Wonach fühlt es sich an?«
»Du böses Mädchen.«
»Möchtest du lieber ein braves Mädchen?«
Sie zog die Hand zurück, und mit arglos naiver Stimme sagte sie: »Wir können natürlich auch frühstücken.«
Sie wusste genau, wie er reagieren würde, wie bald jeder Mann reagieren würde, aber zwischen ihnen war es mehr, war es ein Spiel, beinahe ein Ritual – vom ersten Tag an.
Vor über drei Jahren, als Vivian ihm auf einer Party begegnet war, war es nicht sein sportliches Auftreten, waren es nicht die dunkelblonden, welligen und nackenlangen Haare, die sie beeindruckt hatten, es waren die graublauen Augen gewesen, die ruhig und dabei gelangweilt das Treiben auf der Party beobachteten.
Er stand allein in einer Ecke des Partykellers seines Freundes, hielt sich an einer Flasche Bier fest und schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn er zum Tanzen aufgefordert wurde. Seinem Aussehen nach war er ein Frauentyp, und obwohl er bereits vierundzwanzig war, schien er das nicht zu wissen, denn er wirkte furchtbar schüchtern.
Vivian hatte sich augenblicklich und unsterblich in ihn verliebt, in seine Art, in diese Zurückhaltung, in diese graublauen Augen.
Sie wusste es sofort, er ist es und kein anderer, nie würde sie einen anderen Mann – einen anderen Kerl! – so lieben wie ihn. Doch sie musste es langsam angehen.
Tanzen wollte er nicht, da war sie sich sicher, also stellte sie sich neben ihn, fast blicklos, reichte ihm wie selbstverständlich eine neue Flasche Bier und sah den Leuten auf der Tanzfläche zu.
Ein harmloses Gespräch über Popmusik und Sport entwickelte sich allmählich, wovon beide keine Ahnung hatten, und sie lachten darüber.
Und die nächsten Stunden vergingen rasend schnell, viel zu schnell.
»Ich werde dann mal ...«, sagte Clemens irgendwann mitten im Gespräch. Das ging natürlich nicht, er konnte nicht einfach gehen, Vivian hatte anderes mit ihm vor.
»Wie spät ist es denn?«
»Kurz nach zwei.«
»Oh, dann muss ich auch los. Ich kann dich ja noch ein Stück begleiten, dann musst du nicht so einsam durch die Nacht ... Nicht, dass dich noch irgendwelche Frauen anfallen«, hatte sie scherzhaft gesagt.
Und er war darauf angesprungen. »Gern. Aber dann bringe ich dich nach Hause, wenn du erlaubst.«
Vivian hatte nur genickt, gleichgültig, fast unschuldig, doch waren ihre Gedanken, ihre Gefühle keineswegs unschuldig gewesen, denn sie wollte ihn an diesem Abend, in dieser Nacht ... sie wollte ihn verführen oder von ihm verführt werden.
Vivian gestand sich ein Empfinden, ein Verlangen ein, das sie bis dahin an sich nicht gekannt hatte, wovon sie bis dahin nicht einmal geträumt hatte. Aber sie war auch noch nie so verliebt gewesen.
Er hatte sie brav nach Hause gebracht, und sie hatte ihn noch auf einen Kaffee eingeladen. Er war auf der Couch gesessen, beinahe ein wenig schüchtern, und hatte wohl tatsächlich auf einen Kaffee gewartet. Nach kurzer Zeit ergriff Vivian schließlich die Initiative und küsste ihn vorsichtig, doch er reagierte kaum.
Entmutigt hatte sie Clemens angesehen und mit enttäuschter und naiv klingender Stimme gesagt: »Wir können natürlich auch einen Kaffee trinken.«
Doch diese Worte, dieser enttäuschte, naive Klang ihrer Stimme, hatten ihn geweckt, das hatte er ihr später erzählt. Und sie hatten sich geliebt, den Rest der Nacht und den ganzen nächsten Tag.
Und nach drei Jahren konnten sie noch immer nicht genug voneinander bekommen ... es war echte Liebe ... Und nach drei Jahren reagierte er auch noch immer ungestüm und unersättlich auf diesen enttäuschten, naiven Klang ihrer Stimme – den nur er kannte.
Clemens packte sie, ganz zärtlich. Vivian versank in seinen Armen und schmiegte sich an seinen nackten Körper. So begann es. Immer. Und sie liebten sich, waren bald eins, ein Körper, ein Fühlen, eine Seele. Alles um sie herum war alsbald bedeutungslos und nichtig.
