Kitabı oku: «Die Schmuggler-Braut»
Die Schmugglerbraut
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2016
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Zur Autorin
Barbara Cartland wurde 1901 geboren und stammt mütterlicherseits aus einem alten englischen Adelsgeschlecht. Nach dem Tod des Vaters und Großvaters ernährte ihre Mutter die Familie allein. Sie war zweimal verheiratet und hatte drei Kinder. Ihre Tochter Raine war die Stiefmutter von Prinzessin Diana von Wales. Sie schrieb über 700 Romane, die ein Millionenpublikum ansprechen. Barbara Cartland starb im Jahr 2000.
1814
„Noch einen Wunsch, Mylord?“
„Nein. Gegebenenfalls werde ich läuten.“
„Sehr wohl, Mylord.“
Gefolgt von drei Dienern verließ der Buttler den Raum. Lord Cheriton lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete seine Gäste, sechs junge Männer, denen man die Kühnheit und Intelligenz ansah.
Das Essen war köstlich gewesen, der Wein erlesen. Im Gegensatz zu den meisten Herrendiners jedoch war alles maßvoll. Man hielt sich zurück, jeder hatte ein zweites Glas Portwein dankend abgelehnt.
„Gentlemen“, sagte Lord Cheriton schließlich, „ich nehme an, Sie wissen, daß ich Sie aus einem bestimmten Grund zu mir gebeten habe.“
Er bekam keine Antwort, wußte aber, daß die Männer gespannt darauf warteten, was er zu sagen hatte.
Lord Cheriton war ein selten gutaussehender Mann. Seinem Spitznamen „Leopard“ machte er auf fast unheimliche Weise Ehre. Daß Lord Cheriton so genannt wurde, hatte einen besonderen Grund.
Napoleon hatte den Befehl gegeben, Wellingtons Heer in Spanien ins Meer hinauszutreiben. Er hatte sich einen besonders beleidigenden Namen für seinen Gegner ausgedacht: er nannte ihn den Leoparden.
Der Vergleich mit diesem abscheulichen, räuberischen Tier sollte den Befehlshaber des britischen Heeres ins Lächerliche ziehen. Doch jeder Soldat, der unter Arthur Wellesley, wie er damals noch hieß, in Indien gekämpft hatte, wußte, wie passend dieser Spitzname war.
Sie hatten die Jagdleoparden Tippoo Sahibs wie die Pest gefürchtet, doch sie hatten sie vernichtet, ebenso wie ihren Besitzer, und sie hielten sich die Bäuche vor Lachen, als sie von Napoleons Befehl hörten.
„Der abscheuliche Leopard verseucht allein schon durch seine Anwesenheit die Spanische Halbinsel“, hatte der Kaiser erklärt. „Also laßt uns unsere siegreichen Adler zu den Säulen des Herkules tragen.“
Und wie Wellington der „Abscheuliche Leopard“ genannt wurde, so trugen alle, die ihm folgten, diesen Beinamen, und ihr Heerführer teilte sie in Gruppen ein. Da gab es die „Wilden Leoparden“, die „Listigen Leoparden“, die „Tückischen Leoparden“ und die „Verhaßten Leoparden“.
„Sie sollen uns hassen lernen“, hatte Lord Cheriton vor der Schlacht von Victoria gesagt, und die Franzosen waren zuhauf vor den „Verhaßten Leoparden“ geflohen.
Seine Untergebenen kannten Lord Cheriton als hart und skrupellos. Er verlangte das Äußerste von ihnen und ging selbst mit fabelhaftem Beispiel voran.
Außerdem war er absolut gerecht.
Seine Männer liebten ihn nicht, doch sie respektierten ihn.
Die Tatsache, daß sein Äußeres tatsächlich an einen Leoparden erinnerte, wob im Laufe der Kriegsjahre unzählige Legenden um ihn.
Wie Wellington wußte, besaß Cheriton nicht nur alle wichtigen Charakterzüge eines Anführers, sondern auch jenen berühmten sechsten Sinn, der im letzten Moment eine Niederlage in einen Sieg verwandeln konnte.
„Nur der Verhaßte Leopard hat das fertigbringen können“, wurde zur stehenden Rede bei den anderen Heerführern.
Lord Cheriton schaute nun auf seine Tischrunde. Er wußte, daß sich jeder einzelne Mann in der Schlacht bewährt hatte und so kampfbereit war, wie es nur ein Soldat sein konnte, der jahrelang stets unter beschwerlichsten Bedingungen im Feld gewesen war.
