Kitabı oku: «In Liebe, Muschelkalk»

Yazı tipi:


Barbara Hartlage-Laufenberg

In Liebe, Muschelkalk

Das wechselvolle Leben

der Leonharda Ringelnatz

edition karo, berlin 2015

Inhalt

Cover

Titel

Eisenach

Leonharda

Hans

Annäherungen

Konkretisierungen

München

Berlin

Muschelkalk ohne Ringelnatz

Muschelkalk und Julius Gescher

Muschelkalk nach 1945

Danksagung

Ausgewählte Literatur

Bildnachweise

Quellenangaben

Die Autorin

Impressum

Da sang jemand, der eine Hängematte

Und ein Geigenfutteral auf dem Rücken hatte.

Eisenach

Frühsommer 1916, also mitten im Krieg. Leonharda Pieper, ein junges Mädchen von siebzehn Jahren, fährt mit dem Zug von Rastenburg in Ostpreußen nach Eisenach am Rande des Thüringer Waldes. Es ist ihr schwergefallen, sich von den Eltern und den Geschwistern zu verabschieden, aber sie freut sich auch auf das, was sie jetzt erwartet: Sie ist auf dem Weg zu einer Sprachenschule, um sich dort zur Lehrerin für Englisch und Französisch ausbilden zu lassen. Ihr Ziel in Eisenach ist die Burgstraße 16, wo Dora Kurtius, eine matronenhafte Dame, eine solche Schule betreibt.

Hans Bötticher, Anfang dreißig, macht in diesen Tagen auf der Durchreise von Kiel nach München in Eisenach Halt. In den letzten anstrengenden Wochen hat er als Marinesoldat bei Riga Minen in die Küstengewässer verbracht. In den Heimathafen Kiel zurückgekehrt, gibt es für die ganze Mannschaft einige Tage Urlaub. Bötticher, der sich später Joachim Ringelnatz nennen wird, will seine Eltern in Leipzig besuchen und dann weiter nach München fahren, wo er vor dem Krieg gelebt und jetzt seine Sachen untergestellt hat. Schon öfter ist er in Eisenach zu Besuch gewesen. Die recht lebensfrohe Frau Kurtius und Hans Bötticher kennen sich seit einigen Jahren. Sie hat ihn in der Münchner Künstlerkneipe »Simplicissimus« erlebt, wo er mit seinen Gedichten aufgetreten ist. Und er nutzt die Bekanntschaft zu ihr nur zu gern, um in ihrer Schule immer wieder neue Mädchen kennenzulernen. Mit einer der Schülerinnen, die aber längst ihre Ausbildung abgeschlossen und Eisenach verlassen hat, war er sogar einmal kurz verlobt. Die Mädchen der Sprachenschule sind stets hingerissen von diesem komischen Vogel, der sie zum Eisessen ins Café einlädt und ungewöhnliche Späße auf Lager hat. Sie wissen auch, dass er ein Dichter ist und schon Gedichte veröffentlicht hat, was ihnen mächtig imponiert.

In Eisenach treffen Leonharda und Hans zum ersten Mal aufeinander. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie zueinander finden. Und gut achtzehn Jahre nach dieser ersten Begegnung wird er tot sein, und sie wird noch mehr als vierzig Jahre leben.


Du muschelverkalkte Perle

Leonharda

Leonharda stammt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Als sie 1898 in Rastenburg geboren wird, ist ihr Vater, Wilhelm Pieper, seit über einem Jahr Bürgermeister in dieser Stadt mit den roten Backsteinhäusern, inmitten einer wald- und seenreichen Landschaft. Das kleine Städtchen liegt südöstlich von Königsberg am Rande der Masurischen Seen. Die Piepers stammen nicht von hier. Wilhelm und seine Frau Johanna Clara, geborene Raske, kommen ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wo Wilhelm Stadtsekretär war. 1891 wird das erste Kind, der Sohn Hans, geboren. Pieper ist ehrgeizig. Er macht Karriere. Und er und seine Frau scheuen dafür auch größere Ortsveränderungen nicht: 1894 zieht die kleine Familie um nach Landsberg an der Warthe, wo Pieper erneut Stadtsekretär ist. Aber schon ein Jahr später geht es weiter nach Pillau, wo Pieper zum Bürgermeister gewählt worden ist. Hier wird im selben Jahr das zweite Kind, die Tochter Gerda, geboren. Schon wird ein nächster Umzug weiter nach Osten notwendig: Denn ab April 1897 ist Pieper Bürgermeister von Rastenburg, und das wird er 24 Jahre lang bleiben.

