Kitabı oku: «Schaurige Orte in der Schweiz»
Lutz Kreutzer (Hrsg.)
Schaurige Orte in der Schweiz
Unheimliche Geschichten
Zum Buch
Schauer und Grusel in der Schweiz Zwölf schaurige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte in der Schweiz, angelehnt an Legenden und Ereignisse vom Mittelalter bis in die Gegenwart: Warum ein böser Ritter im Baselbieter Jura nach seinem Tod keine Ruhe fand. Auf welche Weise eine Lehrerin ihrem Schönheitswahn im Schloss Chillon erlag. Wie ein Poltergeist einen Zürcher Pfarrer das Fürchten lehrte und ein junger Kragenwäscher dafür mit seinem Leben bezahlte. Warum ein alter Bergsteiger um vier Männer in der Eigernordwand bangte. Wie der Riese Botti ein kleines Mädchen vor einem bösen Tier beschützte. Als ein Student in ein Sanatorium im Tessin einstieg. Weshalb unter dem Galgen in Ernen ein Toter lag. Wie eine Frau im Franzoseneinschlag bei Solothurn in den Bann verfluchter Seelen geriet. Warum traumatische Erlebnisse einen Rennläufer am Lauberhorn an seine Grenzen führten. Wie ein Mann in Luzern von einer drogenkranken Frau vereinnahmt wurde. Von den Wirrnissen eines Radfahrers am Malojapass. Warum ein Skilehrer im Wintersturm auf den Säntis stieg und den Wetterwart und dessen Frau erschoss.
Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg/Rheinland geboren und lebt in München. Er ist Autor von Thrillern, Kriminalromanen sowie Sachbüchern und Herausgeber von Kurzgeschichten-Bänden. Er coacht Autoren auf großen Buchmessen und Kongressen und richtet den deutschsprachigen Self-Publishing-Day aus. Der promovierte Naturwissenschaftler gründete am Forschungsministerium in Wien ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit. Seine Reisen und alpinen Abenteuer nimmt er zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Lutz Kreutzer arbeitete lange als Manager in der IT- und Hightech-Industrie. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gefördert. Mehr unter: lutzkreutzer.de
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung: Mirjam Hecht
Karte: Katrin Lahmer
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Krautschick /
ISBN 978-3-8392-6788-2
Inhalt
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Karte
01 Mord in eisiger Höhe
von Christine Brand
02 Maloja – kein Pass für schwache Nerven
von Daniel Badraun
03 Der Kragenwäscher
von Sunil Mann
04 Spuren der Zeit
von Lorenz Müller
05 Das Phantom
von Silvia Götschi
06 Der Galgen von Ernen
von Christine Bonvin
07 Der Oger von Grindelwald
von Lutz Kreutzer
08 Gottes Wille kennt kein Warum
Von Marc Girardelli
09 Der Ritter von Scheidegg
von Barbara Saladin
10 Der Schatz im Franzoseneinschlag
von Christof Gasser
11 Bottis Grab
von Marcus Richmann
12 Alt verknallt
von Michaela Grünig
Die Autoren
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Karte
01 Mord in eisiger Höhe
von Christine Brand
Auf dem Gipfel des Säntis, des höchsten Bergs im Alpstein, steht eine Wetterstation. Bis 1969 wurde das Observatorium selbst während des Winters durch einen Wetterwart bedient, der – abgeschnitten vom Rest der Welt – Tag für Tag die Wetterdaten hinab ins Tal rapportierte. Kaum jemand weiß, dass das Observatorium vor fast genau 100 Jahren zum Tatort eines schrecklichen Verbrechens wurde. Als im Februar 1922 die Meldungen des Wetterwarts Heinrich Haas fünf Tage lang ausblieben, stieg ein besorgter Säntisträger zum Gipfel. Dort fand er zu seinem Entsetzen die Leichen des Wetterwarts und dessen Frau Lena vor. Was sich genau in den letzten Tagen ihres Lebens ereignet hat, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Es gab nur einen Überlebenden und Zeugen der Tat: den Säntishund »Sturm«.
