Kitabı oku: «Russische Freunde», sayfa 2

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Ich ging also eine Woche lang frühmorgens aus dem Haus und kam jeweils spät heim. Trotzdem hätte ich es bemerkt, wenn Juri zurückgekommen wäre. Normalerweise höre ich seine Schritte, ich höre es, wenn er den Wasserhahn betätigt oder wenn sein Radio läuft.

Am Freitagmorgen meinte ich, über mir Schritte zu vernehmen. Es war halb sechs Uhr in der Früh, trotzdem stand ich auf. Ich horchte nach oben, hörte nun aber nichts mehr. Juris Verschwinden und die verwüstete, offenstehende Wohnung machten mich nervös. Sobald es acht Uhr war, würde ich einen Schlosser anrufen.

Zwei Stunden später sass ich immer noch in der Küche. Ich trank den Kaffee aus, ich wollte mich in Juris Wohnung umsehen.

Der Boden war übersät mit Papieren, selbst im Gang konnte ich kaum einen Schritt machen, ohne auf etwas zu treten. Ich nahm ein Blatt in die Hand, Teil einer Seminararbeit für die Uni. In den Zimmern sah es ähnlich aus. Alle Bücher auf dem Boden, die Regale leergefegt, die Schreibtischschubladen offen und ausgekippt, sogar die Klaviernoten waren im Zimmer verteilt. Ich versuchte ein paar Takte zu spielen, aber es fühlte sich schlecht an, und ich liess es bleiben. Ganz offensichtlich war Juri seit dem Einbruch nicht zurückgekehrt. Ich hielt Ausschau nach einem Adressbuch oder einer Namensliste, fand aber nichts. In der Küche entdeckte ich zu meiner Überraschung Juris Mobiltelefon. Halb verdeckt vom Brotkasten war es wohl unabsichtlich liegengeblieben. Ich nahm es an mich und verliess die Wohnung.

Das Telefon war seit mehreren Tagen nicht benützt worden und der Akku fast leer. Nummern hatte sich Juri keine gespeichert, aber ich notierte mir die letzten Anrufe. Vielleicht wusste ja einer, den er angerufen hatte, wo ich ihn erreichen konnte.

Ich kam dann aber nicht dazu, Esther meldete sich noch einmal mit der Frage, ob ich für sie die Wohnungsabgabe übernehmen würde. Sie konnte sich bei ihrer Arbeit nicht freimachen. Ich sagte zu und verliess die Wohnung.

Am frühen Abend war ich zurück. Es vergingen mindestens zehn Minuten, bis ich den Einbruch bemerkte. Ich hatte mir, ausgehungert wie ich war, in der Küche ein paar Brote gestrichen, die Zeitung gelesen und meine Post angeschaut. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir eine leicht herausgezogene Schublade auf. Eine Schublade, in der ich überflüssige Computerkabel und unpassende Glühbirnen aufbewahre und die ich nie öffne. Ich sah mich um. Die Tür des Wandschrankes im Gang, sie stand seltsam offen. So hatte ich die Wohnung nicht verlassen. Ich ging von Raum zu Raum, zog Schubladen auf, begutachtete die Schränke, sah sogar unter das Bett. Natürlich war niemand da. Aber jemand war in meiner Wohnung gewesen.

Ich versuchte herauszufinden, ob etwas fehlte. Mein Computer, der wohl wertvollste Gegenstand in der Wohnung, stand auf seinem Platz, und auch der CD-Player war noch da. Dann bemerkte ich es: Der Koffer, Juris Koffer, war weg.

Ohne viel zu überlegen, ging ich zum Telefon und rief die Polizei an. Ich hatte bereits aufgelegt, als ich mich fragte, was ich mir von ihnen erwartete. Mir war nichts gestohlen worden, und ich hatte eigentlich keine Lust, Polizei in der Wohnung zu haben. Kurz darauf trafen sie aber bereits ein, zwei uniformierte, gelangweilte Männer, die sich die Wohnungstür ansahen und ein paar Fotos machten. Ausser ein paar Kratzspuren, die vielleicht nicht einmal neu waren, konnte ich an der Tür nichts feststellen. Falls es der gleiche Einbrecher war wie bei Juri, so hatte er Fortschritte gemacht.