Am 6. November 1898 kommt hier das dritte Kind der Familie zur Welt, Leonharda. Das kleine Mädchen lernt seine Mutter gar nicht richtig kennen, denn diese stirbt schon zwei Jahre später mit nur 37 Jahren. Doch Leonharda, Gerda und Hans bekommen 1902 eine neue Mutter: Pieper heiratet die dreißigjährige zeichnerisch begabte Elise Loewner, die zuvor Hauslehrerin bei den Kindern des Barons von Boitzenburg war, und die gut mit den drei Halbwaisen umgehen kann. Weitere Geschwister werden geboren: 1904 Hilde, 1908 Ursula und 1909 Elisabeth, genannt Lisabeth. Das Leben im Bürgermeisterhaus verläuft harmonisch. Die Familie gehört zur guten Gesellschaft und hat eine eigene Sitzbank in der Rastenburger evangelischen St. Georgskirche. Vater Pieper ist naturverbunden, Jäger und Freimaurer und sehr beliebt. Er erreicht viel für die Stadt. In seiner Amtszeit werden unter anderem der Schienenverkehr erweitert, das Straßenpflaster verbessert, das Wasserwerk und die Kanalisation mit Kläranlage gebaut. Und weil um die Jahrhundertwende Rastenburg wieder Garnisonstadt geworden ist, muss für die Offiziere und Beamten Wohnraum geschaffen werden. Es entstehen ganz neue Stadtteile, so auch die »Rastenhöhe« am Stadtrand, wo die Piepers später wohnen. Wilhelm Pieper ist weit über seine Stadt hinaus angesehen und sitzt im Vorstand des Ostpreußischen Städtetages und des Reichsverbandes deutscher Städte.

Leonharda, meist Lona genannt, wächst also mit ihren Geschwistern in einem behüteten Umfeld in Rastenburg auf, einer Kleinstadt mit rund zehntausend Einwohnern. Sie besucht die dortige höhere Töchterschule. Diese Schulform geht bis zur zehnten Klasse, der Abschluss entspricht somit der Mittleren Reife. Schon früh wird ihr Leben bestimmt durch die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Denn einige Zeit, nachdem sie die Schule beendet hat, bricht der Erste Weltkrieg aus. Mit ihren drei kleinen Schwestern wird sie nach Samland geschickt, einer Halbinsel zwischen der Kurischen Nehrung und dem Frischen Haff, also weg aus Rastenburg und weg von der vorrückenden russischen Front. Dort haben Bekannte eine Gärtnerei, und bei ihnen sind die vier Mädchen gut aufgehoben und versorgt, vor allem auch mit Gemüse und Obst. Nach einem Jahr kehren sie zu den Eltern zurück. Lona ist jetzt mit ihrer älteren Schwester Gerda im Lazarett von Rastenburg tätig, das im Schulgebäude der Stadt eingerichtet worden ist. Sie pflegen verwundete deutsche Soldaten.

1916 kann sie als Siebzehnjährige endlich ihre Berufsausbildung beginnen. Die berufliche Bildung junger Mädchen ist seit dem Ende des vergangenen 19. Jahrhunderts durchaus ein politisches Anliegen. Dafür stehen vor allem die Namen Gertrud Bäumer und Helene Lange. Auch seine Töchter sollen eine Berufsausbildung bekommen, dafür sorgt Vater Pieper, der auf der Höhe der Zeit ist. Mit ihrem Schulabschluss könnte Lona Lehrerin werden. Es gibt hierbei eine Reihe von Fächern, die kein Universitätsstudium voraussetzen, das ohnehin Frauen noch nicht allgemein zugänglich ist. Neben Ausbildungen für Turn-, Handarbeits-, und andere Lehrerinnen sind es damals auch solche für Sprachlehrerinnen, die dann vor allem in Privathäusern beschäftigt werden. Zu Lonas schulischem Lehrplan haben die Fremdsprachen Englisch und Französisch gehört. Diese haben ihr Spaß gemacht, und sie war darin gut. Auch in den recht zahlreichen Schulen für Sprachlehrerinnen werden üblicherweise diese beiden Sprachen angeboten. Das will sie machen. Lona wird durch ihre Ausbildung auch das Gefühl für die deutsche Sprache weiterentwickeln. In diesem Moment kann sie es noch nicht ahnen, aber sie ist damit auf das, was ihr im Leben begegnen wird, aufs Beste vorbereitet.