Der Sommer dieses Jahres, man schrieb 1814, hatte England den Frieden gebracht, während Europa seine Wunden heilte.
Tausende von Soldaten, die den Sieg feierten, dachten über die eigene Zukunft nach und überlegten, wie sie die Zeit der Ruhe verbringen sollten. Jung, wie sie alle waren, hatten sie kaum etwas Anderes gekannt als Krieg.
Lord Cheriton setzte sein Glas ab.
„Hat jemand von Ihnen schon etwas von der Hawkhurst Bande gehört?“ fragte er.
Im ersten Moment zeigte sich Erstaunen auf allen Gesichtern.
„Sind das nicht Schmuggler?“ fragte schließlich Captain Charles Hobden.
„Genau“, antwortete Lord Cheriton. „Vor fünfzig Jahren hat die Hawkhurst Bande die ganze Südküste Englands terrorisiert. Diese Männer waren nicht nur berühmt und berüchtigt, sondern auch sehr mächtig.“
„Vor fünfzig Jahren?“ fragte jemand.
Lord Cheriton nickte.
„Es wurde behauptet“, fuhr er fort, „daß die Bande innerhalb einer Stunde fünfhundert Mann bewaffnet natürlich in Hawkhurst zusammenziehen kann. Dazu gehört nicht nur ein bemerkenswertes Organisationstalent, sondern das zeigt auch, wie hoffnungslos die Position der kümmerlich wenigen Zöllner war, die für die Gegend zuständig waren.“
„Unfaßlich!“ sagte jemand.
„Allerdings“, pflichtete Lord Cheriton bei, „aber damit ist ein Vorbild gegeben worden, das seitdem nachgeahmt wird.“
Der Lord sah die ungläubigen Gesichter der Männer.
„Wissen Sie eigentlich“, fragte er daraufhin, „wie viel Gold während des Krieges nach Frankreich geschmuggelt worden ist?“
„Genug habe ich mir sagen lassen um Kriegsmaterial von neutralen Ländern kaufen zu können.“ Captain Hobden schüttelte verständnislos den Kopf. „Napoleon wird sich ins Fäustchen gelacht haben.“
„Mehr als das“, sagte Lord Cheriton. „Die sogenannten Pfundboote haben schätzungsweise zehn bis zwölftausend Pfund pro Woche über den Kanal geschafft.“
„Das ist völlig unmöglich!“ rief jemand.
„Ich habe die Information vom Premierminister persönlich“, entgegnete Lord Cheriton kühl.
„Dem Premierminister?“
Ein Raunen ging um den Tisch.
„Jawohl, dem Premierminister“, sagte Lord Cheriton. „Und wegen der Aufgabe, mit der er mich betraut hat, habe ich Sie zu mir gebeten.“
„Aber der Krieg ist doch vorbei“, bemerkte ein junger Major.
„Das hoffen wir“, erwiderte Lord Cheriton, „aber die Schmuggelei geht weiter. Nach Meinung des Premiers wird sie sogar noch zunehmen.“
„Aus welchem Grund?“
„Weil nach der Entlassung der Marinetruppen eine enorme Anzahl von Seeleuten solchen Elementen zur Verfügung steht, die wenig Kapital haben und sich mit Schmuggeln bereichern wollen.“
„Ich verstehe“, sagte der junge Major.
„Die Abmachungen mit Frankreich aus den siebziger Jahren stellen uns vor die größten Schwierigkeiten.“
Lord Cheriton überlegte, denn er wollte kein falsches Wort sagen.
„Riesige Lagerhäuser in Roscoff, Dünkirchen, Fécamp und Calais“, so fuhr er schließlich fort, „erleichtern den Ankauf von Schmuggelgut, und Napoleon hat den Bau von Schmugglerbooten unterstützt.“
„Das ist doch nicht die Möglichkeit!“ rief Captain Hobden.
„Zum Teil wurden bis zu achtzehn von diesen Booten im Hafen von Calais gleichzeitig gebaut“, ergänzte Lord Cheriton.
Die Fassungslosigkeit auf den Gesichtern der Männer war so deutlich und damit fast komisch, wäre die Situation nicht so ernst gewesen.
„Laut Napoleons persönlicher Auskunft“, fuhr Cheriton fort, „gibt es allein in Dünkirchen über fünfhundert englische Schmuggler.“
„Aber unsere berittenen Offiziere, unsere Küstenwache, unternehmen die gar nichts?“ fragte einer der Gäste.