Es war den Beamten anzusehen, dass sie einen Versicherungsbetrug vermuteten, als ich erklärte, ein Koffer sei gestohlen worden. Sie verabschiedeten sich, und ich hörte, wie sie im unteren Stock an Türen läuteten und Gespräche mit meinen Nachbarn führten. Ich blieb mit einem unguten Gefühl in meiner Küche sitzen und machte mich daran, festzuhalten, welche Gegenstände sich in dem Koffer befunden hatten. Die Beamten hatten mich darum gebeten. Es tat mir leid, dass ich mir den Kofferinhalt nicht genauer angesehen hatte.

«Kl. Plastikpuppe, Ledersandalen, Seidenschal», stand auf dem Blatt vor mir, als mir ein Gedanke kam. Ich hatte Juris USB-Stick nicht in den Koffer zurückgelegt. Ich fand ihn in der Tasche einer Jeans, die ich nicht wieder getragen hatte.

Kurz nach acht Uhr läutete es an der Tür. Ricklin, der Zivilpolizist, der mich nach meiner Fassadenkletterei auf dem Polizeiposten befragt hatte, stand da. Ich war überrumpelt. Er entschuldigte sich und fragte, ob er sich umsehen dürfe. Ich konnte seinen Besuch nicht recht einordnen, traute er seinen Kollegen nicht, kam er von einem anderen Dezernat, hatte ich mich verdächtig gemacht? Sie hatten ihn nicht angekündigt.

Ricklin ging zuerst hoch in Juris Wohnung, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, aber gut möglich, dass sich der Einbrecher auch dort herumgetrieben hatte. Nach einigen Minuten kam Ricklin zurück, sagte aber nichts. Er schaute sich kurz und ohne allzu grosses Interesse meine Wohnungstür an und liess dann den Blick über meine Einrichtung gleiten. Ich fragte mich, was er von meiner Wohnung halten mochte, von meiner zufälligen Zusammenstellung an alten Möbelstücken, von der Ölheizung, den verblichenen Tapeten und zerkratzten Türen. Sicher kümmerte sich bei ihm zu Hause eine Gattin um stilvolle Einrichtung.

«Darf ich?», fragte er höflich und wechselte von der Stube in das Zimmer, das ich als Büro verwende. Er fragte mich, ob etwas fehle. Ich verneinte, sagte aber, dass ich trotzdem das Gefühl hatte, Schränke und Schubladen seien gründlich durchsucht worden. Ricklin setzte sich an meinen Schreibtisch, und ich entfernte eilig eine Bewerbung, die unvollendet zuoberst auf dem Schreibtisch lag. Ich schmiss sie ins Altpapier. Es wäre sowieso nichts daraus geworden.

«Haben sie sich am Computer zu schaffen gemacht?», fragte Ricklin, und ich wunderte mich über die Mehrzahl, ich war von nur einem Einbrecher ausgegangen.

«Das weiss ich nicht. Er steht jedenfalls noch gleich da.»

«Ich möchte überprüfen, ob sie an Ihrem Computer waren. Dafür muss ich ihn aber starten», das war als Frage gemeint, er sah mich aufmerksam an.

«Ja, bitte», antwortete ich etwas perplex, das Ganze wurde mir doch langsam ziemlich privat. Ich überlegte, ob ich etwas in meinem Computer hatte, was er nicht sehen sollte, und räumte ein paar herumstehende Dinge vom Schreibtisch, um Platz zu machen.

«Was ich vom Kofferinhalt noch habe, ist ein USB-Stecker», teilte ich Ricklin mit. Er schwieg einen Moment, beschäftigt mit meinem Computer. Dann drehte er sich zu mir hin.

«Ihr Laptop wurde heute Nachmittag um 15:00 Uhr geöffnet. Waren Sie das?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Haben Sie irgendwelche Dateien in Ihrem Computer, die jemanden interessieren könnten?»

Wir starrten jetzt gemeinsam auf meinen Desktop und auf die dort angezeigten Ordner, bei den meisten handelte es sich um Bewerbungen.

«Meine Steuererklärung?», fragte ich.

«Ja, dann müssen Sie wohl in Kürze mit einer Erpressung rechnen», zum ersten Mal sah ich ihn lächeln, «und den USB-Stick würde ich gerne mitnehmen.»