Es ist eine schreckliche Geschichte. Ich wünschte, sie wäre nicht passiert. Wäre es möglich, ich würde sie ungeschehen machen. Doch das geht nicht. Es ist zu spät. Die anderen werden sagen, ich sei schuld an der ganzen Sache. Aber so einfach ist das nicht mit Schuld und Unschuld. Es gibt nie nur eine Wahrheit. Je einfacher etwas auf den ersten Blick erscheint, desto komplizierter ist es, wenn man genauer hinschaut. Doch lassen Sie mich von vorne beginnen. Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen, die mir als die wahre erscheint. Meine Geschichte. Die Geschichte von Gregor Anton Kreuzpointner.
Ich befinde mich in einer alten Scheune, wie ich dies hier schreibe, sie liegt in der Nähe der Schwägalp am Säntis. Ein klägliches Versteck. Es ist kalt, meine Finger sind steif, ich kann den Stift kaum halten. Die Sonne hat sich längst hinter den Gipfeln weggeduckt, auch das letzte Licht des Tages stiehlt sich davon. Die Buchstaben werden undeutlich im flackernden Schein der Laterne. Und doch muss ich die Worte niederschreiben, ich will nicht schweigend von der Welt gehen.
Dass ich gehen muss, scheint unausweichlich.
Die Verzweiflung, die mich getrieben hat, war groß, nun ist sie der Resignation gewichen. Wenn sie mich finden, werde ich tot sein. Lebend werden sie mich auf jeden Fall nicht kriegen, so viel ist klar. Es ist kein großer Preis, den ich bezahle, denn mein Leben ist mir längst abhandengekommen. Dabei war so lange alles gut gegangen. Zu gut womöglich. Das Glück war ein falsches Versprechen, nicht mehr als eine Seifenblase, die schön und bezaubernd und verlockend erscheint und die in der nächsten Sekunde zerplatzt.
1911 bin ich in die Schweiz gekommen, aus Bayern, ich war 19, gelernter Schuhmacher. Elf Jahre ist das her. Wie die Zeit vergeht. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit – gleichzeitig kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich in Herisau die Stelle als Gummiarbeiter angetreten habe. Ich habe geschuftet wie ein Irrer, auch wenn der Heinrich später das Gegenteil behauptet hat, der Lügner, der falsche Hund. Ich weiß, wie man anpackt. Ich bin kein fauler Sack! Ich habe mich von ganz unten nach oben gekämpft, nur um dann umso tiefer zu fallen. Doch wie hätte ich das ahnen können?
Ich war ein fescher Kerl, bin es noch immer, einer, dem die Damen zukichern und der sie zum Erröten bringt. Sportlich war ich der Beste, ich hätte es auf den Skiern bis an die Spitze gebracht, ohne Zweifel, wenn man mich gelassen hätte. Auch am Berg bin ich nicht zu schlagen. All die reichen Herren wollten mich als Bergführer und Skilehrer haben. Das Geld steckten sie mir in Bündeln zu; ich müsse mich selbstständig machen, meine eigene Schuhmacherei gründen, mein eigener Chef sein, damit ich mehr auf den Sport setzen könne. Damit ich mehr Zeit für sie hätte. Sie haben mich bewundert, sie haben mich hofiert. Ich war ein Narr und dachte, sie wären meine Freunde.
Das Geld hat nicht lange gereicht. Ich war zu oft am Berg und zu selten in der Werkstatt. Heute, im Nachhinein, muss ich sagen: Die Berge waren meine Liebe und meine Leidenschaft – und jetzt sind sie mir zum Verhängnis geworden. Es wäre anders gekommen, wenn es den Heinrich Haas nicht gegeben hätte. Erst hat er mein Glück geraubt, dann nahm er sich, was für mich bestimmt gewesen wäre. Er hat mein Leben zerstört.