„Die berittenen Offiziere sind praktisch machtlos“, antwortete der Gastgeber. „Wenn sie etwas zu unternehmen versuchen, ist das Resultat meist wenig erfreulich. Blut wird vergossen, Menschen werden verletzt und getötet, aber es kommt nichts dabei heraus. Dazu kommt, daß den Gerichten seit Jahren mit Vergeltungsmaßnahmen gedroht wird, falls die Geschworenen einen Angeklagten schuldig sprechen. Aus diesem Grunde ist es annähernd unmöglich, Zeugen zu finden, die gegen einen Schmuggler aussagen.“
„Das klingt alles ziemlich hoffnungslos“, bemerkte Captain Hobden.
Lord Cheriton ignorierte die Bemerkung.
„Im letzten Kriegsjahr“, fuhr er fort, „haben sich zwei neue Banden gebildet: die eine sitzt zwischen Alford und Hythe und nennt sich ,Die Blauen‘. Und die ‚Lerchen‘, die die zweite Bande bilden, arbeiten zwischen Havant und Worthing.“ Er ließ den Blick durch die Runde schweifen. „Sie verfügen über eine große Anzahl von Helfershelfern, die bereit sind, jedes Risiko einzugehen.“
„Aber machen sich diese Risiken denn bezahlt?“ fragte jemand.
„Bisher war die Gefahr gering“, antwortete Lord Cheriton. „Und Tee, Alkohol und Tabak bringen eine Menge ein, wenn die Güter zollfrei ins Land geschmuggelt werden.“
Jeder wußte, wie die Preise gerade dieser drei Genußmittel im Verlauf des Kriegs gestiegen waren.
„Und wir sollen nun diesen Machenschaften entgegenwirken?“ fragte Captain Hobden.
„Das ist das Endziel“, entgegnete Lord Cheriton. „An erster Stelle müssen jedoch gründliche Beobachtungen angestellt werden, die notwendig sind, um der Schmuggelei erfolgreich ein Ende zu bereiten. Die Küstenblockade, wie das Unternehmen heißen soll, muß natürlich streng geheim gehalten werden. Die Regierung glaubt, daß mit ihr zwei Probleme gleichzeitig gelöst werden: entlassene Matrosen können wiedereingestellt werden, und den Schmugglern wird das Handwerk gelegt.“
„Nach allem, was Sie gesagt haben, Sir, ist das wohl keine leichte Aufgabe“, erklärte Captain Hobden.
„Es werden Kriegsschiffe zur Verfügung stehen“, entgegnete Lord Cheriton. „Die Mannschaften werden in den vielen Martellotürmen untergebracht, die zur Verteidigung der Küste gebaut wurden. Jede Station wird eine Ruderwache aufstellen und den jeweiligen Küstenstrich kontrollieren.“
„Und wir?“ fragte ein junger Offizier gespannt.
„Sie“, antwortete Lord Cheriton, „sollen in den Dörfern und Kleinstädten von Kent und Sussex versuchen, Informationen über die ,Blauen‘und die ,Lerchen‘ zu sammeln.“
Sein Blick wurde streng.
„Ganz gleich, was Sie erfahren, Sie unternehmen nichts - ist das klar? Sie erstatten mir Bericht, und ich mache zum gegebenen Zeitpunkt dem Premierminister Vorschläge.“
„Klingt interessant“, bemerkte ein Major.
„Die Sache ist nicht nur interessant, sondern auch äußerst gefährlich“, sagte Lord Cheriton.
Alle sahen ihn an.
„Jeder, der die Gewohnheiten der Schmuggler kennt“, erklärte Lord Cheriton, „weiß auch, daß ein Informant nicht nur getötet, sondern zuvor auch auf die sadistischste und gemeinste Weise gefoltert wird, wenn er sich erwischen läßt. Die Leichen, die bisher gefunden wurden, waren gräßlich verstümmelt. Ich erspare Ihnen weitere Details, sondern möchte lediglich betonen, daß der Tod für die Opfer, die Tage, wenn nicht Wochen gequält worden waren, eine Erlösung gewesen sein muß.“
Lord Cheriton sprach in sehr ernstem Tonfall.
„Die landläufige Vorstellung vom pfiffigen Schmuggler, der im Grunde ein herzensguter Kerl ist“, fuhr er fort, „ist eine Erfindung von Romanschreibern. Das krasse Gegenteil ist der Fall. Die Schmuggler terrorisieren die Bauern, plündern Haus und Hof, vergewaltigen die Frauen und vernichten rücksichtslos jeden, der sich ihnen entgegenstellt.“
Lord Cheriton wartete die Wirkung seiner Worte ab.