Ich bin über das Alter hinaus, in dem alles, was Polizei ist, automatisch mein Feind war. Die Polizei kann Frauen vor häuslicher Gewalt schützen, beispielsweise. Trotzdem war es mir unangenehm, einen Polizisten nett zu finden, und sei es auch nur ansatzweise. Was mir an Ricklin gefiel, war, wie unbeeinflussbar er wirkte. Wie nüchtern. Weder daraus, dass ich in einer abgenutzten Bruchbude wohnte, noch daraus, dass sich in meinem Computer vor allem Bewerbungen befanden, schien er irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Ich hatte das Gefühl, dass solche Dinge für ihn unwesentlich waren. Das gefiel mir.

Ricklin fragte mich noch weiter aus, über Juri, seine russischen Freunde und was er so tat und weshalb sich jemand für seine Sachen interessieren könnte. Da hatte ich selbst keine Ahnung.

Schliesslich erhob sich Ricklin und ging noch einmal aufmerksam und in sich versunken von Zimmer zu Zimmer, zuletzt ins Schlafzimmer. Ich folgte ihm auf Distanz und stand im Gang herum. Ich lehnte neben der Eingangstür im Schlafzimmer, als er sich umdrehte und direkt auf mich zukam. Wir sahen uns in die Augen, und plötzlich war das peinlich. In meinem Schlafzimmer. Ich dachte eigentlich gar nichts, aber ich dachte, dass er dachte, dass ich dachte. Ruhig ging er an mir vorbei aus meinem Schlafzimmer.

Ich war froh, als er weg war. Ich stellte einen Stuhl vor die Balkon- und einen vor die Eingangstür, damit keiner unbemerkt hereinkommen konnte, und legte mich mit einem Glas Bier in die Badewanne. Aber das Dösen tat mir nicht gut. Es war schon unangenehm genug, einen Polizisten nett zu finden. Von seinen lächelnden Augen zu träumen, ging zu weit.

4

Als ich am nächsten Morgen in meine Jeans schlüpfte, stellte ich fest, dass ich Ricklin einen falschen Stick mitgegeben hatte. Unabsichtlich, die Dinger, beide schwarz, sahen sich ähnlich, wie ich mit Juris richtigem Stick in der Hand konstatierte. Ricklin musste sich also mit einer Auswahl aus meinen Bewerbungsschreiben und Lebensläufen begnügen. Ich hingegen schloss Juris USB-Stick an meinen Computer an und kam problemlos in seine Dateien, die durch kein Passwort gesichert waren.

Der Stick erwies sich trotzdem als eine Herausforderung, systemlos waren unzählige Ordner und Dokumente darauf abgespeichert, solche mit russischem, mit deutschem, englischem und manchmal auch ohne Titel. Wahllos öffnete ich ein paar Ordner. Ich stiess auf Buchhaltungsdateien, Auszüge von Abrechnungen, wie mir schien. Ich nahm an, dass die Dateien mit Juris Arbeit zu tun hatten. Juri erledigte ab und zu etwas für eine Firma, die irgendwelche Konsumprodukte nach Russland exportierte. Als nächstes öffnete ich eine englische Powerpoint-Präsentation zu den russisch-schweizerischen Handelsbeziehungen, die mich nicht interessierte. In vielen Ordnern waren, wie ich feststellte, Fotos gespeichert, wohl an die tausend Bilder. Ich stiess auf Ferienfotos, Aufnahmen aus einem tropischen, vermutlich südamerikanischen Land. Dass Juri in Südamerika gewesen sein sollte, erstaunte mich. Die Reisegruppe bestand aus ungefähr sechs Männern mittleren Alters, allesamt begleitet von jungen Frauen. Von denen ich nicht annahm, dass es sich um die Ehefrauen handelte, die Mädchen waren jung, ziemlich jung. Das passte irgendwie nicht zu Juri. In anderen Ordnern fand ich Fotos von Jachthäfen, gutgekleidete Menschen auf einem Schiff, eine Abendgesellschaft auf einer Terrasse, eine mir unbekannte Familie an einem Swimming-pool. Ich war verblüfft. Juri hatte wohl irgendwann in seinem Leben Zugang zu besseren Kreisen gehabt.

Ich liess die Fotos bleiben, schliesslich wollte ich Juri ausfindig machen. Ich erinnerte mich an die Nummern aus seinem Mobiltelefon.

Beim ersten Anruf landete ich bei einer Firma namens Impexpo, eine Frau war am Apparat. Wie sie mir sagte, hatte Juri ab und zu für Impexpo gearbeitet, was allerdings schon eine Weile her war. Vor einigen Tagen hatte er sich gemeldet und nach Arbeit gefragt. Wo ich ihn finden konnte, wusste sie nicht.

