Kitabı oku: «Der Meerkönig», sayfa 3

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»Mutter!« lispelte das Kind, welches nicht wußte, wie ihm geschah, dabei aber der Wirkung der mütterlichen Zärtlichkeit unterworfen war und halb ängstlich, halb liebkosend die weinende Frau an sich drückte.

»So, mein Kind, so ist's recht,« fuhr die Mutter heiterer fort, sich sanft emporrichtend; »nun sprich weiter, wenn Du willst, aber nicht zu viel, denn morgen ist auch noch ein Tag, und gewiß würde der Doctor anordnen, Du solltest Dich nicht zu sehr aufregen. Nun sage mir auch, wie alt Du bist.«

»Elf Jahre bin ich in diesem Herbste geworden.«

»Elf Jahre - also ein Jahr älter, als mein eigenes armes Lieschen. Und wer sind Deine Eltern?«

»Eltern habe ich nicht, sie sind lange todt; ich weiß auch nicht, wie sie ausgesehen haben.«

»Armes, armes Wesen!« sagte Marie leise vor sich hin, mit innerer Befriedigung die wachsende und zugleich trostreiche Theilnahme ihrer Schwägerin beobachtend.

»Und wo hast Du so lange gewohnt?« fragte diese nach einer kurzen Pause, während welcher sie einen Blick des Einverständnisses mit ihrem Gatten austauschte, weiter.

»In der Vorstadt im Waisenhause,« antwortete Lieschen mit einem Schauder.

»Wo der gute Herr Seim Vorsteher ist?«

Lieschen blickte entsetzt bald auf die Bäuerin, bald auf Reichart, bald auf Marie.

»Ich meine den lieben, frommen Herrn mit dem weißen Halstuche, der allen Menschen so freundlich und gut begegnet,« wiederholte die Frau in der Meinung, daß sie nicht verstanden worden sei; »ich kenne ihn schon so lange, wie ich Eier und Butter an ihn und seine Tochter verkaufe, und die Waisenkinder nennt er nie anders, als seine liebe, ihm von Gott anvertraute Heerde. Nicht wahr, mein Kind, dessen Haus meinst Du doch?«

»Ja, das meine ich,« antwortete Lieschen kaum vernehmbar und mit aller Kraft gegen einen neuen Ausbruch ihrer Furcht kämpfend.

»Wo aber haben sie Dich geschlagen und Dich eingesperrt, wenn Du doch im Hause des guten Herrn Seim erzogen wurdest?«

»Im Waisenhause.«

»Und Herr Seim, der liebe, fromme Herr, war nicht da, um es zu verbieten?«

»Ach, Herr Seim war so böse, er sagte, ich sei schlecht und verdiene harte Strafe, ich verführe alle Kinder und man müsse mich sehr streng behandeln.«

Bei diesen Worten sahen Marie und die beiden Ehegatten sich gegenseitig verwundert an. Sie kannten den Vorsteher der Anstalt schon lange von der besten Seite, und unerklärlich erschien es ihnen, daß ein so schwächliches kleines Mädchen, selbst wenn es sich zu kindischem Unfug habe hinreißen lassen, mit Herrn Seim's Wissen und Willen habe mißhandelt werden können. Die beiden Gatten waren daher geneigt, des Kindes Ausspruch für verzeihliche Uebertreibung zu halten, oder für eine Folge der krankhaften Aufregung oder gar für eine Lüge. Marie hingegen sträubte sich gegen einen solchen Verdacht, und indem sie ihre Blicke tief in die Augen der flehentlich zu ihr aufschauenden Waise senkte, glaubte sie in denselben nur die lautere, heilige Wahrheit zu lesen.

»Armes Kind,« sagte sie endlich schmeichelnd, um die durch das kurze Schweigen in dem Kinde hervorgerufene Furcht wieder zu verscheuchen, »wie bist Du denn in diesem furchtbaren Wetter in den Wald gekommen?«

»Verzeihe mir, gute Frau,« antwortete das Mädchen bebend, indem es abermals seine hageren Aermchen emporhob und die zarten Finger verzweiflungsvoll in einander rang; »ich will ja Alles eingestehen, nur stoße mich nicht wieder von Dir!«

»Aengstige Dich nicht unnöthig, mein Herzchen,« tröstete Marie auf's tiefste gerührt; »sprich offen und ohne Furcht, und willst Du nicht gern sprechen, so behalte Dein Geheimniß immerhin für Dich; wir haben Dich deshalb nicht weniger lieb.«