„Irgendwelche Fragen?“ fragte er schließlich.
Er bekam keine Antwort. Der Gastgeber schob die Karaffe und Gläser zurück und breitete eine Landkarte auf dem Tisch aus.
„Dann machen wir jetzt Nägel mit Köpfen“, sagte er.
Lord Cheriton hielt am Waldrand an. Am Fuße des Hügels gab es nur Kornfelder, im Tal lag ein kleines Dorf. Der Ärmelkanal glitzerte in der Ferne im Schein der strahlenden Sonne.
Vor sechzehn Jahren war Lord Cheriton zum letzten Mal hier gewesen. Er hatte nicht geglaubt, Larkswell je wiederzusehen.
Wenn er in Indien an das Dorf gedacht hatte, hatte er es immer als düsteren Fleck vor sich gesehen. Doch jetzt, an diesem Sommertag, sah es so malerisch aus, daß es ihn fast ärgerte.
Falls die ,Lerchen’, wie er vermutete, ihr Hauptquartier in diesem Dorf aufgeschlagen hatten, so war das auf ironische Weise nur recht und billig.
Er saß so still im Sattel, daß sein Bursche sich veranlaßt sah, ihn durch ein Hüsteln an die Fortsetzung des Weges zu erinnern.
Lord Cheriton drehte sich um.
„Ist das Larkswell, Mylord?“ fragte der Bursche.
„Ja, Nickolls, das ist Larkswell. Wenn wir unten sind, wissen Sie, was Sie zu tun haben, oder?“
„Natürlich, Mylord“, antwortete der Bursche. „Ich gehe in das Gasthaus und frage, wo wir übernachten können.“
„Richtig“, sagte Lord Cheriton. „Wir sind auf dem Wege nach Dover, haben es nicht sonderlich eilig und sind beide ohne Arbeit, weil wir aus dem Heer entlassen worden sind.“
„Ja, Mylord.“
„Und hören Sie auf, mich Mylord zu nennen.“
„Ja, Sir. Nur wenn wir allein sind, Sir.“
„Auch dann nicht, Nickolls. Von jetzt an sprechen Sie mich wie einen ganz gewöhnlichen Mann an. Und in Larkswell heiße ich Mister Bradleigh. Mister Stuart Bradleigh.“
„Ja, Sir.“
„Vergessen Sie das nicht!“
„Nein, Sir.“
„Und noch etwas ist wichtig, Nickolls: keine Fragen stellen. Zuhören, aber keinesfalls den Eindruck erwecken, als interessieren Sie sich für die Leute oder das, was im Dorf vor sich geht.“
„Sie können sich auf mich verlassen, Sir.“
„Das weiß ich, Nickolls“, sagte Lord Cheriton. „Sonst hätte ich Sie auch nicht mitgenommen.“
„Verzeihen Sie, Sir“, sagte der Bursche. „Wenn mich jemand fragt, welchen Rang Sie gehabt haben, was soll ich dann sagen?“
„Daß ich Captain gewesen bin und man mich nicht behalten hat, weil ich ein ziemlicher Quertreiber gewesen bin.“
Lord Cheriton überlegte.
„Erwecken Sie den Eindruck“, fuhr er schließlich fort, „daß wir beide den Krieg ordentlich satthaben und uns als Zivilisten irgendwo niederlassen wollen.“
„Mache ich, Sir.“
„Wir müssen uns eben auf die jeweilige Situation einstellen.“
Lord Cheriton war weitergeritten. Jeder, der ihn kannte, hätte ihm am Gesicht angesehen, daß seine Laune miserabel war.
Im Dorf angekommen, trennte sich Lord Cheriton von seinem Burschen vor dem Gasthof „Zur Seemöwe“ und ritt weiter, bis er zum Tor eines Parks kam, der von einer hohen Mauer umgeben war.
Die Mauer war in einem traurigen Zustand. Das schmiedeeiserne Tor, das einst von zwei Steinpfeilern getragen worden war, hing schief in den verrosteten Angeln. Von den beiden Löwen, welche die Pfeiler geziert hatten, fehlte einer; der andere war von Efeu überwachsen.
Lord Cheriton ritt über die moosbewachsene Einfahrt. Die alten Eichen zu beiden Seiten hätten ausgeschnitten werden müssen.
In der Ferne sah man ein Haus, ein Backsteinbau, der sich wie ein roter Fleck von dem grünen Hintergrund abhob.