Auch die zweite Nummer stellte sich als eine Geschäftsnummer heraus. Freundlich erklärte ich dem Herrn am Telefon, wer ich sei und dass in die Wohnung meines Nachbarn eingebrochen worden war. Ich fragte ihn, ob er Juri Salnikow kenne und vielleicht wisse, wo er zu finden sei.

«Wer sind Sie?», die Stimme mit ausländischem Akzent war misstrauisch. Ich wiederholte meinen Namen. Den seinen hatte ich genauso wenig verstanden, aber ich fragte nicht nach.

«Ich bin eine Nachbarin von Herrn Juri Salnikow. Ich suche ihn dringend, weil in seine Wohnung eingebrochen worden ist.»

«Hä? Sind Sie die Freundin von Salnikow?»

«Mein Name ist Kovacs», sagte ich zum dritten Mal. «Ilka Kovacs. Wie gesagt, ich bin eine Nachbarin von Herrn Salnikow. Er scheint verreist zu sein und weiss vermutlich nichts vom Einbruch. Er ist seit einigen Tagen nicht zurückgekommen. Ich versuche ihn deshalb zu erreichen.»

«Wo ist denn Salnikow jetzt?»

War der Typ blöd, verstand er mich nicht?

«Ich rufe an, weil ich dachte, dass Sie mir vielleicht sagen könnten, wo ich ihn erreichen kann.»

«Wie kommen Sie auf uns?»

«Er hat Ihre Telefonnummer notiert», log ich.

«Wir kennen keinen Salnikow.»

Das Telefon wurde grusslos aufgehängt. Was war denn das gewesen? Eine Firma, die so ähnlich wie Adfi geklungen hatte, vom Namen des Mannes hatte ich nur ein paar Zischlaute in Erinnerung, ein russischer Name vielleicht.

Bei der nächsten Nummer meldete sich eine verschlafene Männerstimme, was ich schon mal sympathisch fand.

«Hallooo?»

Diesmal fasste ich mich kürzer und sagte nur, dass ich Herrn Salnikow suchte, weil seine Wohnungstür aufgebrochen worden sei.

«Er hat sich bei mir nicht gemeldet, ich weiss nicht, wo er steckt», der Mann am Telefon gähnte, klang aber trotzdem interessiert und beteiligt. Es stellte sich heraus, dass er Juri privat kannte. Der Mann hiess Balthasar Zeiler und wohnte am Zielweg, er schlug vor, dass ich bei ihm vorbeischaute. «Am Nachmittag? Nicht vor zwei Uhr?»

«Klar. Entschuldige das frühe Telefon», duzte ich ihn. Es war ungefähr zehn Uhr vormittags.

Ich erreichte noch zwei weitere Personen aus der Liste, zuerst einen Mann, der sich mit Petar Lischkow meldete. Er begrüsste mich wie eine alte Freundin und behauptete, wir seien uns einmal bei Juri begegnet. Das Telefon dauerte keine zwei Minuten, er versprach zurückzurufen, weil er momentan bei der Arbeit kein längeres Gespräch führen könne. Dann erreichte ich noch eine Russin, deren Namen ich nicht verstand und die auch zu wenig Deutsch sprach, als dass wir uns wirklich unterhalten konnten. Immerhin brachte ich heraus, dass sie nicht wusste, wo Juri war. Bei der letzten Nummer meldete sich niemand. Eine Combox-Stimme verriet mir, dass der Anschluss einem gewissen Tobias Bucher gehörte. Ich hinterliess eine Nachricht und versuchte im Laufe der nächsten Tage immer wieder, Tobias Bucher zu erreichen, ohne Erfolg.

Den restlichen Vormittag verbrachte ich damit, eine Bewerbung für eine Stelle zu schreiben, die ich sowieso nicht kriegen würde. Gelangweilt formulierte ich einen lausigen Brief, der besagte, wie geeignet und motiviert ich war. Trotzdem genoss ich den Vormittag. Die Sonne schien in mein Zimmer, ich lief in weiten Hosen und in einem warmen Pullover herum und setzte mich später mit einer Tasse Tee auf den Balkon. Der September war bisher recht warm gewesen, nun war es, als ob sich der Sommer verabschieden wollte. Ich wollte die Tage geniessen, solange ich konnte. Wenn nur die Angst nicht gewesen wäre. Diesen Monat lag es nicht drin, alle Rechnungen zu bezahlen, und meine Nachbarin hatte Geld von mir zugut für eine Waschmaschinenreparatur. Es war aber nicht der finanzielle Ruin, der mir Angst machte. Ich fürchtete das Scheitern, was auch immer das sein mochte. Selbst das war mir nicht klar. Wie konnte ich denn jetzt noch scheitern?

