Kitabı oku: «Gefangene der Liebe»
Gefangene der Liebe
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2015
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
1. 1819
Pandora nähte den Bezug, den sie gewaschen und gebügelt hatte, wieder auf das Kissen und dachte sich, daß es wohl keine Farbe und kein Muster gab, die noch häßlicher waren.
Es war ein schmutziges Braun, verziert mit einem fast farblosen, blassen Grün.
Ihr Vater hatte oftmals gesagt, daß man Menschen nach den Farben beurteilen könnte, mit denen sie sich umgaben. Und diese Farben waren wirklich typisch für Tante Sophie.
Pandora stieß einen kleinen Seufzer aus, als sie daran dachte, wie unglücklich sie war, seit sie in dem Palast des Bischofs in Lindchester lebte.
Das Gebäude war groß, erdrückend und kalt und für Pandoras Geschmack außerordentlich häßlich. Diese Beschreibung paßte eigentlich auf das Leben, das sie führte, seit sie hier angekommen war.
Sie war so glücklich gewesen in dem kleinen Pfarrhaus in Chart mit dem Rosengarten und den Ställen, in denen die Pferde ihres Vaters standen - die Pferde, die ihre Mutter oft lachend als die wichtigsten Mitglieder der Familie bezeichnet hatte.
Ihr Vater hatte eigentlich niemals wirklich den Wunsch gehabt, Geistlicher zu werden, aber als dem dritten Sohn einer Pastorenfamilie war ihm keine andere Möglichkeit geblieben.
Es war ihm jedoch gelungen, sein Leben so einzurichten, daß er wenig Arbeit aber viel Zeit zum Reiten und Jagen hatte.
Den „Jagenden Pfarrer“ nannten die Leute ihn und vergaßen dabei viel zu oft, daß er an jedem Sonntag auf der Kanzel stand und predigte. Sie schienen in ihm niemals den Pfarrer, sondern nur einen attraktiven und jovialen Mann zu sehen, den man sowohl im Jagdrevier als auch anderswo gerne zum Freund hatte.
Welch ein Vergnügen war es, in seiner Gesellschaft zu sein, dachte Pandora und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, die im selben Augenblick ihren Blick trübten.
Sie hatte so viele verzweifelte Tränen vergossen, als sie von dem Unfall erfahren hatte, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, daß sie hinterher glaubte, nie wieder weinen zu können.
Und doch fiel es ihr noch immer schwer, die Tränen zurückzuhalten, obwohl sie schon über ein Jahr im Haus ihres Onkels lebte. Alles um sie herum war so trostlos. Sie fühlte sich einsam und verlassen.
Ihre Eltern hatten einen wunderschönen Tag auf der anderen Seite der Grafschaft verbracht, und ihr Vater hatte einige neue, noch recht wilde Pferde ausprobiert.
Als die Dämmerung hereinbrach und beide schon recht müde waren, hatten sie sich in ihrer alten Kutsche auf den Heimweg gemacht.
Es war ein schöner, sonniger Tag gewesen; jetzt jedoch brach scharfer Frost herein.
Besorgt hatte Charles Stratton seine Frau gefragt: „Es sieht aus, als könnten wir den Rest der Woche nicht mehr jagen.“
„Vielleicht bekommen wir Schnee“, sagte seine Frau optimistisch.
„Das bezweifle ich“, erwiderte er. „Ist dir auch wirklich warm, mein Liebling?“
„Ja, danke“, antwortete sie und kuschelte sich an ihn.
Sie erreichten die Spitze eines Hügels, und Charles Stratton stellte fest, daß der Weg ein wenig vereist war, so daß er vorsichtig fahren mußte.
Er hielt die Pferde zurück und fuhr langsam weiter, als plötzlich nur wenige Meter vor ihnen ein Hirsch über den Zaun sprang und vor den Pferden über den Weg lief.
Die Pferde waren so erschrocken, daß sie in einen wilden, unkontrollierten Galopp verfielen. In halsbrecherischem Tempo rasten sie auf den Fluß am Fuße des Hügels zu.
Man hatte Pandora genau berichtet, was geschehen war: Die alte Kutsche war gegen die Brücke geschleudert worden, und ihr Vater und ihre Mutter waren über die steile Uferböschung in den Fluß geworfen worden.
Dabei hatte ihr Vater sich den Hals gebrochen. Ihre Mutter jedoch war bewußtlos, mit dem Gesicht nach unten, in den Fluß gefallen und dann ertrunken.