Lord Cheriton mußte daran denken, wie er sich an einem nebligen Morgen von hier weggeschlichen hatte. Die Schmerzen in seinem Rücken waren schier unerträglich gewesen. Am Abend zuvor war er ausgepeitscht worden, alte Wunden waren aufgerissen, und als er aus dem Fenster seines Zimmers geklettert und an der Dachrinne heruntergerutscht war, hatten sie wieder zu bluten angefangen.
Aber in jenem Moment war nur die Flucht wichtig gewesen, sonst hatte nichts gezählt. Er hatte der Situation entkommen müssen, die so grauenvoll gewesen war, daß er sie nicht mehr hatte ertragen können.
Er hatte sich geschworen, nie wieder hierher zurückzukommen. Doch nun ritt er auf das Haus zu, das er gehaßt hatte, auch noch, als er Indien erreicht hatte und dann zwei Kontinente zwischen Lord Cheriton und seinem Vater lagen.
Voll Genugtuung stellte Cheriton nun fest, daß das Dach Löcher hatte und viele Fensterscheiben fehlten.
1805 war er mit seinem Regiment nach England zurückgekehrt und konnte sich noch so genau daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. General Arthur Wellesley war auf demselben Schiff, der Trident, zurückgekommen.
Wie seltsam dem Lord England nach einem Aufenthalt von neun Jahren in Indien vorgekommen war.
Fünfzehn war er gewesen, als er von zu Hause weggelaufen war, noch ein Junge, der nichts vom Leben gewußt hatte. Aber er hatte seine Erfahrungen gemacht, schwere, bittere Erfahrungen.
Im dichten Dschungel von Mallabelly, in den von Kugeln durchlöcherten Forts von Scringapatam und in der Hitze und dem Fieber von Mysore war er zum Mann geworden.
Er hatte sich oft gefragt, wie er diese Jahre überhaupt überlebt hatte. Um in die Armee aufgenommen zu werden, hatte er sich für älter ausgegeben und war mit Männern zusammen gewesen, die so rauh gewesen waren, daß er sie oft mehr gefürchtet hatte als den Feind.
Aber jeder einzelne von diesen Männern war ihm lieber gewesen als sein grausamer, tyrannischer Vater.
Auf seltsame Weise hatte er in dem Leben, das er sich selbst ausgesucht hatte, im Laufe der Jahre eine Zufriedenheit gefunden, die jeder Mensch kennt, der sein eigener Herr wird.
Und als er dann fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er sich gesagt, daß die Vergangenheit endlich Vergangenheit bleiben sollte und außer Stuart Bradleigh, wie er sich beim Militär genannt hatte, für ihn niemand existiere.
Eines Tages jedoch, es war in Deal gewesen, wo Sir Arthur auf den Befehl gewartet hatte, nach England zurückzukehren, war Cheriton zu dem General gerufen worden.
Wie alle, die in Indien gewesen waren, hatte Sir Arthur an einen Kriegsschauplatz geschickt werden wollen, und alle, die zu seinem Stab gehört hatten, waren überzeugt davon gewesen, daß er sie mitnehmen würde.
„Sergeant Bradleigh“, hatte Sir Arthur gesagt, als Cheriton sein Büro betreten hatte und stillgestanden war.
„Sir!“
„Stimmt es, daß Sie unter falschem Namen in die Armee eingetreten sind?“
Damit hatte Lord Cheriton gerechnet. Er war im ersten Moment unfähig gewesen, etwas zu sagen.
Er war so an seinen neuen Namen gewöhnt gewesen, daß er seinen wirklichen eigentlich fast vergessen hatte.
„Ja, Sir“, hatte er schließlich zugegeben.
„Demnach ist Ihr wirklicher Name John Heywood?“
„Ja, Sir.“
„Dann muß ich Ihnen mitteilen, Sergeant, daß Ihr Vater tot ist.“
Lord Cheriton hatte nichts zu erwidern gewußt. Zu sagen, daß es ihn freue und er schon lange keine so gute Nachricht erhalten habe, wäre äußerst taktlos gewesen, wenn es auch der Wahrheit entsprach.
„Und das bedeutet“, hatte der General hinzugesetzt, „daß Sie Lord Cheriton sind, wenn ich nicht irre.“
Lord Cheriton hatte nie an den Titel gedacht.
„Lord Cheriton?“ hatte er erstaunt wiederholt.
„Wünschen Sie unter den gegebenen Umständen Ihren Abschied zu nehmen?“ hatte Sir Arthur gefragt.