Was ich hatte, war viel Zeit. Ich beschloss, mir das Geld für den Bus zu sparen und zu Fuss in die Stadt zu gehen. Unterwegs setzte ich mich auf eine Parkbank und sah ein paar Männern bei einem Schachspiel zu. Die beiden Spieler verschoben die schweren Figuren, ohne Emotionen zu zeigen, in ihre Gedanken versunken standen sie auf dem grossen, auf den Boden gemalten Spielfeld. Andere hatten sich dazugesellt, gaben fachkundige Kommentare ab und knackten dazu Kürbiskerne. Ich dachte an die Millionen von Menschen in der ganzen Welt, die jetzt gerade keiner Arbeit nachgingen. Männer in Istanbul, Boston oder Lagos, überall auf der Welt standen Männer gemeinsam herum, an einem Strasseneck, auf einem Platz, und sahen dem Leben zu. Junge Frauen in Brasilien und Mexiko lackierten sich vor dem Fernseher ihre Zehennägel und träumten von später. Nicht alle konnten produktiv sein in dieser Welt, es wurde auch so noch genug produziert. Weshalb hatte ich das Gefühl, gescheitert zu sein, nur weil ich Zeit hatte?

Irgendwann nach zwei Uhr kam ich bei Balthasar Zeiler an. Er lebte in einem älteren Block im Erdgeschoss, die Vorhänge waren zugezogen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er oft dazu kam, sie zu öffnen. An der Wohnungstür erwartete mich ein athletischer junger Mann im Morgenmantel. Wir setzten uns in ein modern und hell eingerichtetes Zimmer, professionelle Schwarzweissfotos schmückten die Wände. Ich fragte mich, ob Balthasar das Model oder der Fotograf war, wollte aber nicht aufstehen, um sie mir anzusehen. Komisch, ich hatte nie daran gedacht, dass Juri schwul war. Es war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, so wie ich oft wochenlang nicht bemerke, wenn Frauen schwanger sind. Dabei war es eigentlich ganz offensichtlich, und bestimmt war Balthasar Juris Geliebter.

Balthasar ging davon aus, dass ich das sowieso wusste. Nachdem er mir zugehört hatte, machte er sich ernsthafte Sorgen um Juri. Dann schwieg er und dachte nach. Ich sass auf der schicken Ledercouch und wartete. Mein Telefon läutete, Petar Lischkow rief zurück und überfiel mich mit einem Wortschwall, wie sehr er sich Sorgen mache seit meinem Telefon von heute früh. «Petar Lischkow, kennst du ihn?», flüsterte ich Balthasar zu, und er nickte zur Antwort. Ich verabredete für später am Tag ein Treffen mit Lischkow.

Balthasar sass mir gegenüber in einem Polstersessel und liess die Beine über die Armlehne baumeln. Mit einer theatralischen Kopfbewegung drehte er sich zu mir hin: «Ich mag Juri sehr gern, aber ich fürchte, ich weiss nicht allzu viel von ihm. Wir sind uns vor einigen Monaten begegnet. Ich glaube nicht, dass er in der Schweiz viele Freunde hat, er lebt ja auch noch nicht so lange hier. Studienkollegen vielleicht, aber er hat eher abschätzig über sie gesprochen. Ein paar Exilrussen vielleicht, so wie Petar, ihn habe ich einmal getroffen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo er sein könnte.»

Die beiden Telefonnummern, die er von Juri hatte, kannte ich bereits, die Nummer des Festnetzes in seiner Wohnung und die Nummer des Mobiltelefons, das inzwischen mit leerem Akku bei mir zu Hause lag. Immerhin hatte Balthasar eine Mailadresse von Juri. Er versprach mir, Juri eine Mail zu schreiben und mich, falls er eine Antwort erhielt, sofort zu informieren.

Petar Lischkow, meine letzte Hoffnung, etwas über den Verbleib von Juri zu erfahren, sass bereits wartend im Tramhäuschen, bei dem wir abgemacht hatten. Ich war noch nicht ganz aus dem Bus ausgestiegen, als er, flink trotz seiner Beleibtheit, aufsprang und auf mich zu rannte.