Sie sucht sich die Schule der Kurtius in Eisenach aus, der – wie häufig – ein Mädchenpensionat angeschlossen ist. Wilhelm Pieper ist einverstanden, dass Lona für eine Weile fern vom Kriegsgeschehen im ruhigen Städtchen Eisenach ihre Ausbildung macht. Ihn hat sicherlich die internatsmäßige Unterbringung beruhigt, und seine Tochter mag sich damit auch den Wunsch erfüllt haben, einmal weit weg von Rastenburg zu sein.

Am Strand tanzt ein Boot.

Das lockt mich hinaus in die tosende See.

Hans

Hans Bötticher, Marinesoldat und Dichter, hat schon einiges erlebt, als er der fünfzehn Jahre jüngeren Lona zum ersten Mal begegnet. Sein Elternhaus ist ebenso gutbürgerlich wie das von Lona. Der Vater, Georg Bötticher, ist ein anerkannter Zeichner von Tapetenmustern. Er lässt sich 1875 in Wurzen, einer kleinen Stadt in der Nähe von Leipzig, nieder und heiratet 1876 Rosa Marie Engelhart. Er beginnt zu schreiben, vor allem humoristische Verse, die er mitunter selbst illustriert und die sogar zum Teil in Reclams Universal-Bibliothek veröffentlicht werden. Seine drei Kinder werden geboren: 1879 Wolfgang, 1882 Ottilie und schließlich am 7. August 1883 Hans, der das Talent zum Zeichnen und Dichten von ihm geerbt hat. Seine Geburtsstadt erlebt er aber so gut wie gar nicht, denn schon vier Jahre später zieht die Familie um nach Leipzig, wo sie am Stadtrand an der Alten Elster wohnt. Hans ist fantasiebegabt, aber kein guter Schüler. Doch angeregt durch die schriftstellerische Tätigkeit seines Vaters beginnt er früh kreativ zu sein: Als Geschenk für diesen verfasst er schon mit neun Jahren das Heft Die Landpartie der Tiere, kleine Verse, die er auch selbst illustriert.

Später wird Hans vom Gymnasium verwiesen, weil er – so berichtet er selbst – in der Pause zu einer der damals üblichen Völkerschauen in den Leipziger Zoo verschwindet, sich von einer Samoanerin am Unterarm tätowieren lässt und sich damit dann vor der Klasse brüstet. Als Gegenleistung hat er der Frau aus dem Weihnachtsbaumschmuck seiner Familie glitzernde Tannenzapfen, Kugeln und einen kleinen Knecht Ruprecht geschenkt. Die Samoanerin schmückte mit diesen Preziosen mitten im Sommer ihre schwarzen Haare. Diese Selbständigkeit sollte sich als typisch für Hans Bötticher erweisen: verrückte Ideen, die Aufmerksamkeit erregen, deren Konsequenzen er aber auch zu tragen hat.

Damit er einen ordentlichen Schulabschluss bekommt, stecken ihn seine Eltern in eine private Realschule, die er 1901 mit der Mittleren Reife, dem sogenannten Einjährigen, verlässt. Jetzt aber ist er nicht mehr zu halten. Er will etwas erleben. Er wird Seemann, das heißt, er ist auf diversen Schiffen Hilfsarbeiter beim Ein- und Ausladen und wird auch zu allen sonstigen Arbeiten herangezogen, die anfallen. Jedenfalls kommt er in dieser Zeit in der Welt herum und kann später die beeindruckenden Ziele beim Namen nennen: Westindien, British Honduras, Venedig, Konstantinopel, Odessa, Algier, England, New York, Lissabon, Rio, Buenos Aires, Madeira und Narvik. Dass er oft den Hafen gar nicht verlassen hat, also die genannten Orte keineswegs wirklich »erlebt« hat, muss ja nicht jeder wissen.

Mit zwanzig Jahren beginnt er eine Kaufmannslehre in Hamburg, muss dann aber zunächst noch ein Jahr zum Militär. Wunschgemäß kommt er zur Marine, die er 1905, zum Bootsmannsmaat befördert, verlässt. Danach setzt er seine Lehre fort und schließt sie auch ab. 1907 wird er von seiner Firma nach Leipzig versetzt. Doch dann kündigt Hans, der noch immer das Abenteuer sucht, seine Stelle, geht zu Fuß nach Rotterdam und nimmt die Fähre nach Hull in England, das ihm aus seiner Seemannszeit noch ein Begriff war. Doch entgegen seiner Annahme kann sich hier niemand mehr an ihn erinnern und er findet keine Stelle auf einem Schiff. So arbeitet er als Zeitungsverkäufer, ist zeitweise obdachlos und kehrt schließlich auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland zurück.