Lieschen unterdrückte ihr krampfhaftes Schluchzen, und vertrauensvoll zu Marien emporblickend, begann sie: »Ich bin entlaufen, ich konnte es nicht länger aushalten; ich wollte lieber sterben, als mich noch länger quälen lassen. Denn wäre ich geblieben, hätten sie mich in den Keller gesperrt, damit ich verhungere. Sie hielten mich für einen Dieb, denn sie hatten wiederholt, wenn sie des Morgens meine Kleider durchsuchten, Sachen von anderen Kindern in meiner Tasche gefunden. Dann schlugen sie mich jedesmal so sehr, weil ich versicherte, ich sei unschuldig, und sie sperrten mich in den Keller, bis ich vor Angst sagte, ich hätte gestohlen, worauf sie mich hervorholten und mich einen ganzen Tag hindurch mit einer Tafel am Halse, auf welcher ›Dieb‹ geschrieben war, in dem großen Schulsaale stehen ließen. Aber glaube mir nur, liebe, gute Frau, nie in meinem Leben habe ich gestohlen, denn ich weiß, es ist eine große Sünde.

»Heute Morgen, es war noch ganz dunkel, wachte ich auf; ich war so hungrig und konnte nicht wieder einschlafen. Da sah ich Herrn Seim, wie er leise durch den Schlafsaal ging und gerade auf mein Bett zukam. Ich glaubte, er wolle mich schlagen, weil ich wach sei, und schloß schnell die Augen; aber ein klein wenig sah ich noch, denn in dem Schlafsaale brennt des Nachts eine Lampe. Vor meinem Bette blieb Herr Seim stehen, und ich zitterte vor Angst, als er mich eine Weile betrachtete. Er that mir indessen nichts zu Leide, dagegen betastete er die Tasche meines Kleides, und dann ging er wieder leise hinaus. Als ich seine Schritte nicht mehr hörte, zog ich mein Kleid zu mir in's Bett hinein, um zu sehen, ob vielleicht wieder fremdes Brod in der Tasche gewesen sei. Anfangs fand ich nichts; als ich die Tasche aber umkehrte, fiel mir ein großer Thaler in die Hand. Zuerst wollte ich das Geld, welches mir Jemand heimlich zugesteckt hatte, damit ich wieder eingesperrt werde, fortwerfen; zur rechten Zeit bedachte ich aber, daß Herr Seim den Thaler gefunden haben müsse und ich die Strafe dadurch nur verschlimmere. Ich betete zum lieben Gott um Hülfe; ich steckte meinen Kopf unter die Decke, um die anderen Kinder nicht durch mein Weinen zu wecken, aber meine Angst wurde immer größer; ich wußte ja, daß ich wieder geschlagen und in den Keller gesperrt werden würde. Zuletzt hielt ich es nicht länger aus, ich kleidete mich schnell an, den Thaler legte ich auf mein Bett, und auf den Strümpfen schlich ich aus dem Hause auf den Hof. Dort zog ich erst die Schuhe an; meine Strümpfe waren in dem Schnee schon ganz naß geworden, aber mich fror nicht, ich ängstigte mich zu sehr. Dicht am Hofthore wartete ich, bis der Bäcker klingelte, und alsdann vom Hause aus der Riegel aufgezogen wurde und der Bäcker sich nach der Küche begeben hatte, schlich ich durch die angelehnte Pforte nach der Straße hinaus. Es schneite sehr; die Straßenlaternen waren schon ausgelöscht worden, aber Tag war es noch nicht. Ich fürchtete mich vor dem Wetter, aber die Furcht vor Herrn Seim war noch größer, und ich lief, so rasch ich nur konnte, nach dem nächsten Thore, um aus der Stadt zu kommen. Niemand hatte mich bemerkt, doch mir war, als müsse Herr Seim sich dicht bei mir befinden, um mich zurückzuschleppen in den feuchten Keller, und als die letzten Häuser der Stadt schon längst hinter mir lagen, lief ich noch immer mit derselben Eile.