«Ich bin Petarrr, ich bin Petarrr», rief er, umklammerte mit seinen Händen meinen Arm bis zum Ellenbogen und rammte ihn mir gegen den Magen. «Ich bin Petarrr», wiederholte er. Das hatte ich verstanden. Und vielleicht waren wir uns wirklich schon einmal bei Juri begegnet, wie es Petar jetzt behauptete. Jedenfalls schien er ein recht guter Freund von Juri zu sein, obschon sie sich erst in der Schweiz kennengelernt hatten. Sie trafen sich regelmässig, aus Lust auf ein normales Gespräch, wie Petar sagte. Er meinte damit, dass er sich mit Juri auf Russisch unterhalten konnte. Wo sich Juri im Moment aufhielt oder wie ich ihn erreichen konnte, wusste er auch nicht. Immerhin erfuhr ich, dass Juris Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Juri hatte mir das nie erzählt. Laut Petar hatte Juri keine näheren Verwandten mehr in Russland, niemand, an den wir uns wenden konnten.

In der Dämmerung trottete ich nach Hause, zurück nach Bümpliz. Ich hatte getan, was ich konnte.

5

Zwischen Zeitungen und Reklameschriften steckte eine Ansichtskarte, eine besonders hässliche, eine Gratiskarte, wie sie in Hotelzimmern aufliegen. Vor strahlend blauem Himmel war neben einer mageren Tanne ein überdimensioniertes rustikales Chalet abgebildet.

«Ich brauche dich. Kannst du sofort kommen? Erkläre alles später», keine Unterschrift, ein Pfeil zeigte auf die rückseitig aufgedruckte Adresse der Pension Cordula in Leukerbad. Mir war sofort klar, dass die Karte von Juri stammte, ich war nur etwas erstaunt, weshalb er davon ausging, dass ich das wusste. Und dass ich ihm, ohne Fragen zu stellen, sofort nachreisen würde. Seit seinem Verschwinden waren nun fast zehn Tage vergangen. Aber dank dem neuem Lötschbergtunnel konnte ich in zwei bis drei Stunden bei ihm sein.

Leukerbad war nebelverhangen, ein kalter Nieselregen fiel. Die Touristen liessen sich nicht abhalten und schlenderten in kleineren und grösseren Gruppen durch das Dorf. In durchsichtigen Regenhäuten und unter Schirmen betrachteten sie die Schaufensterauslagen, deren Angebot hauptsächlich aus Schweizer Messern, Wanderkleidung und Stöcken bestand. Badegäste eilten in Trainingsanzügen vom Hotel zu einem der Kurbäder und zurück.

Die Pension Cordula lag am Dorfrand, eingeklemmt zwischen Sporthalle und Appartementhäusern. Offensichtlich hatte die schwächliche Tanne einer dieser Neubauten weichen müssen. Über eine kurze Treppe stieg ich zur Rezeption hoch, traf dort aber niemanden an. Ich hustete, rief ein leises Hallo. Das Büro hinter der Rezeption schien unbesetzt. Schräg hinter mir befand sich eine Holztür, deren eingelassenes Fenster mit einem gelblich verblichenen Vorhang verhängt war. Ein Emailschild «Privat» war an der Tür angebracht. Weiter hinten im Gang führten braun laminierte Türen in die Gästezimmer. Aus dem Restaurant im Erdgeschoss drangen Geräusche herauf. Ich war schon auf dem Weg nach unten, als die Tür mit dem Privat-Schild aufging und eine ältere Dame heraustrat. Sie sah mich überrascht und beinahe erschrocken an, und ich hatte das Gefühl, sie zu stören.

«Was suchen Sie?»

Ihr leichter Akzent verriet, dass sie aus der Romandie stammte. Ich fand den Argwohn in ihrer Frage seltsam für eine Hotelrezeption. Der Goldschmuck an ihrem Handgelenk klingelte, als sie auf mich zutrat, sie schien in Eile. Sie war elegant gekleidet, die aschblonden Haaren zu einem Helm hochtoupiert. Ein Helm mit Schlagseite nach rechts, stellte ich fest.

«Sie wünschen?», sie musterte mich misstrauisch. Mir wurde bewusst, dass ich für einen Wanderkurort in den Bergen unpassend angezogen war. Abgesehen davon, dass ich ja selber fror in dem viel zu dünnen Kleid. Ich war überstürzt abgereist und hatte vergessen, dass Leukerbad in den Bergen liegt.