Es zieht ihn nach München, wie viele, die künstlerisch etwas werden wollen, denn das ist es, was Hans Bötticher jetzt will. Er möchte das Schreiben zu seinem Beruf machen. Er wohnt bei Selma Kleinmichel, genannt Seelchen (später etwas abgeschwächt Seele), die er aus Kindertagen kennt. Ihr verstorbener Mann Julius hat einige Bücher von Georg Bötticher, also seinem Vater, illustriert. Seelchen vermietet Zimmer ihrer großen Münchner Wohnung. Weil Hans bei der Betreuung ihrer alten Mutter mithilft, kommt er bei ihr sogar gegen freie Kost und Logis unter.

Abends verkehrt Hans jetzt in der Kneipe »Simpl«, die eigentlich »Simplicissimus« heißt, wie die bekannte satirische Zeitschrift, die in München erscheint. Er bekommt hier die erhofften Kontakte zu Künstlerkreisen. Gedichte von ihm erscheinen in der Zeitschrift Grobian, die zwar alles veröffentlicht, ihm aber nur einmal fünf Mark bezahlt. Einige Monate betreibt Hans in München sogar (wenn auch erfolglos) einen Tabakladen. 1910 erscheinen zwei Büchlein mit Gedichten für Kinder: Kleine Wesen (14 Seiten) und (zusammen mit Ferdinand Kahn) Was Topf und Pfann’ erzählen kann (32 Seiten). Außerdem veröffentlicht er in diesem Jahr das Büchlein Gedichte.

In dieser Zeit, also ganz zu Beginn seiner literarischen Karriere, hat ihn Dora Kurtius aus Eisenach im »Simpl« kennengelernt. In diesem beliebten Lokal in der Türkenstraße ist die resolute und geschäftstüchtige Kathi Kobus die Wirtin. Ihre Kneipe ist bei den Münchner Faschingsumzügen stets mit einem eigenen Wagen vertreten, was ihre Bedeutung illustriert. Der vordere Raum des »Simpl« ist die Schankstube, von der ein Verbindungsgang, »Darm« genannt, in den hinteren Raum führt. Hier gibt es Tische mit weißen Decken unter einem schrägen Atelierfenster. An die fünfzig Personen passen hinein, aber Kathi macht es möglich, auch das Dreifache an Leuten unterzubringen. Den Tischen gegenüber befindet sich ein Podium, ungefähr drei Quadratmeter groß, auf dem auch noch ein Klavier Platz hat. Kathi hat die Zeichen der Zeit erkannt: Die Leute wollen mit Darbietungen unterhalten werden, und so treten hier Personen auf, die eigene oder fremde Texte vortragen. Erich Mühsam und Ludwig Scharf sind die bekanntesten von ihnen. Aber auch Hans Bötticher betritt bald die Bühne und avanciert schnell zu einem der Hausdichter, gehört also zu denen, die hier sehr oft auftreten und auch etwas dafür bekommen. Er muss zweimal am Abend vier bis fünf seiner Gedichte vortragen und erhält dafür zwei Schoppen Magdalener und eine Mark in bar, die er vor Ort in Alkohol umsetzt. Und er verfasst auf Wunsch der Wirtin zum siebenjährigen Bestehen der Kneipe am 1. Mai 1909 als Privatdruck das 48-seitige Heftchen Simplicissimus Künstlerkneipe und Kathi Kobus.

Dora Kurtius mag diesen Bötticher und erkennt schnell seine miserable finanzielle Situation. So schickt sie ihm auch schon mal Geld. Und sie hat in der Zeitung eine Stellenanzeige des Grafen Yorck von Wartenburg gesehen, der einen Privatbibliothekar sucht, also jemanden, der Ordnung in seinen Buchbestand bringt. Ihm hat sie Böttichers Adresse mitgeteilt. Und der Graf stellt ihn 1912 für einige Monate auf dem Schloss Klein-Oels in Niederschlesien ein, etwa vierzig Kilometer von Breslau entfernt. Mit einer festen Einnahmequelle, mit genug Zeit und im Umgang mit den Büchern kann Hans Bötticher, der darunter leidet, nicht studiert zu haben, vieles an Bildung nachholen.