Neue Zürcher Zeitung,
25. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Mitten in den Fastnachtstrubel hinein fällt die Nachricht einer entsetzlichen Bluttat, der zwei brave, pflichteifrige Menschen zum Opfer fielen, die auf einsamer Höhe von Mörderhand getötet wurden. Auf 2.500 Metern, auf dem Gipfel des Säntis, verrichtete der Wetterwart Heinrich Haas mit seiner Frau Lena seinen schweren Dienst, nur durch einen dünnen Draht mit der Welt in der Tiefe verbunden, ringsum von Eis und Schnee umgeben, gefangen im selbstgewählten Exil. Ein meisterhafter Träger, der dem Ehepaar Haas das Notwendigste zum Leben wöchentlich einmal auf den Gipfel brachte, war in der Winterzeit der einzige Bote aus dem Tale, wo ihre zwei Kinder der Sorge guter Freunde anvertraut waren. Jetzt hat er das Ehepaar tot aufgefunden, ermordet. Man kann es kaum fassen, dass bis da hinauf ein Mörder den Weg fand, dass diese kleine Stätte nicht gefeit war vor bösen Taten und schlimmen Menschen, die es in tiefer Einsamkeit fertigbringen, zwei bescheidene Menschen zu berauben und zu töten. Diese Weltverlassenheit war der Stundengenosse des Täters; er wusste, dass weitherum niemand ihn an seiner Tat hindern, niemand ihn beobachten und verscheuchen, niemand seinen Opfern zu Hilfe eilen konnte, er war mit ihnen allein im eingeschneiten Häuschen und ein Entrinnen gab es hier für sie nicht.
Ich hatte das Inserat in der Zeitung gelesen: Gesucht, Säntiswart! Das war vor drei Jahren, als ich gerade das erste Mal Konkurs anmelden musste. Ich wusste auf Anhieb, dass das meine Berufung ist: Wetterwart auf dem Säntisgipfel.
Der frühere Wetterwart war durchgedreht. Das kann passieren in der monatelangen Einsamkeit auf der Wetterstation auf dem Gipfel des Säntis, des höchsten Bergs im Alpstein, hier in der Ostschweiz. Aber ich versichere Ihnen: Mir wäre das nicht passiert. Diese Weite! Das Panorama! Vor einem liegen die Spitzen der Berninagruppe: Piz Bernina, Piz Morteratsch und Piz Boval. Vom Säntisgipfel aus kann man in sechs Länder sehen: die Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Frankreich und Italien. Wer dort oben steht, sieht auf die Welt hinab. Wer dort oben steht, ist König. Und der Wetterwart, der die Daten des Observatoriums ins Tal hinabsendet und damit hilft, das Wetter vorherzusagen, ist gar der Kaiser. Höher kann man nicht aufsteigen. Fast hätte ich es geschafft.
Um zu verhindern, dass den neuen Wetterwart dasselbe Schicksal ereilt wie seinen Vorgänger, dass nicht auch er in den Wahnsinn abdriftet, sollte niemand mehr allein einen Winter dort oben verbringen: Nur noch Ehepaare durften sich bewerben. Ich zögerte keine Sekunde und bat Katharina um ihre Hand. Ich wollte sie heiraten und mitnehmen, sie liebte mich, sie würde mich begleiten, auch wenn sie aus gutem Hause stammte und das Leben dort oben nicht einfach sein würde. Dafür wartete ein Abenteuer auf uns, ein verantwortungsvoller Auftrag, höchstes Ansehen! Auf einen Schlag würde ich all meine finanziellen Sorgen los sein. Es war für mich keine Frage, dass wir so schnell als möglich heiraten und die Stelle erhalten würden. Ich hätte gemeinsam mit Katharina dort oben das Glück gefunden, so viel ist gewiss.
Dann begann ihr Vater, Fragen zu stellen. Ich war ihm wohl nicht gut genug, als Deutscher, als zugezogener Fremdling ohne begütertes Elternhaus. Ihr Vater hat sich umgehört, hat vom Konkurs erfahren. Und dann erzählt ihm der Heinrich, ich sei ein fauler Sack, arbeitsscheu, für nichts zu gebrauchen. Der Lügner! So war das nicht. Ich wollte mich verteidigen, doch es war zu spät, da hat mir schon niemand mehr geglaubt. Katharina lehnte meinen Antrag ab, und alleine hatte ich mit meiner Bewerbung um die Stelle als Wetterwart auf dem Säntis keine Chance mehr. Und dann kriegt sie ausgerechnet ebendieser Heinrich Haas. Das war Betrug! Der hinterhältige Mistkerl ist mit seiner Lena in die Wetterstation gezogen, hat die Kinder im Tal zurückgelassen. Wie er sich dafür feiern ließ! Postkarten hat er drucken lassen: Er posiert mit seiner Lena im Schnee, sie sägt das Holz, er spaltet es. Auf einer anderen Postkarte sieht man, wie sie ihm die Haare schneidet, während er ein Buch liest, darüber steht in gedruckter Schrift: Observatorium Säntis, Selbsthilfe: Frau Säntiswart Haas an der Arbeit.