Und nie sollte es anders sein. Nie! Schworen sie einander erneut, als sie verschwitzt und ermattet nebeneinanderlagen.
*
Eine Stunde später saßen sie am Frühstückstisch.
»Wann musst du in diesem Studio sein?«, fragte Vivian und hoffte, nicht wehmütig zu klingen.
»Um eins.«
Es war jetzt kurz vor zwölf.
»Musst du nicht auch noch in die Akademie?«
Sie nickte nur und holte sich eine weitere Tasse Kaffee.
Vivian studierte an der Freien Kunstakademie in Überlingen und stand kurz vor ihrem Abschluss. Die Bildhauerei hatte es ihr angetan, speziell Freiplastiken aus Metall. Trennen, Schleifen und Schweißen waren Arbeiten, die sie während ihres Studiums kennengelernt hatte und die sie von Anfang an fasziniert hatten. Ihre Professoren bescheinigten ihr einen kreativen Blick für das Wesentliche. Letztes Jahr war ihre Plastik ›Mutter mit Kind im Arm‹, die ausschließlich aus großen und kleinen Blechzylindern, aus verschieden großen Blechkegeln und kurzen und langen Stahlstäben bestand, auf der ›Lindauer Kunstwoche‹ für ihre erstaunliche Tiefenwirkung mit dem zweiten Preis gekürt worden. Das Kunstwerk hatte noch an Ort und Stelle einen älteren Liebhaber gefunden, der es für die horrende Summe von fünfundzwanzigtausend Euro gekauft hatte. Dieses Geld befreite Vivian für viele Monate von der finanziellen Unterstützung durch ihre Mutter.
Ab und an hatten sich weitere Interessenten für ihre Objekte gemeldet, doch war es bislang zu keinem erneuten Verkauf gekommen – keines ihrer anderen Objekte hatte einen Preis gewonnen.
Auch heute war sie um drei Uhr mit einem Interessenten verabredet – doch das hatte noch Zeit. Viel wichtiger waren, jetzt und hier, andere Fragen: »Wie lange wird es wohl heute in dem Studio dauern?«
Clemens zuckte die Achseln.
Vivian sah ihn betrübt an. Woher sollte er es auch wissen, es war sein erster Tag am Set, wobei es heute eigentlich nur um Vorbereitungen gehen sollte – ein erstes Kennenlernen war angekündigt.
»Dann schick mir zwischendurch immer mal eine SMS«, sagte sie mit wehmütiger Stimme.
Er lächelte. »Mach ich. Und du auch.«
»Ich?« Vivian sah ihn fragend an, was sollte schon Wichtiges in ihrem Leben passieren.
»Vielleicht verkaufst du ja wieder eines deiner Werke ... für viel, viel Geld.«
»Ach so, ja, vielleicht«, sagte sie und wirkte nicht sehr hoffnungsvoll. Viel wichtiger war er, waren sie beide. »Sehen wir uns dann später noch?«
»Sicher, Vivian. Heute Abend bin ich wieder in Überlingen.«
Das wollte sie hören.
»Ich freue mich schon. Ich möchte dann auch alles erfahren, vom Set, von deiner Rolle, von deinen Kollegen.«
Vivian drängelte ein wenig und war verunsichert, ängstlich. Doch wenn er sie wirklich liebte, dann würde er das verstehen.
»Und ich schicke dir eine SMS«, fuhr sie fort, »kurz bevor ich komme. Dann hast du noch genug Zeit, um deine hübschen Kolleginnen wegzuschicken. Hier oder in Überlingen.«
»Gute Idee. Tu das«, antwortete Clemens mit der gleichen Ironie und nahm sie noch einmal in den Arm.
»Schluss jetzt damit. Heute Abend feiern wir zu zweit meinen Einstand am Set, nur wir beide.«
Ja, das werden wir, dachte Vivian, und sie freute sich.
Wenig später war Vivian dann auch schon auf dem Weg in die Akademie. Der Himmel über ihr glich einer grauen verwaschenen Wand. Ein paar bedeutungslose weiße Wolken, die darunter rasch dahinzogen, veränderten stetig ihre Formen, lösten sich schließlich auf und verschwanden bald gänzlich in dieser tristen Unendlichkeit.
Auf der rechten Spur der Autobahn reihten sich Lkw an Lkw. Vivian, in ihrem roten Polo, fuhr zügig an dieser endlosen Schlange vorbei, als ihr Mobiltelefon piepste.