Neben der Tätigkeit in der Bibliothek schreibt Bötticher weiter Gedichte. 1912 veröffentlicht er im Piper-Verlag München seinen kleinen Gedichtband Die Schnupftabaksdose. Vom 1. Januar bis Ende März 1913 arbeitet er wieder in einer Bibliothek, diesmal in der des Kammerherrn von Münchhausen auf Burg Lauenstein bei Probstzella in Oberfranken. Anschließend fährt er zum ersten Mal nach Eisenach, um Dora Kurtius zu besuchen. Sein Novellenband Ein jeder lebt’s ist gerade bei Albert Langen in München erschienen. Er widmet ihn Seelchen. Mit Ausnahme von zwei der zehn Geschichten waren alle zuvor in Zeitschriften oder Zeitungen abgedruckt. Hans hat für das Buch ein Honorar bekommen und kann die Mädchen der Sprachschule sogar mehrmals in die Konditorei einladen.

Er ist jetzt fast dreißig und sucht eine Ehefrau. So verliebt er sich in Eisenach in eines der Mädchen, in Alma Baumgarten. Da er sich Namen schwer merken kann, wählt er für Personen oft bildhafte Bezeichnungen. Alma ist »Maulwurf«, denn sie ist kurzsichtig und trägt ein dunkles Samtkleid, ein Stoff, den Hans besonders liebt. Zu Ostern 1913, also schon nach wenigen Wochen, verlobt er sich mit ihr, der Tochter eines Lokomotivführers. Allerdings sind ihre Eltern im fernen Ludwigshafen am Rhein damit überhaupt nicht einverstanden, und die Verlobung wird auf deren Druck hin ziemlich umgehend wieder gelöst. Den Sommer 1913 über arbeitet der Bibliothekar als Fremdenführer auf Burg Lauenstein, anschließend hält er sich wieder in München auf. Dann kommt der Krieg, in den er, wie so viele, beigeistert zieht. Große Abenteuer, wie er sie sich erhofft hat, erlebt er jedoch als Soldat nicht. Seit dem 1. August 1914 ist Bötticher bei der Kriegsmarine, was sein Wunsch war, versieht aber seinen Dienst meist auf Sperrschiffen vor der Nord- und Ostseeküste und beneidet seine Kameraden draußen auf hoher See.

Ich bin so glücklich für mein M. geboren.

Annäherungen

Muschelkalk

Während des Krieges nutzt Hans öfter seinen Urlaub, um nach Eisenach zu fahren, wo er Lona zum ersten Mal begegnet. Auch für sie hat er schnell einen Namen: Er nennt sie »Muschelkalk«. Wie er zu dem Namen gekommen ist, ist nicht bekannt. Mit diesem Begriff wird eine Gesteinsformation aus der Trias-Zeit mit darin enthaltenen versteinerten Muscheln bezeichnet. Muschelkalk kommt in der Umgebung von Eisenach vor und ist dort gut zu erkennen. Vielleicht ist er ihm dort aufgefallen, und er schien ihm bei der Suche nach einem Namen für Lona gerade passend. Muschelkalk war zu seiner Zeit im Nordsee-Küstengebiet aber auch eine gängige Bezeichnung für gebrannten Kalk aus Muschelschill, d. h. aus den in der Brandung aufgehäuften Schalen von Muscheln. Dieser Muschelkalk wurde dort als hochwertiger Mörtel verwendet. Hans kann den Begriff Muschelkalk auch in dieser Bedeutung gehört haben, als er als Marinesoldat vor der Nordseeküste seinen Militärdienst geleistet hat.

Normalerweise gibt er den Personen seiner Umwelt Namen, die ihr Aussehen beschreiben, also Maulwurf, Eichhörnchen, Unke oder Schneehase. Der Name Muschelkalk betrifft dagegen das Wesen von Lona Pieper. Er wählt ihn zu einem Zeitpunkt, als er sie gerade erst kennenlernt. Sie zeigt sich ihm gegenüber anfangs abweisend, fast schon kratzbürstig und unzugänglich. Der relativ harte Muschelkalk – in der einen oder anderen Bedeutung – erscheint ihm wohl als das richtige Material, um das auszudrücken. Lona empfindet die Bezeichnung Muschelkalk durchaus als Kosenamen, und so ist er ja auch von Hans gemeint. Sie nennt sich selbst bis ans Ende ihres Lebens so.