Pandora hatte sich oft vorgestellt, daß es besser für sie gewesen wäre, hätte sie zusammen mit ihren Eltern den Tod gefunden.
Als ihr Onkel, der Bischof, ihr mit offensichtlichem Widerwillen unter dem Deckmantel heuchlerischer Großmut eröffnet hatte, daß sie fortan mit ihm und seiner Frau im Palast leben sollte, dachte sie, daß es ihr in Zukunft unmöglich sein würde, jemals wieder zu lachen.
Und in der Tat hatte sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante nichts zu lachen.
Sie waren zwar nicht körperlich grausam zu ihr, aber sie ließen sie sehr deutlich fühlen, wie sehr sie ihre Anwesenheit störte. Nichts konnte sie ihnen recht machen, an allem hatten sie etwas auszusetzen, egal, wie große Mühe Pandora sich auch gab.
Da sie jedoch ein intelligentes Mädchen war, wurde ihr nach einiger Zeit klar, daß es ihr Aussehen war, wodurch ihre Tante sich am meisten angegriffen fühlte.
Pandora ähnelte sehr ihrer Mutter. Ihr zartes Gesicht und ihre großen, blauen Augen standen in so krassem Gegensatz zu der plumpen Erscheinung ihrer Tante, daß sie sehr gut verstehen konnte, daß die bereits alternde Frau sie ablehnte.
Es gab unzählige Aufgaben für sie zu erledigen, und obwohl sie gutwillig alles tat, was man ihr auftrug, war ihre Tante doch niemals mit dem Ergebnis zufrieden.
Sicher würde auch an dem Kissen wieder etwas auszusetzen sein: entweder war es zu fest oder zu lose genäht, oder sie hatte es nicht sorgfältig genug gebügelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie es nun noch einmal machen müssen.
Erleichtert dachte sie daran, daß ihr Onkel und ihre Tante heute nach London fahren würden.
Sie hatten eine Einladung zu einem Gartenfest erhalten, das der Bischof von London in Lambeth Palace gab.
Jahr für Jahr sah ihre Tante diesem Ereignis erwartungsvoll entgegen. Und so war Pandora seit drei Wochen damit beschäftigt, die Garderobe ihrer Tante herzurichten. Sie brachte neue Spitzen an ihren Blusen an, verschönerte ihre Kleider mit Borten und Litzen und nahm unzählige Änderungen an dem Sonnenschirm vor, den die Tante tragen würde.
Aber was immer Tante Sophie auch anzog, mit ihrer massigen Figur sah sie doch gleichbleibend plump aus, und das war auch zweifellos einer der Gründe, warum sie während des Frühstücks mit unverhohlener Feindseligkeit auf Pandoras schlanke Figur gesehen hatte, die auch durch das einfache, schon fast puritanisch geschnittene Kleid, das sie trug, nicht zu verbergen war.
Wie gewöhnlich, war es während der Mahlzeit sehr schweigsam zugegangen, denn der Bischof liebte es nicht, während des Essens Gespräche zu führen.
Statt dessen hatte er „The Times“ gelesen, die vor ihm auf einem silbernen Zeitungsständer stand.
Zwei Diener servierten die reichlichen Speisen in silbernen Schüsseln, und der Bischof und seine Frau stärkten sich für die ihnen bevorstehende Reise.
Pandora aß nur sehr wenig und wurde dann entlassen, indem ihr die Tante drei Listen gab. Die Seiten waren eng beschrieben.
„Diese Dinge wirst du erledigen, während ich fort bin, Pandora“, sagte sie mit ihrer harten Stimme. „Es besteht kein Grund, daß du nachlässig und faul bist, nur weil dein Onkel und ich nicht hier sind. Du wirst sie Punkt für Punkt abhaken, sobald du sie erledigt hast. Ich werde nach meiner Rückkehr am Freitag alles genau inspizieren, und ich erwarte von dir, daß du bis dahin alles sorgfältig ausgeführt hast.“
„Ich werde mein Bestes tun, Tante Sophie.“
„Dann wollen wir hoffen, daß dein Bestes diesmal besser ist, als ich es bisher von dir gewohnt bin“, erwiderte ihre Tante sarkastisch.
Pandora erhob sich, nahm die Listen, knickste und verließ den Raum.