Wenig später fand ich mich in einem kleinen, schlecht geheizten Fremdenzimmer wieder. Die Dame hatte mir wortlos einen Schlüssel gereicht und war, nach einer knappen Erklärung, dass sich das Zimmer im oberen Stock befand, verschwunden. Nun stand ich neben einem schmalen Bett und hatte Aussicht auf einen regennassen grünen Steilhang hinter dem Haus.

Als ich einige Zeit später in der Gaststube einen Kaffee trank, war es mir immer noch nicht gelungen, nach Juri zu fragen. Die Serviceangestellte, genauso gestresst und kurzangebunden wie ihre Chefin, war ebenfalls blitzartig verschwunden, kaum hatte sie mich bedient. Im Hintergrund hörte ich Türen gehen und eilige Schritte, Stimmen. Für die Pension schien heute ein besonderer Tag zu sein.

Bis auf mich war die Wirtschaft leer, der Raum war düster und ungeheizt. Mehr als ein ausgestopftes Murmeltier und eine Vitrine mit Vereinsfotos gab es nicht zu betrachten. Das Tischtuch hatte ein kleines Brandloch, schien also schon vor dem Rauchverbot in Gebrauch gewesen zu sein. Um mir die Zeit zu vertreiben, schnappte ich mir von einem Tisch neben der Theke eine Lokalzeitung. Sie war vier Tage alt.

Die Eingangstür wurde geräuschvoll aufgestossen. Ein Polizeibeamter betrat den Raum und verschwand nach einem kurzen Klopfen in der Tür neben dem Buffet. Wieder alleine in der Gaststube, sass ich hinter meiner leeren Kaffeetasse. Inzwischen fühlte ich mich steif vor Kälte.

Endlich kam die Serviceangestellte zurück, begleitet vom Polizisten und der Wirtin. Der Polizist hatte jetzt mehrere Reisetaschen bei sich, die er vor sich auf dem Boden abstellte.

«Wenn Sie morgen auf den Polizeiposten kommen, werden Sie bestätigen müssen, dass die Gegenstände aus dem Zimmer Ihres Gastes stammen. Und vielleicht haben wir bis dann noch weitere Fragen an Sie», wandte er sich an die Wirtin.

«Was passiert denn jetzt mit ihm?», fragte sie zurück, begleitet vom nervösen Klingeln ihrer Armbänder.

«Wir werden versuchen, Angehörige ausfindig zu machen. Wenn alle Ermittlungen und Untersuchungen abgeschlossen sind, wird er vielleicht in seine Heimat überstellt. Oder aber er hat Angehörige in der Schweiz, dann werden die sich um die Beerdigung kümmern. Wir müssen das abklären.»

Ich starrte auf das Gepäck, das der Beamte vor sich hatte, einen schwarzen Beutel, einen Koffer und eine zitronengelbe Schultertasche. Es war Juris Tasche. Langsam erreichte der Inhalt des Gesprächs mein Hirn. Sie sprachen über Juri. Sie sprachen von einer Beerdigung.

Der Beamte ging und nahm das Gepäck mit, die Serviceangestellte kam an meinen Tisch. Gelbe Beutel sind Mode, und viele Gäste stammen aus dem Ausland.

Ich zahlte.

«Ist etwas passiert hier? Weshalb ist denn die Polizei gekommen?», fragte ich, fast stimmlos.

«Es ging um die Gegenstände eines Gastes, der nicht mehr hier wohnt.»

Während der leicht hingeworfenen Antwort entfernte sie sich zum Nebentisch, wo sie ein Blumengedeck in die Tischmitte rückte. Vermutlich war das Personal bereits instruiert worden, sich vor den Gästen nichts anmerken zu lassen. Die Frau war jung, ihre Fingernägel mit einem dunklen, beinahe schwarzen Lack gestrichen. Blonde, etwas künstlich wirkende Locken fielen auf einen glitzernden, beigen Strickpullover.

«Ist jemand gestorben?», meine Frage klang jetzt ungewollt laut in der leeren Gaststube. Ich musste eine Antwort haben.

«Ja, ein Gast von uns ist bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Er ist aber nicht hier im Haus gestorben.» Die Antwort kam bereits von hinter dem Buffet, und ich hatte Angst, dass die Frau wieder verschwinden würde.

«Ein Ausländer?», insistierte ich, etwas leiser, aber sehr deutlich.