Er schreibt ihr am 2. Juni 1916: »… Wenn Du so viel im Herzen wie im Kopf hast möchte ich einmal mit Dir den ganzen Wartburg-Abhang herunterkollern … sei geküsst von Deinem frechen Hans.« Vermutlich hat er mit seinem Auftauchen in Eisenach und erst recht mit diesem Brief Lonas Sehnsüchte geweckt. Das mag in diesen Wochen ein Trost für sie gewesen sein, denn die Mutter, die zweite Frau von Pieper, stirbt in dieser Zeit. Die Geschwister, insbesondere die kleine Schwester Lisabeth, an der sie sehr hängt, sind jetzt mit dem Vater allein. Sie weiß, sie würde zu Hause dringend gebraucht, aber sie setzt ihre gerade erst begonnene Ausbildung in Eisenach fort, um sie zu einem regulären Abschluss zu bringen.

Lona kann nicht wissen, dass Hans Bötticher es liebt, Briefe an Mädchen zu schreiben, von denen die Adressatinnen meinen müssen, sie stünden im Zentrum seines Denkens und Sehnens. Dabei ist er noch immer in eifrigem Kontakt mit Maulwurf, seiner ehemaligen Verlobten, und will sich auch weiter mit ihr treffen. Noch auf einem Sperrschiff der Kriegsmarine tätig, bittet er sie, Geld, Butter, Seife zu schicken. Das Geld braucht er für den Offizierslehrgang, für den er sich gemeldet hat. Denn er hat die Erfahrung gemacht, dass der einfache Soldat beim Militär nichts zählt. Außerdem hat er Probleme mit seinem Aussehen: Er ist nicht gerade groß, dünn und hat ein vorspringendes Kinn und eine große gebogene Nase. Da könnte eine schicke Uniform einiges kompensieren. Und der verständnisvolle Maulwurf schickt das Gewünschte, und Zigaretten noch dazu.

Aber auch die Mädchen von Dora Kurtius vergessen ihn nicht. Er hat bei ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Nicht nur, dass er sie in die Konditorei eingeladen hat. Einmal sind sie spätabends durchs Fenster ins Freie geklettert und unter seiner Führung die Burgstraße hoch zur Wartburg gezogen. Dort sind sie alle in das Stübchen des Kastellans eingekehrt, den Hans gut kannte, und haben in fröhlicher Runde einen Grog genossen. Für diese unvergesslichen Erlebnisse revanchieren sie sich und stellen ein Päckchen zusammen, das sie dem Soldaten schicken. Sein Dankesbrief an die »Appendixe von D. Kurtius« beginnt mit der Anrede »Ihr Teufelskerle Tilly, Emmy, Lotte, Hanna, Marburg und Lona«. Wenn er nach Eisenach kommen könne, vermutlich noch vor Mai, schreibt er, sollten sie alle recht zärtlich zu ihm sein. »Auch Lona, bitte.«

Der Marinesoldat Hans Bötticher bekommt fünf Tage Urlaub, trifft Lona und eine Mitschülerin, und sie gehen Kaffee trinken. Lona ist bei diesem Treffen ihm gegenüber immer noch recht reserviert. Hinterher tut es ihr leid, und sie schreibt es ihm auch: »… dass ich nicht lieber zu Dir war. Doch ich kann so schwer zeigen, was ich fühle. Glaub mir, ich hab Dich auch lieb, sehr lieb und möchte Dir so gern etwas Liebes tun …« Und sie telefonieren wohl auch einmal miteinander. Er träumt nun – wie er ihr schreibt – davon, dass sie seine liebe Frau wäre. Aber er sieht ein Problem: Viel Geld habe er nicht. Ob sie ihn denn trotzdem möge? Sie mag. Und unterzeichnet ihre Antwort mit »in Liebe Muschelkalk«.