»Als es endlich heller Tag war, mußte ich mich ausruhen; ich konnte keine Luft mehr schöpfen, und dabei war mir doch so heiß. Ich setzte mich auf die Erde und aß das trockene Brod, welches ich mir vom vorhergehenden Tage in meinem Bette aufgehoben hatte, und dazu kühlte ich meinen Mund mit frischem Schnee. Wie lange ich so dagesessen habe, kann ich nicht sagen; zuletzt wurde mir eisig kalt, und ich ging weiter, um mich zu erwärmen. Wohin ich gehen sollte, wußte ich nicht, aber ich bat den lieben Gott, er möge mich zu guten Menschen führen, die Mitleid mit mir haben würden. Während ich betete, fürchtete ich mich nicht, auch weinte ich nicht; ich betete daher auf dem ganzen Wege, daß ich nicht müde werden möge, denn ich dachte, ich würde vom Schnee so hoch zugedeckt werden, daß ich nicht wieder herausgelangen könne und daher verhungern müsse. Es schneite ja so sehr; doch war dies gut, denn wenn ich Leute und Wagen kommen hörte, brauchte ich gar nicht weit von der Straße abzubiegen, um nicht entdeckt zu werden. Ich wäre sonst gewiß wieder zu dem schrecklichen Herrn Seim zurückgebracht worden. So bin ich denn immer weiter und weiter gegangen, und endlich kam ich in einen Wald von lauter großen und kleinen Weihnachtsbäumen. Ich kenne Weihnachtsbäume, Herr Seim läßt alle Jahre welche im großen Saale aufstellen, und fremde Leute kommen und freuen sich, daß die Kinder so gut beten; und dann loben sie Herrn Seim, aber mit uns sprechen sie nur davon, daß wir Herrn Seim dankbar sein sollen.

»Im Walde unter den Bäumen lag der Schnee nicht so hoch; das Gehen wurde mir dadurch erleichtert, allein ich war schon so müde, und meine Füße schmerzten so sehr, daß ich mich nur mühsam von der Stelle bewegte. Zuletzt hielt ich es nicht mehr aus, denn mehrfach war ich vor Mattigkeit gestolpert. Auf der Straße liegen bleiben durfte ich nicht; ich suchte mir daher einige kleine Weihnachtsbäumchen, die wie ein Nest zusammengewachsen waren, und da der Schnee nicht zwischen den dichten Zweigen hindurchfallen konnte, so kroch ich in das Nest hinein. Unter den Bäumen war es trocken und warm, auch fürchtete ich mich nicht, und gegen den Durst nahm ich etwas Schnee in den Mund. Dann betete ich alle Gebete, die ich kenne, und dabei wurde ich müde und die Augen fielen mir zu. Ich schlief nicht fest, denn ich hörte liebliche Musik, und viele schöne Kinder sah ich, die mich baten, mit ihnen zu spielen; doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren, es wurde immer dunkler um mich her, und endlich hörte auch die Musik auf. Das ist Alles, was ich weiß; ich habe geschlafen und geträumt, denn als ich hier erwachte, glaubte ich in der Krankenstube des Waisenhauses zu sein.

»Ich habe gewiß die Wahrheit gesagt,« versicherte das Kind nach einer kurzen Pause mit flehender Geberde, die forschenden Blicke, welche auf ihm hafteten, für einen Ausdruck des Mißtrauens haltend; »ich habe noch nie gelogen, wenn ich nicht mußte. Laßt mich bei Euch bleiben, ich will ja gern arbeiten Tag und Nacht, aber zurück in das schreckliche Haus bringt mich nicht wieder!«

Reichart hatte die letzten Worte nicht mehr abgewartet; die Stimme des flehenden Kindes war ihm tief in's Herz gedrungen, und gesenkten Hauptes, als ob er über Etwas im Zweifel sei, schritt er in dem Gemache auf und ab. Seine Frau dagegen und Marie hatten sich wieder über das Kind hingeneigt, und ihren vereinigten Bemühungen gelang es leicht, dasselbe gänzlich zu beruhigen und zu überzeugen, daß sie sich von nun an seiner annehmen, sich nicht mehr von ihm trennen wollten.

Die zärtlichen Versicherungen der beiden Fremden wirkten wohlthuend auf das geängstigte Gemüth der jungen Waise. Nicht minder machte sich in dem kleinen, schwächlichen Körper die Erschöpfung geltend, denn als auch Marie und ihre Schwägerin von dem Bette zurücktraten, da kämpften die großen Augen nur noch matt gegen den Schlummer. Die langbewimperten Lider senkten und hoben sich schwerer, je nachdem der Schlaf leise über sie hinfächelte, oder durch die fremde Umgebung plötzlich wieder die Aufmerksamkeit auf Momente gefesselt wurde.