Sie sah mich überrascht über die Theke hinweg an und kam dann, wenn auch zögernd, an meinen Tisch zurück.

«Ein junger Russe, er war seit ein paar Tagen unser Gast, starb in einem der Kurbäder, in der Dampfgrotte.»

«Weshalb denn? Wenn er noch jung war?», brachte ich heraus.

«Die Polizei geht von einem Herzversagen aus. Er wurde in der Dampfgrotte gefunden. Das heisse Thermalwasser fliesst da direkt hinein, ich kann jetzt nicht sagen mit wie viel Grad, aber sehr heiss, direkt aus dem Berg. Neben dem Thermalwasser soll auch der Dampf sehr gesund sein. Aber für Leute mit Herzproblemen ist die Grotte nicht geeignet.»

Sie machte eine Pause. Nach einem Blick zur Küchentür fuhr sie fort.

«Natürlich stehen überall Warnungen, man soll sich nicht zu lange drinnen aufhalten und so. Aber die Badegäste überschätzen sich. Und manche Leute haben einen Herzfehler, von dem sie nichts wissen. Es kam schon ab und zu vor, dass ein Badegast einen Kreislaufkollaps erlitten hat. Das Gefährliche ist, wenn einer ohnmächtig wird. Wenn einer ohnmächtig ins Wasser sinkt und niemand sieht’s, da kann einer schon ertrinken. Das mit dem Ertrinken geht nämlich schnell, zwei bis drei Minuten unter Wasser reichen schon. Die Bademeister sind natürlich auch noch da, aber sie können ja nicht überall sein.»

Ich wollte das vom Ertrinken nicht hören.

«Wie hiess denn der Gast?», fragte ich heiser.

«Salnikow», antwortete sie schnell und beiläufig. Einen Moment lang sah es so aus, als ob sie sich entfernen wollte, aber sie zog unter dem Nebentisch einen Stuhl hervor und setzte sich. Jetzt, wo sie mich, entgegen der Weisung ihrer Chefin, eingeweiht hatte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Die Sensation verlangte es, dass man darüber sprach, sie schien ganz belebt vom aussergewöhnlichen Vorfall.

«Also, etwas ist schon sehr seltsam», fuhr sie weiter, «der Russe ist nämlich mitten in der Nacht gestorben. Nicht während der Öffnungszeiten. Das Bad war schon lange zu. Der Polizist sagt, dass man nicht weiss, wie er um diese Zeit in die Grotte hineinkam. Als der Bademeister am Morgen das Bad öffnete, trieb die Leiche im Wasser, in der abgesperrten Dampfgrotte. Den Bademeister haben sie jetzt festgenommen. Und ich habe gehört, der Russe habe ein Verhältnis mit ihm gehabt. Zwei», sie räusperte sich, «zwei Schwule, Sie verstehen schon. Wenn die beiden nachts im Bad ein Date hatten, das würde natürlich alles erklären. Der Bademeister hat Schlüssel.»

Sie machte eine Pause nach der süffisanten Neuigkeit.

«Dieser Bademeister, ein Portugiese, ist immer nur in der Hochsaison hier, und es scheint schon früher Stories gegeben zu haben um ihn. Er arbeitet auch als Masseur.»

Ich kenne mich in der Welt der Thermalbäder nicht aus, was auch immer sie Masseuren unterstellte, es interessierte mich nicht. Die Frau sprach von Juri, Juri war tot, aber ich schaffte es nicht, das in mein Bewusstsein dringen zu lassen. Die heimatselige Gaststube, die schwarz lackierten Fingernägel der Angestellten, die ganze Pension Cordula widerten mich an.

Geräusche hinter der Küchentür retteten mich. Die Serviceangestellte sprang auf, schob den Stuhl zurück und verschwand nach einem kurzen Gruss in der Küche. Es gelang mir gerade noch, etwas Trinkgeld auf den Tisch zu legen. Dann flüchtete ich. Ich fand mich oben im kalten Zimmer wieder. Eingewickelt in die Daunendecke, kauerte ich auf dem Boden und biss mich auf den Handballen, um endlich klar denken zu können. Es gelang mir nicht. Plötzlich hatte ich auch Angst. Eine andere Art von Angst, richtig Angst. Was war bloss los? Ich verbrachte ein paar Stunden in einer Starre, in der ich nichts begriff. Das alles war so komisch, so unerwartet, so unlogisch. Irgendwann schlief ich, noch in meinen Kleidern, auf dem Bett ein.

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