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, rannte sie in den kleinen Wohnraum, in dem sie ihren Nähkorb und einige andere persönliche Dinge aufbewahrte.
Statt jedoch nun die Listen zu lesen, was man sicher von ihr erwartete, ging sie zum Fenster und sah hinaus. Mit einem Gefühl großer Freude dachte sie daran, daß sie nun frei war.
Drei ganze Tage würde sie kein Schimpfen hören, niemand würde ständig etwas an ihr auszusetzen haben, sie würde keine versteckten Anspielungen über ihren Vater und ihre Mutter hören müssen.
„Was werde ich alles tun? Wie kann ich meine Zeit am besten verbringen?“ fragte sie sich, obwohl sie die Antwort sehr gut kannte.
Sobald ihr Onkel und ihre Tante das Haus verlassen hatten, würde sie nach Chart fahren, um mit den Menschen zu sprechen, die ihre Eltern gekannt und geliebt hatten.
Das Pfarrhaus würde sie jedoch nicht besuchen. Sie konnte es noch immer nicht ertragen, andere Leute in dem Haus wohnen zu sehen, das sie noch immer als ihr Zuhause betrachtete.
Aber es gab viele Menschen in Chart, die sie herzlich begrüßen und willkommen heißen würden, weil sie die Tochter ihres Vaters war und diese Menschen sie kannten, seit sie auf die Welt gekommen war.
Pandora legte gerade das Kissen an seinen Platz zurück und dachte darüber nach, wie häßlich es war, als sie hörte, wie jemand das Arbeitszimmer ihres Onkels betrat, das an den Wohnraum angrenzte.
Dann hörte sie die Stimme ihrer Tante.
„Bevor wir wegfahren, Augustus, mußt du Pandora noch sagen, daß sie auf keinen Fall in die Nähe von Chart Hall reiten darf.“
„Ich habe gerade an Pandora gedacht“, erwiderte der Onkel. „Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, dir zu erzählen, daß Prosper Witheridge mich gestern, bevor er seinen Vater besuchte, um Erlaubnis gebeten hat, ihr den Hof zu machen.“
„Willst du damit sagen, daß er Pandora heiraten möchte?“ fragte Mrs. Stratton ungläubig, als wäre sie selbst niemals auf einen solchen Gedanken gekommen.
„Er sagte, daß er eine tiefe Zuneigung zu ihr empfinden würde“, entgegnete der Bischof. „Allerdings hat er, wie es sich ja auch gehört, noch nicht mit ihr darüber gesprochen, sondern er bat mich um meine Erlaubnis dafür.“
„Ich muß sagen, daß ich ihn für intelligenter gehalten habe“, sagte Mrs. Stratton spitz. „Aber was deine Nichte angeht, so sollte sie sehr dankbar sein, daß ein solcher Mann sie zur Frau begehrt.“
„Pandora ist noch sehr jung“, meinte der Bischof gedankenvoll. „Ich gebe zu, daß ich es lieber sehen würde, wenn sie noch eine Weile warten würde, ehe sie eine solche Verantwortung auf sich lädt, wie sie die Ehe nun einmal ist.“
„Sie wird aber niemals ein besseres Angebot erhalten“, antwortete Mrs. Stratton. „Sicher, Lord Witshaw hat zwei Söhne, die älter sind. Aber immerhin ist Prosper recht wohlhabend - ich glaube, er hat sogar ein beträchtliches Vermögen.“
„Ich habe gar nicht so sehr an die gesellschaftliche Stellung gedacht“, sagte der Bischof.