Sie suchte augenblicklich eine Lücke, fädelte sich ein und fuhr im Strom der Lkw. Sie blickte auf das Display. Ein Herz ... von Clemens. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. Sie schickte ihm einen Kuss und fuhr glücklich weiter. Als sie aus der Schlange ausscheren wollte, piepste es erneut. Lächelnd sah sie nochmals auf das Display. Er hatte etwas geschrieben. Nein! Diese Nachricht war nicht von ihm, sie war von ihrer Mutter:
>Melde dich bitte. Umgehend! Es geht um deinen Vater.
Vivian starrte auf das Display, war fassungslos und erschrocken.
»Was?«, rief sie lauthals ins Innere des Autos. »Um meinen Vater?«
Vivian schüttelte den Kopf. Sie war betroffen. Und wieder bremste sie, unabsichtlich und hart. Der hinter ihr fahrende Lkw musste heftig auf die Bremse steigen. Er hupte, lange und sichtbar genervt. Doch das bekam Vivian kaum mit, denn für einen Moment schnürte sich ihr Magen zusammen, presste sich der Gurt mit unsagbarer Kraft auf den Brustkorb, sie konnte kaum atmen, und sie wurde blass.
»Mein Vater?«, rief sie erneut entgeistert ins Auto und fuhr irritiert weiter. Vivian begriff diese zwei Worte nicht, sie begriff diese SMS ihrer Mutter nicht.
Vivian war fünfundzwanzig Jahre alt. Sie war ohne Vater aufgewachsen und hatte bislang vergebens versucht, von ihrer Mutter zu erfahren, wer ihr Vater war ... und dann diese SMS?!
Ihre Mutter hatte auf all ihre Fragen nach ihrem Vater nur einmal, vor vielleicht fünfzehn, sechzehn oder achtzehn Jahren, geantwortet: »Nie werde ich darüber reden, niemals!« Und danach hatte sie geschwiegen. Nicht eine einzige Andeutung hatte sie je gemacht. Nicht eine.
In Vivians Geburtsurkunde stand: Vater unbekannt.
Aber eigentlich war er mehr als unbekannt, er war nicht existent, er war ihrer Mutter in fünfundzwanzig Jahren nicht ein einziges Wort wert gewesen. Und jetzt diese SMS von ihr: Es geht um deinen Vater!
Vivian schüttelte den Kopf, begriff es nicht, und plötzlich begannen ihre Hände zu zittern, der Kopf, die Beine, die Gedanken ... aber warum? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur eines: Alles andere war schlagartig unwichtig. Alles!
Es geht um deinen Vater.
Wie sehr diese Worte ihr Leben, sie selbst, verändern sollten, wusste sie in diesem Moment noch nicht.
Glücklicherweise.
Kapitel 2
In Villingen-Schwenningen hatte sich der trübe Tag kaum wahrnehmbar aufgehellt. Clemens bemerkte es nicht, er war zu aufgeregt. Der erste Tag am Set.
Susanne Gerhardt und Elisabeth Merck, zwei unbekannte Kolleginnen etwa in seinem Alter, also auch noch keine dreißig, fingen ebenfalls an diesem Freitag an und warteten, wie er, genauso unruhig im Flur an der Tür zum Set. So hatte es ihnen Gabi, die Assistentin des Regisseurs, vor einigen Tagen am Telefon erklärt. »Warten Sie dort, Egi wird Sie da abholen. Kann vielleicht etwas dauern«, waren ihre Worte gewesen.
Egi Bernhardt, der Regisseur, trat zehn Minuten nach eins durch die Tür vom Set, begrüßte sie und bat sie gleich in seinen ›Privatbereich‹, einen kärglichen Raum, ein Kabuff, etwas abseits.
»Tut mir leid, dass es hier so unaufgeräumt ist, aber es findet sich einfach niemand ... egal. Setzt euch.«
Er zeigte auf einen Stuhl und eine schmale Liege, ging um seinen Schreibtisch herum, öffnete das einzige Fenster im Raum und setzte sich.
In einem Regal rechts von ihm stapelten sich Papiere, Unterlagen und Rollenbücher, genauso wie auf dem Schreibtisch, doch zusätzlich standen hier noch drei Aschenbecher und vier leere Kaffeetassen herum.
Elisabeth setzte sich eiligst auf den freien Stuhl, für Susanne und Clemens blieb lediglich die Liege. Vorsichtig, nur auf der Vorderkante, nahmen beide Platz, ohne sich zu berühren, ohne die Liege wirklich zu berühren.