Ein unendlich süßes, nie geahntes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens hatte sich der armen, verfolgten Waise bemächtigt. Es war, als habe sie absichtlich gegen den Schlaf gekämpft, um nicht das Bewußtsein ihrer gegenwärtigen Lage zu verlieren. Lächelte ihr doch Alles so freundlich entgegen, und schien doch selbst die alte Uhr mit ihrem ernsten, heiseren Ticken in tröstender Weise aus längst verflossenen Zeiten zu erzählen, aus Zeiten, in welchen weder an das todte noch an das lebende Lieschen gedacht wurde! Und dabei wirkte das gemessene Geräusch des staubigen Uhrwerks so einschläfernd, daß die Würfel in dem von dem Lampenlichte durchschimmernden Bettvorhange immer mehr in einander flossen und die Aepfel und die Gypsfiguren auf dem Gesimse scheinbar vor Müdigkeit wackelten und dem kleinen fremden Gaste freundlich zunickten.

Lieschen kämpfte matter und matter gegen den Schlaf; sie wunderte sich zuletzt gar nicht mehr, daß das weiße Kaninchen bedächtig den Kopf schüttelte und mit den Pfoten über seine schwarze Nase hinfuhr, sie wunderte sich nicht, als es sogar von dem Gesimse zu ihr auf das Bett sprang, sich auf die Hinterfüße aufrichtete und die übrigen Gypsfiguren und die Aepfel zu sich herabwinkte. Und sie kamen herbei, die Aepfel wie die Figuren, aber ganz verändert; denn erstere hatten rothwangige Gesichtchen und Hände und Füße und kleine Flügel, während letztere himmelblaue mit Silber gestickte Mäntel trugen, daß sie aussahen wie ein aus heller Sternennacht gewebtes Völkchen.

Lieschen aber lächelte beseligt und fürchtete sich nicht, als die kleinen Gestalten sich vor ihr zum muntern Reigen ordneten, immer abwechselnd ein Apfel und ein Figürchen, mit angefaßten Händen im Kreise herumtanzten und dabei so possirliche Sprünge machten. Und das Kaninchen saß in der Mitte und nickte mit dem Kopfe und schlug den Tact dazu, daß es sich genau so anhörte, wie das gemessene regelmäßige Ticken einer alten heisern Wanduhr.

Auch die Musik fehlte nicht; zwar war sie nur dem leisen Murmeln berathender Menschen ähnlich, aber es war doch immer eine schöne, eine heilige Musik, denn sie ging von der guten Marie aus und von den biederen Bauersleuten, indem sie über das lebenswarme Lieschen in dem großen Bette, und das arme todeskalte Lieschen in der kleinen Kammer sprachen und dabei Gottes Güte und Allmacht priesen.

Lieschen in dem Himmelbette lächelte immer wieder; sie war so glücklich, daß sie bis an ihr Lebensende hätte so fortschlafen mögen. Die Uhr tickte, das Heimchen sang, näher waren die drei guten Menschen zusammengerückt und inniger und traulicher flüsterten sie mit einander.

Und Niemand wußte es und Niemand hatte ihn gesehen, aber der Engel des Friedens war durch die Todtenkammer und das Wohngemach geschwebt, hier tröstend, aufrichtend und ermahnend, dort zur ewigen Ruhe einsegnend und bleiche, kalte Lippen im leisen Kusse berührend. Und als ob er sein Tagewerk vollbracht habe und über das stille Strohdach der Hütte hinaus in seine himmlische Heimat zurückkehre, zertheilten sich die schweren Wolken. Hierhin und dorthin zogen sie hastig, und doppelt hell funkelnd und glitzernd schauten Milliarden von Sternen auf die unter der tiefen Schneedecke schlummernde Erde nieder.

3. Die arme Marie.

Lieschen war in einen tiefen, kräftigenden Schlummer gesunken. Marie, deren Bruder und Schwägerin lauschten mit innerer Befriedigung den regelmäßigen Athemzügen; sie freuten sich über die Ruhe des Kindes, ihnen selbst aber blieb der Schlaf fern. Das Abendbrot war kaum angerührt und wieder in den massiven Speiseschrank gestellt werden; düster brannte die Lampe auf dem eichenen Tische und ämsig nähte Marie an dem Sterbekleidchen, während die beiden Ehegatten ihr betrübt zusahen und in flüsterndem Tone zu ihr sprachen.