„Nein, Sir. Natürlich nicht, Sir.“
„Wie ich höre, erben Sie einen beachtlichen Besitz.“
Lord Cheriton hatte geschwiegen.
„Der Anwalt Ihres Vaters ist hier, Sergeant, und Sie bekommen natürlich frei, wenn Sie wollen.“
„Vielen Dank, Sir.“
Sir Arthur hatte einen Moment überlegt.
„Unter den gegebenen Umständen“, hatte er schließlich hinzugefügt, „wäre es wohl ratsam, wenn Sie sich das Offizierspatent kaufen würden, Sergeant. Ich werde Sie in jeder Weise unterstützen. Daß Sie mit meinen uneingeschränkten Empfehlungen rechnen können, sei nur am Rande bemerkt.“
Es war Lord Cheriton nichts anders eingefallen, als zu salutieren und einige unverständliche Dankesworte zu murmeln.
„Ich werde Sie in meinen Stab berufen.“
Noch heute erinnerte sich Lord Cheriton genau daran, welches Gefühl des Stolzes sich seiner bemächtigt hatte.
Irgendwie hatte er instinktiv gespürt, daß er das Vertrauen eines Mannes genießen würde, der als Herzog von Wellington noch Geschichte machen sollte.
Der Anwalt des Vaters von Lord Cheriton hatte in einem Nebenraum auf ihn gewartet.
„Ich hatte größte Schwierigkeiten, Sie ausfindig zu machen, Mylord“, hatte ihn der grauhaarige Mann mit leicht vorwurfsvollem Ton begrüßt.
„War das denn so wichtig?“ hatte Lord Cheriton gefragt.
Der Anwalt hatte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen angesehen.
„Äußerst wichtig sogar“, hatte er erklärt. „Hier ist eine Liste der Besitzungen Ihres Vaters, einschließlich der auf der Bank deponierten Wertpapiere. Sie werden feststellen, Mylord, daß Sie ein beachtliches Vermögen geerbt haben.“
Es war Lord Cheriton plötzlich klar gewesen, daß er mit dem Tod seines Vaters zu einem sehr reichen Mann geworden war, aber im Moment hatte ihn diese Tatsache weder beeindruckt noch sonderlich gefreut.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er von seinem Vater nichts angenommen, nicht einmal den Adelstitel, aber er wußte natürlich, daß dies nicht möglich war.
Das Leben hatte ihn zu einem scharfsinnigen Menschen gemacht, zu einem Menschen von schnellem Entschluß.
So beauftragte er den Anwalt, sich um den Grundbesitz in London zu kümmern und die Mieten einzunehmen.
Weiterhin sollte das Cheriton House am Berkeley Square abgeschlossen und in tadellosem Zustand gehalten werden, bis er selbst es benötige.
Die Pächter der kleinen Bauernhöfe in der Grafschaft Sussex sollten gefragt werden, ob sie kaufen wollen. Wenn sie ablehnten, sollten ihnen Gebäude und Grund weiterhin zum bisherigen Pachtpreis überlassen werden.
„Und das Haus?“ hatte der Anwalt gefragt. „Was soll mit Larks Hall geschehen?“
Lord Cheriton antwortete spontan und ohne zu überlegen.
„Es soll zerfallen“, hatte er mit seltsam tonloser Stimme gesagt.
Als er sich nun jenem Hause näherte, sah er, daß es zwar noch nicht zerfallen war, aber die neun Jahre der Vernachlässigung hatten ihren Tribut gefordert.
Lord Cheriton ritt am See vorbei. Er erinnerte sich an die wenigen fröhlichen Stunden, die er als Kind hier beim Angeln oder Baden verbracht hatte.
Daß die Eingangstür des Hauses offen stand, erstaunte ihn.
Umso besser, dachte er. Wenn Regen und Wind hinein peitschten, würde der Fußboden der großen Halle umso schneller verfaulen.
Er sprang von seinem Pferd, das ihn bereits über die Schlachtfelder Europas getragen hatte und mit ihm zurück nach England gekommen war, legte ihm die Zügel über den Hals und ließ es freilaufen. Ein Pfiff würde genügen, und es war wieder an Ort und Stelle.
Fast widerwillig betrat er das Haus.
Er traute seinen Augen nicht. Ganz entgegen seiner Erwartung war keine Spur von Schmutz und Zerfall zu entdecken.
Keine Spinnweben, keine von den Wänden gefallenen Bilder, kein Staub auf den Teppichen. Alles war tadellos sauber.