„Woran denn sonst?“ fragte sie schnell und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: „Wie kannst du deine Erlaubnis auch nur eine Sekunde lang verweigern? Das hast du doch getan, nicht wahr?“
„Ich habe ihm gesagt, daß ich darüber nachdenken werde“, erwiderte der Bischof. „Ich werde ihn meine Antwort wissen lassen, sobald ich aus London zurück sein werde.“
„Und diese Antwort wird ‘Ja’ sein, Augustus, ein unmißverständliches ‘Ja’! Und ich kann dir versichern, daß es eine große Erleichterung für mich sein wird, Pandora endlich loszuwerden. Ich kann nur hoffen, daß Prosper Witheridge stark genug ist, diese bedauerliche Widerspenstigkeit in ihr zu brechen, die sie zweifellos von der Familie ihrer Mutter geerbt hat - nicht von deiner.“
Wieder entstand eine Pause, bevor Mrs. Stratton sagte: „Das erinnert mich daran, daß ich dich gebeten habe, Pandora zu verbieten, nach Chart zu gehen. Ich glaube nämlich, dieser Mann ist wieder da.“
„Der Graf?“
„Wer denn sonst? Ich habe gehört, daß Seine Lordschaft vor zwei Tagen angekommen sei. Du weißt so gut wie ich, was das bedeutet.“
„Und ob ich das weiß“, antwortete der Bischof ernst. „Aber ich kann nichts dagegen tun. Wenn ich nur daran denke, in welcher Weise er mit mir gesprochen hat, als ich mich bei ihm beschwerte.“
„Er ist eine Schande für seinen Namen als auch für die gesamte Nachbarschaft“, bemerkte Mrs. Stratton empört. „Und in Lindchester wird man sich wieder begierig all die Geschichten erzählen über das, was in seinem Haus geschieht, welche Leute ihn besuchen und wie lange sie dort bleiben.“
Sie gab einen Laut von sich, der Widerwillen und Entrüstung ausdrückte.
Dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: „Lady Henderson hat mir erzählt, daß die Frauen, mit denen der Graf sich umgibt, nichts weiter als Dirnen und Komödiantinnen seien. Kein anständiger Mann würde es wagen, sich in Gesellschaft solcher Kreaturen zu zeigen.“
„Lady Henderson sollte sich nicht selbst verunreinigen, indem sie von derartigem Abschaum spricht“, sagte der Bischof unwillig. „Und ich hoffe, Sophie, daß du die Leute nicht auch noch ermunterst, Geschichten über die Vorkommnisse in Chart Hall zu verbreiten. Du weißt so gut wie ich, daß die meisten solcher Geschichten übertrieben sind und letztlich nur denen schaden, die sie sich anhören.“
„Es dürfte sehr schwer sein, irgendetwas von dem, was man sich über den Grafen erzählt, auch noch zu übertreiben“, erwiderte Mrs. Stratton. „Du mußt Pandora verbieten, in die Nähe von Chart zu gehen. Dir wird sie sicher eher gehorchen als mir.“
„Ich werde es ihr sagen“, versprach der Bischof. „Außerdem wird sicher auch Prosper Witheridge ein wenig auf sie achten können. Er kommt ja heute abend zurück.“
„Je weniger er über Pandoras Verwandtschaft erfährt, desto besser. Er könnte sich sein Angebot, sie zu heiraten, sonst noch einmal überlegen“, sagte Mrs. Stratton giftig, und dann hörte Pandora, wie sich die Tür des Arbeitszimmers hinter ihr schloß.
Bewegungslos hatte sie erlauscht, was die beiden im Nebenzimmer besprochen hatten.
Jetzt hörte sie ihren Onkel hin- und hergehen, als würde er diverse Papiere zusammensuchen. Dann wurde die Tür des Arbeitszimmers wieder geöffnet und geschlossen.
Jetzt erst bemerkte Pandora, daß sie während dieser ganzen Zeit kaum gewagt hatte zu atmen, so daß sie jetzt nach Luft schnappen mußte.
Prosper Witheridge! War es überhaupt möglich, sich ihn auch nur eine Sekunde lang als Ehemann vorzustellen?
Erst seit drei Monaten war er der Kaplan ihres Onkels. Instinktiv hatte sie vom ersten Augenblick an gespürt, daß die Art und Weise, in der er sie ansah, nicht wie die eines Mannes war, der sein Leben dem Dienst Gottes gewidmet hatte. Daher war sie jeder Möglichkeit, ihm zu begegnen, aus dem Weg gegangen.
Und jetzt, wenn es nach dem Willen ihrer Tante ging, würde sie diesen Mann sogar heiraten müssen. Schon der Gedanke daran verursachte ihr eine Gänsehaut.
Sie war sich der Tatsache wohl bewußt, daß sie erst achtzehn Jahre alt und ihr Onkel ihr Vormund war. Es würde mehr als schwierig sein, sich einer seiner Entscheidungen zu widersetzen, die er für ihre Zukunft traf.
Aber Prosper Witheridge!
„Ich kann ihn nicht heiraten ... ich kann es nicht!“ stöhnte sie auf. „Ich hasse ihn! Etwas an ihm stößt mich ab, er ist mir so widerwärtig, wie vorher noch kein anderer Mensch, dem ich begegnet bin!“
Aber sie wußte, daß es für sie fast unmöglich sein würde, eine Heirat zu verhindern, wenn erst ihr Onkel seinen Segen zur Verlobung gegeben hatte.
„Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“ sagte sie immer wieder.
Es schüttelte sie bei dem Gedanken an die Blicke, die er ihr immer zuwarf, und an seine ständig feuchten und heißen Hände.
Plötzlich erschien ihr der Palast wie ein Gefängnis, in das man sie gesperrt hatte. Und wenn sie es tatsächlich als die Frau von Prosper Witheridge verlassen würde, dann bedeutete dies, daß sie ein großes Gefängnis mit einem kleinen tauschen würde. Dann würde sie nie wieder frei sein können.
„Ich kann es nicht ertragen!“ stieß sie atemlos hervor.
Sie hörte ihre Tante nach ihr rufen.
Als sie in die Halle hinauslief, waren Tante und Onkel bereits reisefertig. Die Diener beeilten sich, das Gepäck hinauszutragen und in der Kutsche zu verstauen.
„Wo bist du denn gewesen, du lästiges Mädchen?“ fragte Mrs. Stratton. „Niemals bist du da, wenn man dich braucht. Du hast doch sehr wohl gewußt, daß dein Onkel und ich um elf Uhr abfahren wollten.“
„Es tut mir leid, Tante Sophie, aber ich habe vergessen, auf die Zeit zu achten“, sagte Pandora freundlich.
„Vergessen! Vergessen! Das ist alles, was du kannst. Aber ich habe dir ja schon oft gesagt, daß du einen Kopf wie ein Sieb hast. Jetzt sei wenigstens so freundlich und benimm dich, während wir nicht hier sind. Mrs. Norris wird hier im Palast schlafen. Aber sie kann nicht vor sechs Uhr abends hier sein, so daß du selbst auf dich aufpassen mußt, bis sie kommt.“
„Ja, Tante Sophie.“
„Dein Onkel hat dir noch etwas zu sagen.“ Mrs. Stratton warf ihrem Gatten einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Ja, ja, natürlich“, sagte der Bischof, als hätte er es bereits vergessen. „Ich wünsche nicht, daß du während unserer Abwesenheit in die Nähe von Chart reitest. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Onkel Augustus.“
„Dann denke freundlicherweise auch an die Worte deines Onkels“, mahnte Mrs. Stratton. „Wenn du ungehorsam bist, Pandora, wirst du nach unserer Rückkehr unerbittlich dafür bestraft werden.“
„Ja, Tante Sophie.“
Dann entschwebte Mrs. Stratton durch die Tür zur Reisekutsche des Bischofs.
Es war ein sehr eindrucksvolles Gefährt. An jeder Tür befand sich das Wappen. Die Diener und der Kutscher waren in eindrucksvolle Livreen gekleidet. Vier Diener begleiteten sie auf der Reise. Sie fuhren auf den Außensitzen der Kutsche mit.
Als der Bischof mit Pandora die Stufen hinabstieg, sagte er leise: „Versuche deine Tante zufriedenzustellen, mein Kind, und tu nichts Unrechtes, während wir fort sind!“
„Ich werde es versuchen, Onkel Augustus.“
Für einen kurzen Augenblick ruhte der Blick des Bischofs fast wohlwollend auf seiner Nichte. Die Sonne schien sich in ihrem Haar und in ihren blauen Augen zu spiegeln.
Aus dem Innern der Kutsche ertönte ungeduldig die Stimme der Tante: „Augustus! Wir sollten schon längst auf dem Weg sein!“
„Ja, natürlich, meine Liebe.“
Der Bischof stieg ein, einer der Diener schloß die Tür, die Kutsche setzte sich in Bewegung. Es fehlt nur noch, daß eine Trompetenfanfare ertönt, dachte Pandora. Sie sah ihnen nach, wie sie den schmalen Weg entlangfuhren, der auf die Hauptstraße führte, und dann ging sie zurück ins Haus.
Beide waren fort.
Sie war frei. Aber die Freude, die sie eigentlich bei diesem Gedanken empfand, war getrübt durch das, was sie kurz zuvor gehört hatte.
Ohne darauf zu achten, wohin ihre Füße sie trugen, ging sie in das Arbeitszimmer ihres Onkels.