»Ihr müsst entschuldigen, aber das ist im ganzen Studio der einzige Platz, an dem man rauchen darf. Außer draußen natürlich. Raucht ihr?«
Die drei Neuen schüttelten wortlos und im Takt den Kopf.
»Gut für euch«, sagte er, schob einen Aschenbecher zur Seite und griff nach den Rollenbüchern. »Denn draußen ist es noch arschkalt.«
Sein Mobiltelefon klingelte. Hektisch zog er es hervor, blickte auf das Display und drückte den Anrufer wortlos weg.
»Also, jetzt zu euch. Heute läuft es hier nicht gut, ich möchte fast sagen, es läuft richtig beschissen. Aber dafür könnt ihr glücklicherweise noch nichts ... Eure Rollen?« Wieder wühlte er sich durch die Rollenbücher, durch die Skripte, fand aber nicht, wonach er suchte, nahm sein Mobiltelefon hervor und drückte eine Kurzwahltaste.
»Gabi, wo sind denn diese verdammten Skripte für die Neuen? ... Hier liegt nichts ... Die sollen Montag anfangen, und nichts ist organisiert, das ist scheiße, Gabi«, brüllte er augenblicklich ins Telefon. Einen Moment später griff er links auf einen Stapel Papiere, sah sie sich genauer an und maulte: »Nächstes Mal legst du sie ganz einfach offensichtlich hin und versteckst sie nicht auf meinem Schreibtisch, ist das so schwer? Wo bist du überhaupt? ... Dann sieh zu, dass du schleunigst herkommst, hier ist der Teufel los.«
Er legte auf, drückte seine Zigarette aus, zündete sich eine neue an und schob drei Rollenbücher über den Schreibtisch.
»Hier, für euch, ihr wisst ja, welche Rollen ihr übernehmen werdet. Gabi wird gleich zurück sein und sich dann weiter um euch kümmern. Ich muss jetzt wieder. Nebenan ist so eine Art Kantine. Da gibt es Kaffee und Tee und Wasser. Und Sandwiches müssten auch noch da sein. Wartet da so lange.«
Und weg war Egi.
Was für ein Auftritt, dachte Clemens, und er lächelte.
»Du lachst«, sagte Susanne und blickte noch immer in die Richtung, in die Egi verschwunden war. »Ich finde das überhaupt nicht komisch.« Und leise ergänzte sie: »Das kann ja heiter werden.«
Gabi, die Assistentin, eine kleine, pummelige, etwa vierzigjährige Frau mit hektischen Augen, war zwanzig Minuten später bei ihnen.
»Egi habt ihr ja schon kennengelernt. Er ist nicht immer so. Meistens ist er noch schlimmer.« Und sie lachte. Clemens und Elisabeth lachten mit, Susanne fand das überhaupt nicht lustig.
Dann erklärte Gabi ihnen den Ablauf: »Um acht Uhr beginnen die Arbeiten. Alle müssen anwesend sein, egal, wann sie drankommen, außer sie sind an dem Tag definitiv nicht dabei, dann haben sie frei. Jeden Tag wird eine Folge abgedreht, mit Ausnahme der Außenaufnahmen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Hier ...«, sie zeigte auf die Teile im Skript. »Das sind die Sätze, die bis Montag sitzen müssen. Und mit sitzen, meine ich wirklich sitzen. Es gibt ein bis zwei Stellproben, aber keine zehn Klappen. Doch das hat man euch ja im Vorfeld schon alles erklärt. Zeit ist Geld, und dieser Satz gilt hier besonders. Die Maske und alles andere seht ihr dann am Montag. Lernt euren Text, und seid Montag pünktlich um acht hier, und seid ausgeschlafen. Okay?
Übrigens, morgen sind Außenaufnahmen im Stadtgarten, wenn ihr nichts anderes vorhabt, dann schaut mal vorbei. Ihr müsst aber nicht.
Ach eines noch, es kann abends schon mal zehn Uhr werden, bis hier die Lichter ausgehen. Also, nehmt euch nicht schon für acht Uhr was vor, zumindest nicht von Montag bis Freitag. Noch irgendwelche Fragen?«
Die drei Neuen schüttelten nur den Kopf. Sie waren angekommen in der Welt der Soaps, auf dem ›Sprungbrett‹ zu einer steilen Schauspielerkarriere – wie sie gehofft hatten, wie alle hofften. Doch Zeit ist Geld. Und hier hatte man scheinbar weder das eine noch das andere ... in angemessenem Maße.