Lord Cheriton sah erstaunt um sich.
Die Eichenmöbel schienen sogar gewachst zu sein. Auf dem Tisch am Fuß der Treppe, wo die wenigen Besucher, die früher in dieses Haus gekommen waren, ihre Visitenkarten in eine Silberschale gelegt hatten, stand sogar ein Rosenstrauß.
Nachdenklich ging Lord Cheriton auf das Zimmer zu, das früher der Salon seiner Mutter gewesen war.
Es war der einzige Raum im ganzen Haus, an den er sich gern erinnerte. Die Bibliothek, in der sein Vater ihn auszupeitschen pflegte, war für ihn wie eine finstere Folterkammer. Das Eßzimmer, in dem sein Vater bei jeder Mahlzeit getobt hatte, hatte ihn stets mit Angst und Schrecken erfüllt.
Lord Cheriton öffnete die Tür zum Salon und starrte fassungslos hinein.
In den Raum schien die Sonne und nichts schien sich seit Lord Cheritons Kindertagen geändert zu haben. Lediglich die Farbe der Vorhänge war etwas verschossen und der Stoff an mehreren Stellen mit geschickter Hand ausgebessert.
Auch der Bezug der Sitzmöbel war ausgebleicht, doch das Holz glänzte, und überall standen Blumen: Rosen, Rittersporn, Buschnelken und sogar Lilien, wie sie seine Mutter im Gewächshaus für den Altar der kleinen grauen Kapelle gezogen hatte.
„Das ist unglaublich“, murmelte Lord Cheriton vor sich hin. „Einfach nicht zu fassen.“
Damit hatte er weiß Gott nicht gerechnet.
Lord Cheriton stand noch wie angewurzelt auf der Schwelle, als durch die offene Tür, die in den Park hinausführte, eine Gestalt in den Salon kam. In dem gleißenden Sonnenlicht sah es so aus, als sei ihr Kopf von einem Heiligenschein umgeben.
Lord Cheriton rührte sich nicht von der Stelle.
Es war ein junges Mädchen, das von draußen hereingekommen war. Es hatte den Arm voll weißer Rosen. Sie hielt das Gesicht gesenkt.
Doch plötzlich, als spüre sie die Anwesenheit eines anderen, sah sie hoch. Sie hatte wunderschöne große Augen. Plötzlich schlug sie vor Schreck die Hand vor den Mund.
„Verzeihen Sie“, sagte Lord Cheriton, „aber die Haustür stand auf, und ich dachte, daß niemand hier wohnt.“
„Wer... wer hat denn behauptet, daß niemand hier wohnt?“ stammelte das junge Mädchen.
Ihre Stimme zitterte vor Angst.
„Niemand“, antwortete Lord Cheriton. „Ich dachte bloß, daß das Haus leer steht.“
„Wieso?“
„Das ist doch Larks Hall, oder?“
„Ja.“
„Wenn ich mich nicht irre, gehört das Haus doch Lord Cheriton, oder?“
„Ja, das stimmt, aber er kommt nie hierher. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber wir haben gehört, daß er das Haus zerfallen lassen will.“
Nachdenkliches Schweigen.
„Ich kenne den Besitzer zufällig“, sagte Lord Cheriton schließlich.
„Sie kennen ihn?“
Die Worte waren fast ein Schrei. Das junge Mädchen legte die Rosen auf ein Tischchen, als seien sie ihr plötzlich zu schwer geworden.
„Ja, ich kenne ihn“, antwortete Lord Cheriton.
„Er hat doch nicht etwa vor, zurückzukommen?“
Die Angst sprach aus den großen blauen Augen.
„Kaum“, antwortete Lord Cheriton. „Aber warum hätten Sie etwas dagegen?“
Das junge Mädchen sah weg. Sie spielte nervös mit den Händen.
„Werden Sie ihm erzählen, daß Sie hier gewesen sind?“ fragte sie schließlich.
„Gibt es einen Grund, warum ich es nicht tun sollte?“
„Allerdings“, sagte sie bestimmt.
„Das verstehe ich nicht.“
Das junge Mädchen machte eine hilflose Handbewegung. Sie sah Lord Cheriton mit ernstem Gesicht an und schien zu überlegen, ob sie ihm trauen konnte.
„Beruhigt es Sie“, fragte Lord Cheriton ruhig, „wenn ich Ihnen verspreche, daß ich dem Besitzer nichts erzähle, was Sie nicht wünschen? Gleichzeitig allerdings würde ich schon gerne wissen, warum Sie nicht wollen, daß er von Ihrem Hiersein etwas erfährt.“
Das junge Mädchen seufzte.