Sie erzählten sich gegenseitig von dem frommen und rechtschaffenen Herrn Seim, der stets ein freundliches Wort und einen herzlichen Händedruck für jeden Einzelnen von ihnen in Bereitschaft habe und nie um Pfennige mit ihnen feilsche, wie so viele Andere, sondern von dem Grundsatze ausgehe, daß auch die armen Bauern leben müßten. Sie erzählten, wie er sich für seine verwaisten Schützlinge aufopfere, nur für diese lebe und webe, und wünschten, daß Gott ihm seine Rechtschaffenheit vergelten möge. Unerklärlich erschien es ihnen dagegen, daß man ihr neues Lieschen in so hohem Grade gequält habe, bis es endlich davongelaufen sei. Sie schoben aber Alles auf schlechte Menschen, deren es in der ganzen Welt gäbe, von denen auch wohl der gute Herr Seim hintergangen worden sei und in Folge dessen mit mehr Härte und Strenge gegen manche Kinder verfahre. Den Herrn Seim bedauerten sie fast eben so sehr, wie das arme, halb erstarrte Kind, und Reichart vermaß sich hoch und theuer, daß er dem braven Vorsteher reinen Wein einschänken und ihm die Augen öffnen wolle, damit dergleichen nicht wieder geschehe.

»Worauf er seine Leute schicken wird, um uns das Kind wieder fortnehmen und härter als Jemals bestrafen zu lassen,« unterbrach Marie ihren in Eifer gerathenen Bruder; denn indem sie sich Lieschens aufrichtigen Blick vergegenwärtigte, begannen leise Zweifel an der Gerechtigkeitsliebe des Herrn Seim in ihr aufzusteigen.

»Um Gottes willen nicht!« versetzte die Bäuerin erschreckt. »Unser neues Lieschen gebe ich nicht heraus, und käme das ganze Waisenhaus, um es von mir zurückzufordern! Nein, nein, das Kind hat genug erduldet, es bleibt bei uns, und den möchte ich sehen, der es in unserem Hause anzurühren wagte! Das arme, liebe Herz, wie es sich an mich schmiegte und mich Mutter nannte, und dabei zu denken, daß Jemand es schlagen und einsperren könnte!«

Reichart rieb sich verlegen die Stirne, offenbar sann er vergeblich über einen Ausweg nach. Er wollte das Kind für sein Leben gern behalten, aber auch gegen die gesetzliche Ordnung verstoßen wollte er nicht, und ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er durch eine Verheimlichung vielleicht gerade zum Nachtheil seines Schützlings handle.

»Ich denke, wir behalten das Kind wenigstens vorläufig bei uns,« nahm Marie jetzt wieder das Wort, »vielleicht so lange, bis nach ihm gefragt wird, und dann ist ja noch immer Zeit, weitere Schritte zu seinem Besten zu thun.«

»Aber der Ortsschulze,« warf Reichart zweifelnd ein, »er wird das Mädchen sehen und fragen, woher es stamme; was soll ich dann wohl antworten? Sage ich ihm die Wahrheit, so ist sein Erstes, daß er selbst die Kunde von der Rettung des kleinen Flüchtlings nach dem Waisenhause trägt.«

»So gieb vor, es sei eine Verwandte, vielleicht die Tochter unseres mit Kindern so reich gesegneten Vetters, die Du nach dem Verluste des eigenen Kindes an Kindesstatt angenommen habest,« versetzte Marie zögernd; denn ihr strenger Rechtlichkeitssinn kämpfte nur matt gegen die wachsende Theilnahme und Besorgniß für den kleinen fremden Gast. »Gewiß wird Niemand daran denken, Dein Wort zu bezweifeln und Nachforschungen anzustellen, und kommt später der wahre Sachverhalt wirklich zu Tage, so wird man unser Verfahren um unserer Trauer und unserer Liebe willen entschuldigen und nicht mehr auf eine Trennung dringen.«

»Wenn sie das Kind aber selbst fragen?« erwiderte Reichart, dessen Bedenken durch der Schwester Rathschläge bereits zum größten Theil beschwichtigt waren. »Und alt und verständig genug scheint es zu sein, um über sein Herkommen Aufschluß geben zu können.«

»Ja, das ist das Einzige, was mir Zweifel und Besorgniß einflößt,« entgegnete Marie sinnend, während die Augen der beiden Gatten gespannt an ihren Lippen hafteten. »Es scheint mir sündhaft, das arme Kind zu einer Lüge zu verleiten, und dennoch sehe ich keinen andern Ausweg, auf welchem wir es vor einem traurigen Loose zu bewahren vermöchten; und das liegt doch wohl auf der Hand, daß bei seiner Rückkehr in die Anstalt gewiß nicht die freundlichste Behandlung seiner harren würde.«