Bampf

Doch dann nimmt sein Interesse an Lona ziemlich abrupt und erheblich ab: In den ersten Augusttagen 1917 lernt er die Schauspielerin Annemarie Ruland kennen, die in Cuxhaven Theater spielt. Sie erhält von ihm den Namen »Bampf«, denn sie isst gern, und »bampfen« bedeutet im Süddeutschen, sich den Mund mit Essen vollzustopfen. Durch sie beeinflusst, beschäftigt er sich zunehmend mit Theaterstücken und entdeckt damit eine weitere literarische Sparte, in der er vielleicht reüssieren könnte. Diese Überlegungen sind durchaus nötig, denn seinen Platz in der Literatur hat er zu dieser Zeit noch keineswegs gefunden. Das Drama galt im gerade erst vergangenen 19. Jahrhundert als die am höchsten stehende literarische Form. Und das Theater hat auch Anfang des 20. Jahrhunderts, in diesen Jahren des literarischen Expressionismus, eine große Bedeutung, Stücke werden stets gesucht. Also schreibt Hans Bötticher sein erstes Drama mit dem Titel Der Flieger, und versucht, es über die Ruland anzubringen. Er spricht auch ihr gegenüber vom Heiraten, wobei sie wohl nicht weiß, ob er es ernst meint. Doch Bampf bemüht sich, das Flieger-Stück an den Mann zu bringen, was ihr jedoch nicht gelingt. Aber Hans hat einen anderen Erfolg: Im Oktober 1917 wird er zum Offizier befördert und Kommandant eines Minensuchbootes.

Als Hans zu Weihnachten von Lona und ihren Geschwistern ein Paket bekommt, bedankt er sich brav dafür – wie es sich gehört. Sein Interesse aber gilt zu dieser Zeit ganz Bampf. Im Frühjahr 1918 wird er zur Luftabwehrabteilung nach Seeheim versetzt, ein Fischerdorf einige Kilometer westlich von Cuxhaven, wo sich auf dem Areal eines ehemaligen Kinderheims nun zwei Maschinengewehrbatterien befinden. Hans, dem über zwanzig Mann unterstehen, richtet sich – da wenig zu tun und er ohnehin kriegsmüde ist – häuslich ein, bestückt Terrarien mit Schlangen und Kröten und legt einen Garten an. Auch eine Foxterrier-Hündin schafft er sich an, die er nach dem so genannten Werner-Wald in der Nähe »Frau Werner« nennt und die ihn fortan begleitet.

Im November 1918, als der Krieg zu Ende ist – einige seiner Freunde sind gefallen –, beginnt für ihn eine harte Zeit. Als Soldat hat er immerhin seinen Sold bekommen, jetzt aber hat er überhaupt kein Einkommen, auch keinen Offizierstitel und keine Uniform mehr. Er bemüht sich, an alte Bekanntschaften anzuknüpfen. Sein Münchner Kontakt, die Seele, führt inzwischen in Berlin ihrem verwitweten Bruder Alfred Dunsky den Haushalt. Der ist ein angesehener Innenarchitekt und betreibt eine Möbelfirma. Seele lädt Hans ein, nach Berlin zu kommen. Vielleicht kann er dort leichter eine Stelle finden. Sie hat ihm sogar schon bei Oertner, einem Angestellten von Dunsky, eine Unterkunft besorgt. Und der mittellose Hans fährt nach Berlin.

Gegen Ende des Jahres 1918 kommen Lona und Hans wieder in Kontakt. Denn Lona und ihre drei jüngeren Schwestern schreiben ihm einen Brief. Und er antwortet den Mädchen auf seine launige Art am 6. Dezember 1918 mit einem Gedicht, in dem er die Namen von Lona und ihren jüngeren Schwestern aneinanderreiht:

Fräulein Lonahildeursulaelisabeth Pieper

Das ist meine liebe Lona, die schreibt.

Sie ist und bleibt eine Perle.

Und Ihr drei Kleinen, Ihr seid und bleibt

Doch richtige Teufelskerle.

Du muschelverkalkte Perle, Du

Zupf an den Ohren die Kleinchen.

Und hilf mir zu meiner ländlichen Ruh

Und zu einem Häus'chen mit Schweinchen.

Er mildert das Bild von Lona als harter unzugänglicher Muschelkalk also ab, indem er sie jetzt als Perle in diesem Material betrachtet und damit ausdrückt, dass sie in ihrem Innern ein Schatz ist. So ist die muschelverkalkte Perle ein durchaus dichterisch zutreffendes Bild, auch wenn eine Perle im Muschelkalk aufgrund der stofflichen Gegebenheiten gar nicht erhalten geblieben wäre. Solche naturwissenschaftlichen Dinge weiß Hans bestimmt nicht, aber die Kombination »muschelverkalkte Perle« benutzt er nur dieses eine Mal und dann nicht mehr. Er bleibt bei dem Namen Muschelkalk, der für eine weibliche Person so ungewöhnlich ist. In späteren Briefen wird dieses Wort um Adjektive ergänzt: mal liebster Muschelkalk, mal urgeliebter, mal goldiger Muschelkalk. Und variiert: liebs Muschelkälkche, mein Muschelkälkchen, mein guter Kalk, lieber Kalk, mein geliebtes Kalk, Mi Muschel, Kalkchen und Kuschelmalk. Was alles Lona gefallen haben muss, denn sie hat sich nie dagegen gewehrt.