Dabei hätte ich auf dem Bild sein sollen, mit meiner Katharina. Lange Zeit habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Ich habe meine Kunden auf den Säntisgipfel geführt, manchmal bin ich auch alleine hochgestiegen. Ich versuchte weiterzumachen, eröffnete erneut eine Schuhmacherei, führte daneben meine eigene Berg- und Skischule. Doch es war, als hätte sich auf einmal alles gegen mich verschworen. Das Geld ging aus, die Schulden wuchsen, die Pfändungen häuften sich. Wieder folgte ein Konkurs. Niemand war mehr bereit, mir zu helfen. Doch ich brauchte Geld, um zu überleben.
Es war nicht mein Fehler. Heinrich Haas war für meine Misere verantwortlich. Er allein. Obwohl ich den seelenlosen Schuft dafür verachtete, war er meine letzte Chance. Ich brauchte Geld. Er verdiente genug. Er war es mir schuldig.
Neue Zürcher Zeitung,
26. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Dieser Tage ging die Meldung durch die Presse, dass die Telegraphenverbindung und die Telephonleitung nach der Säntisstation offenbar durch Schneedruck zerstört worden und der Säntiswart mit seiner Frau von jeder Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten sei. Die Meldung erregte kein Aufsehen, da an den Leitungen schon öfters Defekte vorgekommen sind. An einen Unfall wurde nicht gedacht. Am Samstag wurde nun gemeldet, dass der Säntiswart und seine Frau ermordet worden sind. Säntisträger Josef Anton Rusch unternahm am Samstag einen Aufstieg nach der Beobachtungsstation und fand zu seinem Schrecken das Ehepaar Haas als Leichen auf. Der Mann lag im Freien, die Frau im Stationsgebäude. Genaue Einzelheiten fehlen noch, da der Säntisträger keine weitere Untersuchung vornahm. Übermittelt ist einzig, dass das Arbeitszimmer, in dem die tote Ehefrau gefunden wurde, verwüstet war. Eine polizeiliche Untersuchung ist eingeleitet. Zur Sicherstellung des Tatbestandes begab sich am Sonntagmorgen um drei Uhr früh eine Abordnung der Gerichtsbehörden von Appenzell aus an Ort und Stelle. Über die Täterschaft kursieren verschiedene Gerüchte. Wie wir aus St. Gallen erfahren, glaubt man, dem Mörder auf der Spur zu sein.
Ich erinnere mich nicht mehr, was in meinem Kopf vorgegangen ist, als ich aufbrach. Es war die absolute Ausnahmesituation. Ich sah keinen Ausweg mehr, also trieb es mich hinaus, nur dieses eine Ziel im Sinn, der Berg, der Säntis, ohne eine Ahnung, was ich machen würde, wenn ich dort ankommen sollte.
Ich habe nicht damit gerechnet, den Gipfel zu erreichen. Keine Ahnung, warum ich die Nasenlöcherroute wählte, sie ist nach den zwei nebeneinanderliegenden Höhlen benannt, an denen sie vorbeiführt. Die Route ist im Sommer gefährlich, im Winter kommt sie einem Selbstmord gleich. Vielleicht hatte ich genau das im Sinn: sterben – dort oben, wo ich es am schönsten fand. Selbst das hat nicht funktioniert.
Der Kampf im Schnee. Die Kälte zerfrisst dich. Alle Kraft ist weg, dein Körper ist leer, doch du treibst ihn weiter und weiter, obwohl du blind bist und die Welt aus nichts anderem mehr besteht als dem undurchdringlichen Weiß und deinem Keuchen. Die dünne Luft rasselt in der Lunge, du denkst, zwei Schritte noch, dann fällst du um, doch dann werden es drei, dann noch einer und noch einer, du weißt, wenn du nur kurz innehältst, dann schläfst du ein, dann bist du tot. Noch ein Schritt, plötzlich der Schatten vor dir: die Hütte. Die Wetterstation. Das Observatorium. Geschafft. Du bist ganz oben auf dem Gipfel des Säntis. Ankommen. Anklopfen. Wärme.