»Gewiß nicht, nein, gewiß nicht,« fiel die Bäuerin jetzt mit Wärme ein, »sie würden das arme Kind hinter dem Rücken des Herrn Seim zu Tode peinigen; nein, das Kind bleibt bei mir, und sollte ich deshalb hundert Lügen sagen! Ich werde das arme Herzchen schon vorbereiten und ihm seine Antworten in den Mund legen, ich werde ihm sagen, wie schändlich es sei, zu lügen, und daß es hier nur geschehe, um uns Verdruß zu ersparen. O, in diesem Falle ist eine Nothlüge keine Sünde, nein, gewiß nicht, viel eher eine gute, christliche Handlung!« So sprechend, erhob sie sich mit hastiger Bewegung, und auf den Zehen nach dem Bette hinschleichend, suchte sie einen Blick auf ihr neues Lieschen zu erhaschen.

Sie betrachtete das sanft schlummernde Kind eine Weile mit tiefer Wehmuth; gewiß stellte sie in Gedanken Vergleiche an, denn ihre Hände rangen sich krampfhaft in einander und heiße Thränen sanken in Fülle auf dieselben nieder.

Marie hatte ihre Arbeit beendigt und vor sich auf den Tisch gelegt; auch in ihren schönen, wohlwollenden Augen glänzten Thränen, indem sie abwechselnd das fertige Sterbekleidchen und ihren Bruder betrachtete, dessen Blicke wieder starr auf die zierlich ausgezackte Leinwand gerichtet waren.

Da schlug die Uhr die zwölfte Stunde. Eintönig hallten die halb schnarrenden, halb klingenden Schläge durch das Gemach.

»Sie hätten Beide neben einander Platz gehabt!« seufzte die Frau, indem sie an den Tisch zurückkehrte.

»Tröste Dich, Mutter,« versetzte Reichart, sich mit Macht emporraffend, »eine Tochter hat uns der liebe Gott genommen, eine andere hat er uns gegeben; mag kommen, was da wolle, sie soll so gut unser Kind sein, als ob es unser leibliches wäre. Und wenn es gut einschlägt, und uns liebt, soll es auch unsern Namen führen und uns beerben, damit wir wenigstens wissen, für wen wir schaffen und arbeiten.«

Marie sah mit innigem Wohlgefallen auf die biederen Leute hin, wie sie durch einen warmen Händedruck über des schlafenden Kindes Zukunft entschieden.

Sie blickte auf dieselben, wie wohl eine Mutter sich über die hervortretenden guten Eigenschaften ihrer Kleinen freut. In ihren schönen Augen sprach sich deutlich ihre geistige Ueberlegenheit aus, in den wohlwollenden Zügen dagegen ihre unendliche Herzensgüte und wie durch herben Kummer ihre höhere Ausbildung veredelt worden sei und sie dieselbe nur als Mittel betrachte, um so nachdrücklicher für das Wohl nicht nur der ihr nahe stehenden Personen, sondern für alle Mitmenschen wirken zu können.

»Aber gehe jetzt schlafen,« wendete Reichart sich endlich an seine Schwester, »morgen ist auch noch ein Tag, und zwar ein recht schwerer für uns, und Du mußt sehr müde sein. Meine Frau wird sich auf den Rand des Bettes zu Lieschen legen und über das liebe Kind wachen; ich selbst bedarf weiter nichts zur Ruhe, als den Lehnstuhl beim Ofen.«

»Gute Nacht denn,« sagte Marie freundlich, den beiden Gatten die Hand reichend; denn obgleich sie fühlte, daß der Schlaf ihr noch lange fern bleiben würde, hoffte sie doch in ihrer liebevollen Fürsorge für Andere, daß nach ihrer Entfernung wenigstens ihre Schwägerin, von Erschöpfung übermannt, im Schlummer einige Stunden Vergessenheit für ihren Kummer finden würde.

Nachdem sie ein Nachtlämpchen angezündet, begab sie sich noch einmal an das Himmelbett. Wohl eine Minute lang betrachtete sie das ruhig und sanft schlummernde Kind mit tiefem Nachdenken.

»Lieber Engel,« flüsterte sie leise, fast unbewußt, »wie Du mich an Jemanden erinnerst, doch weiß ich nicht, an wen!?«

Da lächelte das Kind im Traume; auch über Mariens gutes Antlitz flog ein heller, freundlicher Schimmer bei dem holden Anblicke. »Schlafe wohl!« sagte sie noch einmal lauter, und geräuschlos schlich sie in ihre Kammer zu dem todten Lieschen.