Kurz vor drei waren sie wieder draußen. Elisabeth verschwand wortlos. Susanne blickte Clemens eindringlich an.
»Hast du noch Lust auf einen Kaffee?«
»Tut mir leid, aber heute geht es nicht.«
»War ja auch nur ... Dann vielleicht ein andermal.«
»Ganz bestimmt.«
Und blicklos verschwand auch Susanne.
Clemens überquerte die Straße und schickte Vivian eine erste SMS: >Alles schon erledigt. Komme gleich nach Überlingen. Freue mich auf dich. LG.
Clemens ging langsam zu seinem Appartement und dachte über die letzten Stunden nach. Er spürte etwas in sich, etwas, das er befürchtet hatte, etwas, das er in seiner Euphorie über dieses Engagement gänzlich zur Seite gedrängt hatte, worüber er jetzt auch nicht nachdenken wollte. Vielleicht irrte er sich ja.
Heute Abend wollte er feiern, mit Vivian, in Überlingen. Nach Villingen-Schwenningen würde er erst am Sonntagnachmittag zurückkehren. Acht Sätze mussten bis Montag sitzen, und dafür benötigte er maximal einen Abend. Und die Außenaufnahmen, morgen, würde er sich schenken.
Gegen vier Uhr, kurz bevor er losfuhr, rief er Vivian an, doch sie meldete sich nicht. Und auch eine weitere SMS – >Ich freue mich auf dich. Kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen und dich zu küssen. LG. –, blieb lange ohne Antwort. Erst als er in Überlingen eintraf, piepste sein Mobiltelefon.
>Ich kann heute nicht. Ich bin bei meiner Mutter. Vielleicht bleibe ich heute Nacht hier. Ich melde mich. LG.
Lange blickte er auf diese Zeilen. Was war geschehen? Kein Herz, kein Kuss, kein ›Ich liebe dich‹, nicht einmal ein ›Ich freue mich auch auf dich‹.
Nichts.
Noch einmal versuchte Clemens, sie zu erreichen, doch wieder sprang nur die Mailbox an.
Nachdenklich blätterte er schließlich das Skript durch und überflog seine acht Sätze, die ziemlich anspruchslos waren.
*
»Hier.« Sabine Schreiber überreichte ihrer Tochter einen Brief. »Ich habe auch einen bekommen. Ich hoffe, das ist reine Formsache. Gern hätte ich dir all das erspart. Und ich hoffe außerdem, dass du mich irgendwann verstehen wirst.«
Vivian sah ihre Mutter verwirrt und fassungslos an. Ohne Umwege war sie von Villingen-Schwenningen direkt zu ihr gefahren.
»Was ist das?«
Zynisch und auch ein wenig ängstlich sagte Vivians Mutter: »Dein Vater ... Er ist vor zwei Wochen gestorben, und das hier ist offensichtlich seine letzte Genugtuung.«
Genugtuung? Wofür?, dachte Vivian. Und merkwürdig, sie empfand nichts bei den Worten ihrer Mutter: Dein Vater ist vor zwei Wochen gestorben ... Seit sechzehn Jahren war ihre Mutter mit Manfred zusammen, und irgendwie war er in der Zwischenzeit zu einer Art Ersatzvater für sie geworden. Doch befremdlich empfand Vivian den Zynismus und die unüberhörbare Angst in den Worten ihrer Mutter. Genugtuung ... eines Toten?
Vivian blickte abermals auf den Brief, und erneut fragte sie: »Aber was ist das? ... Von ihm?«
»Mach ihn auf. Es ist eine Einladung zur Testamentseröffnung. Irgendetwas hat er dir hinterlassen.« Höhnisch und besorgt ergänzte sie: »Irgendetwas hat er auch mir hinterlassen. Wobei ich nicht weiß, ob uns das glücklich machen wird.«
Vivian erstaunten die Worte ihrer Mutter.
»War er so schlimm? Aber ... hast du ihn nicht irgendwann einmal geliebt? Oder hat er dich mit Gewalt ...?«
»Unsinn.«
»Was? Dass du ihn geliebt hast?«
Empört sah Sabine ihre Tochter an, schien sich aber rasch wieder zu beruhigen.
»Sei nicht so frech. Natürlich habe ich ihn geliebt, sonst gäbe es dich nicht. Doch mehr sage ich nicht.«
So viel wie eben hatte ihre Mutter in fünfundzwanzig Jahren nicht von ihrem Vater erzählt. Und doch war es so gut wie nichts.