Es wäre ein sehr schöner Raum, wenn ihre Tante ihn nicht so abscheulich ausgestattet hätte mit den senffarbenen Vorhängen und dem Teppich, dessen Farben sich in verschiedenen Brauntönen erschöpften.
Der Raum wirkte karg ohne eine einzige Blume. Nicht ein Farbfleck hellte die Dumpfheit auf.
Pandora betrachtete den Schreibtisch ihres Onkels, auf dem unzählige Papiere und Schriftstücke lagen, alle fein säuberlich aufgestapelt. Ihr kam der Gedanke, daß sie sicherlich unter dem Kennwort registriert war: „Pandora Stratton - Nichte und Wohlfahrtsobjekt.“
Wenn ich nur ein wenig Geld hätte, dachte sie, würde ich nach London gehen, mir Arbeit suchen und mich unabhängig machen.
Diese Idee jedoch war so revolutionär und so undurchführbar, als wollte sie auf den Mond fliegen oder auf dem Meeresboden leben.
Das bißchen Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, befand sich im Gewahrsam ihres Onkels. Sie war sicher, daß es für ihre Aussteuer sowie für die Mitgift im Falle einer Heirat verwendet werden sollte.
Ihrer Heirat!
Der Gedanke daran schien sie wie ein Messer zu durchbohren.
„Was kann ich nur tun? Oh, Papa, sag’ mir, was ich tun soll“, bat sie laut.
Sie wußte, daß ihr Vater und ihre Mutter sie niemals gegen ihren Willen zu einer Heirat gezwungen hätten.
Die beiden hatten gegen den Willen der Familie Chart geheiratet, die entsetzt darüber gewesen war, daß eines ihrer Mitglieder einen mittellosen und in ihren Augen so unwichtigen Mann wie einen Pfarrer heiraten konnte.
Als sie Charles Stratton später jedoch kennenlernten, hatten die meisten es verstanden, erzählte Lady Eveline später ihrer Tochter.
„Dein Vater war ein gutaussehender, attraktiver und glücklicher Mensch“, sagte sie. „Ich glaube, meine Tanten und meine Cousinen, ja selbst meine Großmutter, die ihn auch abgelehnt hatte, haben sich alle in ihn verliebt.“ Das hieß jedoch nicht - und Pandora wußte dies sehr wohl - daß sie auch ihre gesellschaftliche Stellung geopfert hätten, um, wie ihre Mutter es getan hatte, in einem kleinen Pfarrhaus zu leben und auch mit wenig Geld glücklich zu sein.
„Hast du es jemals bereut, Papa geheiratet zu haben?“ hatte Pandora ihre Mutter eines Tages gefragt.
Die jedoch hatte nur gelacht.
„Sehe ich denn so aus, als hätte ich es jemals bereut, die glücklichste Frau der Welt geworden zu sein?“ hatte sie entgegnet. „Ich verehre deinen Vater, und er verehrt mich. Aber was noch wichtiger ist: wir haben eine wunderbare Tochter. Kann sich eine Frau denn mehr wünschen?“
Es schien ihrer Mutter auch niemals etwas auszumachen, daß sie viele Dinge nicht mehr tun konnte, an die sie seit ihrer Kindheit gewöhnt war.
Niemals war die Rede davon, nach London zu gehen, um an den vielen Bällen und Festlichkeiten während der Saison teilzunehmen. Auch die Einladungen, die gelegentlich vom Prinzregenten eintrafen, wurden niemals angenommen.
Statt dessen war ihre Mutter zufrieden damit, das kleine Pfarrhaus für ihren Mann herzurichten und gemütlich zu machen. Jeder Pfennig wurde gespart, damit sie es sich ermöglichen konnten, gemeinsam im Sommer zu reiten und im Winter zu jagen.
In gewisser Weise war es gar nicht so widersinnig, daß die Pferde, die ihr Vater so geliebt hatte, für ihren tragischen Tod verantwortlich waren.
Selbst in ihrer tiefen Trauer dachte Pandora manchmal, daß es das Beste für ihre Eltern gewesen sei, gemeinsam zu sterben, denn keiner von beiden wäre imstande gewesen, ohne den anderen weiterzuleben.
Eine solche Ehe wollte Pandora auch führen. Wie sollte sie in der Lage sein, nachdem sie ein so glückliches Paar gesehen hatte, sich auch nur vorzustellen, mit einem Mann wie Prosper Witheridge verheiratet zu werden?