Nach Mariens Entfernung, blieben die beiden Gatten noch eine Weile schweigend neben einander sitzen. Es war nicht schwer zu errathen, was ihre Gemüther so tief bewegte, ihren Augen einen bald kummervollen, bald tröstlichen Ausdruck verlieh.

»Mutter, Du darfst nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben,« brach Reichart endlich das Schweigen, indem er die Lampe umkehrte, so daß der Schatten des Oelbehälters sein Gesicht traf, »begieb Dich daher zur Ruhe; sieh, auch ich will versuchen zu schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen,« entgegnete die Frau mit unterdrückter Stimme, einen besorgten Seitenblick nach der Himmelbettstelle hinübersendend, von woher die regelmäßigen und gesunden Athemzüge des Kindes sich deutlich vernehmen ließen. »Warum sollte ich mich also hinlegen? Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich wache und über Alles nachdenke.«

»Aber Du solltest gerade nicht so viel nachdenken; es wäre besser, Du legtest Dich hin, und wenn man liegt, kommt der Schlaf ganz von selbst.«

»Bei mir nicht,« versetzte die Bäuerin traurig, »mir geht es gerade so wie unserer Marie; früher konnte ich nicht begreifen, warum das Mädchen die Nächte so oft schlaflos verbringe. Ich dachte, das sei so Sitte bei den vornehmen Leuten und sie habe es bei diesen gelernt, oder sie trauere heimlich, weil sie wieder Bauermädchen geworden. Jetzt sehe ich es aber ein, und ich fühle, wie schrecklich es ist, vor Herzeleid die Augen nicht schließen zu können.«

»Ja, die arme Marie hat viel Herzeleid gehabt,« bemerkte Reichart ernst, wie zustimmend nickend, »viel, viel unverdientes Herzeleid, denn sie ist von Kindesbeinen an immer ein gutes Mädchen gewesen und dabei so heiter und vergnügt, daß alle Menschen sich darüber freuten. Ja, ja, es war kein Segen für sie, daß sie so frühzeitig nach der Stadt kam und so viel lernte. Hätte sie das elterliche Haus nie verlassen, sie wäre dann gewiß eine brave und auch eine reiche Bauerfrau geworden, anstatt daß sie jetzt alle Freier zurückweist.«

»Ich gönne ihr wohl einen braven Mann,« erwiderte die Bäuerin aufrichtig, »allein es würde mir doch sehr schwer werden, mich von ihr zu trennen. Sie liebte unser Lieschen über alle Beschreibung, und dann habe ich mich so sehr an ihren Rath gewöhnt, daß ich nicht wüßte, wie ich es ohne sie machen sollte. Daß sie so viel mehr gelernt hat, als wir, merkt man wohl an jedem Worte, das sie spricht; aber es thut doch nicht weh.«

»Es ist wahr, auch ich weiß nicht, wie wir ohne Marie fertig werden sollten, und dabei nimmt sie nicht den geringsten Lohn für ihre Hülfe an,« versetzte Reichart.

»Und doch ist es nur sehr wenig, was sie erspart und durch den Verkauf ihrer schönen Kleider und der goldenen Ringe zusammengebracht hat.«

»Leider; allein sie war zu stolz, und wie die Sachen damals lagen, hätte ich es an ihrer Stelle wahrscheinlich ebenso gemacht.«

Nach diesem Gespräche trat wieder ein längeres Schweigen ein. Das Vernommene mußte indessen den Geist der Frau noch immer sehr rege beschäftigen, denn wich auch der Ausdruck der Trauer nicht aus ihren Zügen, so waren ihre Augen doch trocken geworden, während ihr starrer Blick bekundete, daß sie über irgend einen Gegenstand sehr ernst nachdenke. Nach Verlauf von etwa fünf Minuten fragte sie plötzlich: »Wie alt war sie, als sie von Deinen Eltern nach der Stadt gebracht wurde?«

»Eben war sie sechs Jahre alt geworden,« antwortete Reichart mechanisch. »Hat Marie jemals mit Dir über ihre Vergangenheit gesprochen?«

»Niemals, und gefragt habe ich sie nicht darnach, weil Du es mir verboten hattest. Ich leugne indessen nicht, daß mir oft eine Frage auf der Zunge schwebte; wenn ich ihr aber in die freundlichen und dabei doch so traurigen Augen sah, dann hielt ich stets wieder an mich, weil es mir erschien, als hätte meine Neugierde sie zum Weinen bringen müssen.«