Nach der an die vier Schwestern gerichteten Karte schreibt er an Lona wenige Tage später noch einmal gesondert. »Mein lieber guter Muschelkalk«. Er berichtet, er wohne bei einer alten Tante und träume von einem Haus mit Garten. Wenn sie einmal von einem solchen Objekt (12 bis 14 Morgen Land, Preis bis 50.000 Mark) hören sollte, solle sie ihn gleich benachrichtigen. »Ich verbleibe mit tausend herzlichen Grüßen Dein getreuer Hans Bötticher.« Von einem Wiedersehen, was Lona beim Empfang des Briefes gehofft haben mag, schreibt er nichts.

Dann geht Anfang 1919 die Beziehung mit Bampf auseinander. Sie hat inzwischen Interesse an einem anderen Mann. Bötticher ist abgeblitzt. Das Jahr 1919, in dem er als Arbeitsloser manches Mal Hunger leidet, geht dahin. In Berlin gibt es Aufruhr und Tote. Eine Reichsverfassung wird ausgearbeitet. Friedrich Ebert wird Reichspräsident. Aus der Ferne bekommt Hans mit, dass es auch in München zu Unruhen kommt. Der Bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner wird erschossen, die Stadt erlebt zwei kurzzeitige Räterepubliken, Revolutionäre werden getötet, als Vergeltung auch Leute von der Gegenseite. Dann aber kehrt in München wie in Berlin zunächst einmal wieder Ruhe ein.

Briefe

Lona hat inzwischen ihr Examen gemacht und in Rastenburg eine Stelle als Sprachlehrerin angenommen. Sie wohnt wieder in ihrem Elternhaus. Ihr Vater ist nach dem Tod seiner Frau Elise vor einigen Jahren im Oktober 1919 eine dritte Ehe mit Maria Domin eingegangen.

Anfang November 1919 verabreden sich Lona und Hans zu einem Treffen in Berlin in einer Weinstube, werden aber bei ihrem Tête-à-Tête von Lonas Bruder gestört, was sie im anschließenden Briefwechsel beide sehr bedauern. Sie schreiben sich weiterhin. Hans will wissen, ob und wie viel Liebe sie noch für ihn empfindet. Lona wird jetzt grundsätzlich, da sie ahnt, dass es ernst werden könnte. Damit beginnt um die Jahreswende 1919/​20 eine briefliche Diskussion über das Verhältnis von Mann und Frau. Bevor sie ihre Gefühle für ihn offenbart, will die vorsichtige Lona wissen, welche Meinung er von Frauen hat und ob sie ihn fürchten müsse.

Und Hans verspricht, ganz ehrlich zu ihr zu sein und schreibt: »Ich finde in der Frau vorwiegend Tier, daneben etwas – männlichen Geist – und ein Fünkchen Göttlichkeit oder gottverliehene Wunderkraft.« Möglicherweise ist er durch den zu dieser Zeit recht populären Philosophen Otto Weininger zu dieser Einstellung gekommen. »Und dem Tier muß, will ich untertan sein und ich liebe es schmutzig und grausam und überlegen. Ich liebe ihm so zu dienen, daß es mir zum Menschen und ich ihm zum Tier, zum weiblichen Tier werde.«

Es ist fraglich, ob Lona die sexuellen Wünsche versteht, die er andeutet. In diesem Punkt liegen Welten zwischen den beiden, wie aus Lonas Antwort deutlich wird: »Ungläubig staunend hörte ich Deine Worte, verlor ein wenig das Gleichgewicht … Daß alle Menschen männl. u. weibl. Geschlechtes mit Variationen sinnlich sind, ist Tatsache. Ist eine Frau es im landläufigen Sinne nicht, heißt es, sie ist pervers od. hysterisch … Was ich bisher an mir beobachtet habe, will ich Dir sagen. Am meisten verwundert hat's mich, als ich einem eigenartig schönen Mannesantlitz begegnete, der geistvolle Kopf zeigte feine edle Linien. Da habe ich öfters gedacht, von diesen schmalen, harten Lippen möchtest Du wohl gern einmal geküßt sein. Das ist ja wohl pervers?«

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