Nicht genug, daß er ihr körperlich so zuwider war, er war außerdem anmaßend und scheinheilig, und hatte, genau wie ihre Tante, den Hang, alles und jeden zu kritisieren, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab.
Ihr Vater dagegen war ein außergewöhnlich toleranter Mensch gewesen. Immer hatte er Verständnis für die Fehler der anderen gezeigt.
„Sie tun ihr Bestes“, pflegte er zu sagen, wenn jemand kritisiert wurde, oder: „Wir müssen ihnen eine Chance geben. Die Menschen können nur so viel geben, wie ihnen zur Verfügung steht. Ich bin sicher, daß wir oftmals zu viel von ihnen verlangen.“
Prosper Witheridge würde niemals in dieser Weise denken, und Pandora war davon überzeugt, daß auch er fleißig über die Festlichkeiten, die in Chart Hall stattfanden, herzog.
Niemand im Palast des Bischofs dachte jemals daran, wie sehr es sie verletzte, wenn man den Mann in Verruf brachte, der ihr Cousin war.
Mochte er auch wirklich so schlecht sein, wie man es von ihm erzählte, so war sie doch der Meinung, daß es taktvoller wäre, mit Verleumdungen in ihrer Gegenwart zurückzuhalten.
Sie hatte den jetzigen Grafen von Chartwood niemals kennengelernt. Ihr Großvater, der vierte Graf, war zwei Monate nach dem Tode ihrer Eltern verstorben.
Er war schon alt und kränkelte bereits seit einiger Zeit, und Pandora wußte, daß er seinen voraussichtlichen Erben aus tiefstem Herzen haßte und ihm niemals gestattet hatte, nach Chart Hall zu kommen.
Seine Verbitterung war insofern verständlich, als die beiden Brüder von Pandoras Mutter im Krieg gefallen waren.
Der Jüngere war erst sechzehn, als er in der Schlacht am Nil getötet wurde, in der Nelson einen hervorragenden Sieg über die französische Flotte errang.
Der ältere Sohn, dem Pandora besonders zugetan war, kam bei Waterloo ums Leben.
Es war nicht nur der Verlust der Söhne, der den Vater zerbrach. Es war vor allem auch der Gedanke daran, daß der Titel und das Gut nun, nachdem auch die Tochter tot war, an einen obskuren Cousin übergehen sollten, für den er niemals auch nur ein geringes Interesse gezeigt hatte.
Es war wie ein Dorfbewohner einmal zu Pandora gesagt hatte: „Nachdem deine Mutter von uns gegangen war, hat sich Seine Lordschaft mit dem Gesicht zur Wand gedreht und alles Leben schien ihn verlassen zu haben.“
Pandora konnte das gut verstehen. Es war ihr ja ebenso ergangen. Aber es schmerzte sie doch sehr, als sie erfuhr, daß der fünfte Graf von Chartwood sich so sehr von seinen beiden Cousins unterschied.
Gerüchte über seine Extravaganzen, seine wilden Feste und die hohen Pferdewetten erreichten Lindchester. Sein Benehmen mußte so unerhört und außergewöhnlich sein, daß man sich in Pandoras Gegenwart nur flüsternd darüber unterhielt.
Kurz nachdem er seine Erbschaft angetreten hatte, war der neue Graf nach Chart Hall gekommen, und Pandora hatte im Innern ihres Herzens gehofft, daß er sie einladen würde, um sie kennenzulernen.
Es gab genügend Leute im Haus und auf dem Gut, die ihm Auskunft darüber hätten geben können, wo sie jetzt lebte. Statt dessen jedoch hörte sie lediglich Gerüchte über Orgien, die zu Weihnachten im Hause des Grafen stattgefunden haben sollten.
Der Klatsch blühte in der ganzen Grafschaft.
Man sprach kaum noch von etwas anderem, bis er zwei Monate später wiederkam. Die Familien in der Grafschaft, die eigentlich vorgehabt hatten, ihm einen Begrüßungsbesuch abzustatten, waren jetzt jedoch so aufgebracht, daß sie Abstand davon nahmen.
Immer, wenn Pandora seither mit den Leuten im Dorf sprach, bemerkte sie, daß alle von Veränderungen sprachen. Ihre Augen waren voller Furcht, wenn sie den Grafen erwähnten.