»Ganz recht, Mutter,« entgegnete Reichart, in der ihm eigenthümlichen Weise mit dem Kopfe nickend. »Hättest sie sicherlich zum Weinen gebracht, denn was die schon erlebt hat, ist genug, um eine ganze Gemeinde zu Thränen zu bringen. Mir hat sie Alles erzählt, von Anfang bis zu Ende, damit ich wisse, wen ich unter meinem Dache beherberge, und nichts Arges von ihr denke. Zugleich aber bat sie mich, zu Niemand darüber zu sprechen; sie selbst wolle nicht bemitleidet sein, und die Leute sollten nicht hart über Jemanden urtheilen, der ganz unschuldig sei und keine Vorwürfe verdiene. Ja, ich habe mein Versprechen redlich gehalten; die Leute wissen eben weiter nichts, als daß sie als Kind zu einer vornehmen Familie in die Stadt kam und vor neun Jahren, nachdem ihre Beschützerin gestorben, fast eben so arm zu uns zurückkehrte, wie sie gegangen war. Leider glauben Einzelne, daß sie um das gute Leben und die vornehme Gesellschaft trauere, das ist aber nicht wahr - nein - o, wüßten sie nur ...«

»Wenn sie was wüßten?« fragte die Bäuerin, sobald ihr Mann schwieg, mit einem Anfluge von Neugierde.

Reichart betrachtete seine Frau wiederum einige Augenblicke zweifelnd und forschend; hierauf warf er einen spähenden Blick nach der Kammerthür und rückte dann seinen Stuhl so herum, daß er der Bäuerin gegenüber zu sitzen kam.

»Eigentlich sollte ich auch zu Dir nicht davon sprechen, Mutter,« hob er an; »allein es ist vielleicht gut, wenn ich Dir beweise, daß es Menschen giebt, die gewiß nicht in geringerem Grade heimgesucht worden sind, als Du und ich. Nur das Eine mußt Du mir versprechen, nämlich Mariens Vergangenheit nie anders zu berühren, als wenn sie selbst mit Dir davon anfangen sollte.«

Nachdem die Frau sich vorher noch einmal überzeugt, daß das schlafende Lieschen sich noch nicht gerührt hatte, fuhr Reichart fort:

»Wie wir jetzt, so machten es meine Eltern, die dieses Gehöft von meinem Großvater geerbt hatten; sie fuhren wöchentlich einmal mit Butter und Eiern, auch wohl mit Korn nach der Stadt, wo sie für ihre Waaren bestimmte Abnehmer fanden. Marie und ich waren die beiden einzigen Kinder, die von fünf am Leben geblieben. Meine Mutter hatte also dreimal solche Zeiten durchgemacht, wie Du jetzt, freilich mit dem Unterschiede, daß wir nur das einzige Kind zu verlieren hatten. Der Verlust so vieler Kinder machte meine Mutter doppelt besorgt um die beiden überlebenden, so daß sie uns nie aus den Augen ließ. Sie nahm uns daher jedesmal mit zur Stadt, und erst, als ich das zehnte Jahr erreicht hatte, setzte es mein Vater durch, daß ich zu Hause blieb, um die Schule nicht zu versäumen und dem Knechte bei seinen Arbeiten zu helfen. Als ich meinen vierzehnten, Marie ihren sechsten Geburtstag erlebt hatte, starb nach kurzer Krankheit meine Mutter. Mein Vater, daran gewöhnt, Marie immer um sich zu sehen, dann aber auch, um sie nicht gänzlich ohne Aufsicht zu wissen, fuhr fort, sie nach alter Weise mit zur Stadt zu nehmen und sie dort in seiner Begleitung ein Körbchen mit Eiern oder Butter, zuweilen auch wohl einige Blumensträußchen zu seinen Kunden tragen zu lassen.

Unter den letzteren befand sich auch eine einzelne bejahrte Dame, eine Gräfin, die schon von meinem Großvater Küchenvorräthe bezogen hatte. Dieselbe war sehr reich, hatte indessen nur eine beinahe eben so alte Köchin und ein paar niedliche Windspiele um sich. Mit ihren vornehmen Verwandten lebte sie auf keinem guten Fuße; dafür war sie um so freundlicher gegen meinen Vater, namentlich aber gegen Marie, die als Kind so schön war, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihr nachzusehen.

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