»Wann ist denn die Beisetzung?«
»Die war bereits. Und auch deshalb sage ich dir, wir haben nichts mit ihm und dieser Familie zu tun.«
Nichts? Und doch sollen wir bei der Testamentseröffnung dabei sein, dachte Vivian und wusste nicht, was sie von all dem halten sollte, wie all das zusammenpasste.
»Und wann ist diese Testamentseröffnung?«
Aber ohne die Antwort abzuwarten, wurde Vivian plötzlich unruhig. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht – »Nächsten Mittwoch!« –, sie blickte nur auf den Brief, denn sie begriff, dort würde sie endlich den Namen ihres Vaters finden. Ganz sicher. Endlich würde er seine Existenzlosigkeit verlieren, würde er ein menschliches Antlitz bekommen.
Mit zitternder Hand riss sie das Kuvert auf, überflog die Zeilen, suchte nach einem Namen, nach seinem Namen, fand ihn nicht gleich, bis sie begriff, dass der Name, der etwas größer herausgestellt worden war, der allzu offensichtlich war, der Name ihres Vaters sein musste. Und er war es.
Vivian starrte ihre Mutter ängstlich und fassungslos an, und sie räusperte sich, schluckte trocken und fast piepsend quetschte sie den Namen hervor: »Hektor ... Graf zu Hohenberg ... Ein Adliger ist mein Vater?«
Ihre Mutter nickte kaum merklich.
Sekunden der Stille vergingen, nicht einmal das Klingeln von Vivians Mobiltelefon konnte diese Stille durchbrechen, blieb einfach ungehört.
Die beiden Frauen standen in der ›Rumpelkammer‹ ihrer Mutter, zwischen einem Korb mit Wäsche und einem Regal voller Akten, vor einem Bügelbrett und einem Staubsauger, der vor dem Regal lag, und betrachteten einander. Wortlos. Vivian wartete, doch es kam nichts. Ihre Mutter nahm ein Handtuch aus einem Korb und legte es zusammen. Sie wollte nicht reden. Vivian hatte zusehends das Gefühl, einer fremden Frau gegenüberzustehen.
Ein Graf war ihr Vater. Ein Adliger. Wie konnte das sein? Nie hatte es Kontakte zu dieser völlig fremden Schicht gegeben.
»Und du willst mir nichts dazu sagen?«, fragte Vivian schließlich.
Sabine Schreiber presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte entschieden den Kopf.
Vivian war enttäuscht und erbost und wütend – und furchtbar ohnmächtig. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, doch ihre Mutter blieb stumm, nahm ein weiteres Handtuch aus dem Korb, hob schließlich den Kopf und sah blicklos durch ihre Tochter hindurch, etwas, das Vivian an ihr nicht kannte, etwas, das sie mutlos und traurig machte.
»Ich denke, dann habe ich heute hier nichts weiter verloren.«
Vivian verließ die ›Rumpelkammer‹, drei Schritte später folgte ihre Mutter, noch immer das Handtuch zwischen den Fingern. An der Wohnungstür blieb Vivian noch einmal stehen.
»Ich bin enttäuscht von dir, Mama. Und wie soll ich dich je verstehen, wenn du nichts sagst. Ich finde es schade. Über alles konnten wir reden. Immer. Nur was meinen Vater angeht, da bist du irgendwie ... wie soll ich es sagen ..., da bist du irgendwie nicht meine Mutter.«
Zwei Minuten später saß Vivian wieder in ihrem roten Polo und verließ, im Schritttempo des Feierabendverkehrs, Lindau. Sie fuhr am Bodensee entlang, ohne ihn zu sehen, ohne das Glitzern der Frühlingssonne, die sich endlich durch die graue Wolkenwand gekämpft hatte, auf den Wellenkämmen wahrzunehmen.
Vivian dachte immer wieder nur an ihre Mutter.
Warum war sie so verschlossen? Warum erzählte sie ihr nichts von ihrem Vater, jetzt, wo er tot war? Jetzt, wo Vivian wusste, wer er war?
Aber wusste sie denn, wer er war?
Sie kannte seinen Namen, den sie sich nicht einmal gemerkt hatte, so unwichtig war er ihr in diesem Moment vorgekommen. Wichtig war ihre Mutter, war ihr Schweigen, wichtig war das Gefühl der Abneigung, das sie das erste Mal ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte. Sie fühlte sich getrennt von ihr, abgeschnitten. Entfremdet.