Ihre Tante sprach in ganz eindeutiger Weise über ihn, und Pandora hatte erfahren, daß ihr Onkel ihm einen offiziellen Besuch abgestattet hatte, um unter anderem mit ihm über gewisse Arbeiten zu sprechen, die auf dem Gut getan werden mußten.
Wütend und beleidigt war er zurückgekommen.
„Ich kann mich nicht erinnern, daß man mich jemals in dieser Weise beleidigt hat“, berichtete er.
Aber es war ihm nicht möglich, genau zu erzählen, was eigentlich geschehen war. Aus seinen Erzählungen konnte Pandora lediglich entnehmen, daß der Graf über jeden Vorschlag ihres Onkels gespottet hatte.
Es war jetzt Juni, und Pandora nahm an, daß der Prinzregent London verlassen und sich nach Brighton begeben hatte.
Daher war es wahrscheinlich, daß auch der Graf von Chartwood seine Stadtwohnung verschlossen hatte und auf seinen Landsitz gezogen war, wie wohl auch die meisten seiner Freunde.
Ohne Zweifel würde auch diesmal der Klatsch wieder aufblühen. Begierig würde man jeder Geschichte über den Grafen lauschen, um sie dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiterzuerzählen.
Und wieder würde Pandora darunter leiden. Jede Verunglimpfung des Grafen empfand sie als eine Beschmutzung des Namens, den auch einmal ihre Mutter getragen hatte.
Die Familie Chart hatte einmal eine große Rolle in der Geschichte Englands gespielt.
Es hatte Charts gegeben, die unter Charles I. zu den Royalisten zählten, Charts, die mit dem Herzog von Marlborough bei Blenheim gekämpft oder die in Indien und in anderen Teilen der Welt wichtige Rollen gespielt hatten.
Es war Pandora, als würde das Blut ihrer Vorfahren in ihren Adern aufschreien und sich dagegen aufbäumen, daß der neue Graf den Schlingen und Pfeilen ausgesetzt war, die diese unwichtigen, kleinen Menschen von Lindchester gegen ihn verwandten. Es machte ihnen Freude, ihn und seinen Namen zu verunglimpfen.
„Ich frage mich, wie er wohl in Wirklichkeit ist?“ sagte sie sich.
Sehr deutlich hatte sie noch die Stimme ihrer Tante im Ohr, als diese sagte: „Der Graf umgibt sich nur mit Dirnen und Komödiantinnen. Kein anständiger Mann würde es wagen, sich in Gesellschaft solcher Kreaturen zu zeigen.“
Kein anständiger Mann . . .
Diese Worte prägten sich Pandora ein, und plötzlich kam ihr der Gedanke, daß dies unter Umständen ein Fluchtweg für sie sein konnte.
Sie ging zum Fenster und sah in den Garten hinaus, der so pedantisch angelegt und ordentlich war, daß er jedes Mal ein wenig unnatürlich auf sie wirkte.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie den grünen Rasen in Chart, den Kräutergarten, der von elisabethanischen Mauern umsäumt war, den Rosengarten und die von bunten Blumen umgebene Sonnenuhr.
Das Heimweh überkam sie so plötzlich, daß sie es körperlich schmerzte.
Und dann kam ihr wieder diese Idee in den Sinn, so deutlich und klar erschien es ihr, als hätte sie endlich das fehlende Stück zu einem Puzzle gefunden, nach dem sie lange gesucht hatte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch ihres Onkels, was sie niemals gewagt hätte, wäre er im Haus gewesen, und schrieb einen Brief auf seinem persönlichen Papier.
Nachdem sie ihn zusammengefaltet hatte, verschloß sie ihn mit einem Siegel und ging dann in das kleine Zimmer, das sie im zweiten Stock des Palastes bewohnte.
Sie läutete nach einer Magd. Dann gab sie dieser einige Anweisungen, und ihre Stimme klang dabei so ruhig und gelassen, daß es sie selbst erstaunte.
Eine Stunde später fuhr Pandora in einer der Kutschen vom Palast fort, die sie und ihre Tante oft benutzten, wenn sie den Familien in der Nachbarschaft Besuche abstatteten.
Der alte Kutscher sah sie überrascht an, als sie ihm ihr Ziel nannte, aber er war schon zu lange im Dienst des Bischofs, als daß er einer Anordnung, die ihm gegeben wurde, widersprochen hätte.
Pandora setzte sich in die offene Kutsche und achtete besorgt darauf, daß die kleine Kiste mit ihren Kleidern auch gut verstaut wurde.