„Ich wußte, daß Sie das fragen würden“, sagte sie.
„Aus Neugier frage ich, das gebe ich zu.“
Wieder sah das Mädchen den Fremden an. Die vielen Fragen, die sie sich über ihn stellte, waren ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
Lord Cheriton lächelte.
„Na?“ fragte er. „Wie schätzen Sie mich ein?“
„Darum geht es ja gar nicht“, antwortete das junge Mädchen, „, sondern einzig und allein darum, daß das Glück vieler Menschen davon abhängt, was Sie erzählen.“
„Das Glück vieler Menschen?“ fragte Lord Cheriton ungläubig.
„Ja, nämlich das derer, die hier wohnen.“
„Würden Sie mir das bitte näher erklären?“
„Ich muß es wohl versuchen“, antwortete das junge Mädchen. „Aber ich habe schreckliche Angst, daß Lord Cheriton uns verjagt, wenn er es erfährt.“
„Sie können sich auf mich verlassen“, sagte Lord Cheriton. „Ich werde ihm nichts erzählen, was für Sie von Nachteil wäre.“
„Das ist sehr nett von Ihnen, vor allem, weil Sie mir Ihr Ehrenwort geben, noch bevor Sie wissen, was ich Ihnen mitzuteilen habe.“
„Ich habe das Gefühl, daß dies nicht so tragisch sein kann“, sagte Lord Cheriton lächelnd. „Wenn Sie Vertrauen zu mir haben, habe auch ich Vertrauen zu Ihnen.“
Lord Cheriton, eigentlich nur daran gewöhnt, hart mit Männern zu verhandeln, merkte, daß er das Richtige gesagt hatte.
„Verzeihen Sie“, sagte das junge Mädchen, als bemerke sie erst jetzt, daß Lord Cheriton immer noch auf der Schwelle des Salons stand, „kommen Sie doch herein und nehmen Sie Platz. Ich war so überrascht, daß ich alle Manieren vergessen habe. Aber ich hätte nie gedacht, daß ein Fremder hierherkommt.“
„Passiert das denn nie?“
„Nein, nie. Sie haben alle viel zu sehr ...“
Das junge Mädchen brach mitten im Satz ab. Offensichtlich hatte sie etwas sagen wollen, was nicht für die Ohren anderer bestimmt war.
Lord Cheriton ging zum Kamin und setzte sich in einen Sessel, der dort stand.
Jetzt sah er das junge Mädchen aus einem anderen Blickwinkel und war nicht mehr von der Sonne geblendet.
Sie war sehr hübsch und hatte außergewöhnlich interessante Gesichtszüge. Ihre Augen waren groß und tiefblau, ihr Haar aschblond.
Das Mädchen war gertenschlank. Obwohl ihr Kleid ausgebleicht und verwaschen war, unterstrich es doch die sanften Kurven ihres Körpers und die schmale Taille.
„Wir haben uns einander noch gar nicht vorgestellt“, sagte Lord Cheriton, als er merkte, wie krampfhaft das Mädchen nach Worten suchte. „Ich bin Stuart Bradleigh und befinde mich auf dem Wege nach Dover.“
„Und ich bin Wiwina Compton.“
Lord Cheriton machte eine leichte Verbeugung.
„Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Compton“, sagte er.
Wiwina Compton setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel. Ihre Bewegungen waren graziös, sie hielt den Kopf aufrecht und wäre für jeden Ballsaal eine Zierde gewesen, ging es Lord Cheriton durch den Kopf.
Sie sah ihn schweigend an.
„Also, erzählen Sie, Miss Compton“, forderte Lord Cheriton sie auf. „Ich darf Ihnen nochmals versichern, daß ich nichts weitersagen werde - es sei denn, Sie erlauben es mir.“
Wiwina Compton lächelte, aber ihr Blick war noch besorgt.
„Sie glauben jetzt sicher“, sagte sie, „daß Sie etwas Schreckliches zu hören bekommen.“
„Das kann ich erst beurteilen, wenn ich es gehört habe.“
„Ja, natürlich.“
Wiwina Compton holte tief Luft und begann.
„Als der alte Lord Cheriton vor neun Jahren starb, war seine Dienerschaft plötzlich arbeitslos.“
„Seine Dienerschaft?“ fragte Lord Cheriton ungläubig.
Mit allem hatte er gerechnet, bloß damit nicht.