Doch die Wärme hat nicht lange angehalten. Hätte mich doch eine Lawine zu Tal gerissen. Sie hätte zwei Leben gerettet, und ich wäre einen heldenhaften Bergtod gestorben. Es sollte anders kommen.
Neue Zürcher Zeitung,
27. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Wie wir soeben vernehmen, haben die hiesigen kantonalen Polizeibehörden Steckbriefe gegen zwei Männer erlassen, die als Täter beim grausigen Doppelmord infrage kommen könnten. Die Fahndung richtet sich gegen einen in Herisau eingebürgerten Ausländer, um den Schuhmacher und Skilehrer Kreuzpointner, der vor einiger Zeit in Konkurs geraten war. Die andere betrifft einen Mechaniker Müller, der nach den Feststellungen des Polizeikommandos schon seit einigen Tagen nicht mehr in seine Behausung zurückgekehrt ist.
Wahrscheinlich war der in der Region bekannte Kreuzpointner der letzte Besucher des Observatoriums auf dem Säntis, er soll dort einige Tage verweilt haben. Wie die kantonale Polizeidirektion in Appenzell auf Anfrage hin mitteilt, gab der Säntiswart Haas in seinem letzten Dienstbericht bekannt, dass sich Kreuzpointner bei ihm befinde, dass er ihn ständig belästige, dass er aber hoffe, sich seiner bald entledigen zu können. Schon früher gab seine Ehefrau bei einem telephonischen Gespräch an, dass ihr auffalle, dass Kreuzpointner oft auf dem Gipfel erscheine und dass er offenbar ihren Mann um finanzielle Hilfe angehe. Noch am letzten Sonntag telephonierte Frau Haas mit der Frau des Säntisträgers Rusch und berichtete von dem ungebetenen Gast. Sie fragte nach baldigem Proviant, weil das Essen knapp werde. Das letzte Lebenszeichen vom Observatorium kam am Dienstag von Frau Haas, als sie sich vom Dienstchef des Telegraphenamtes in St. Gallen beraten ließ, wie mit dem unangenehmen Gast am besten zu verfahren sei. Man vermutet, dass Kreuzpointner mit der Tat in Verbindung zu bringen ist, da man von anderen Besuchern des Säntisobservatoriums nichts weiß.
Zuerst hieß es, dass Haas und seine Frau erstochen worden seien. Nach den letzten Mitteilungen der Mannschaft aber, die sich am Morgen um drei Uhr früh von Appenzell aus auf den Säntis begab, sind die beiden Eheleute erschossen worden. Bereits am Nachmittag waren die Männer mit den Leichen wieder ins Tal zurückgekehrt, doch weitere Berichte stehen noch aus.
Als ich in der Säntishütte ankam, merkte ich sofort, dass ich nicht willkommen war. Statt mir Tee und Brot anzubieten, fragte Lena, was ich schon wieder hier suche. Keine Freundlichkeit, sie sprach, als speie sie Gift. Ich setzte mich an den Tisch und verlangte nach Stärkung, entkräftet wie ich war. Da kam Heinrich herein. Er war nicht viel freundlicher als seine Alte. Aber weiß der Teufel, vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen. Er wies Lena an, mir Essen aufzutischen, und sagte, ich könne bleiben über Nacht, doch am nächsten Morgen müsse ich mich wieder an den Abstieg machen.
Es war nicht meine Absicht zu gehen. Wohin auch? Im Tal erwartete mich nichts Gutes, keine Frau, die um mich bangte, nur Gläubiger, die mir Geld abnehmen wollten, das ich nicht hatte. Noch sagte ich nichts, ich wollte nur schlafen, mehr nicht.
Am nächsten Tag blieb ich. Das Wetter war stürmisch, ich weigerte mich, unter diesen Bedingungen den Abstieg zu wagen. Sie protestierten. Ich rührte mich trotzdem nicht: Ich würde nur gehen, wenn sie mir Geld gaben, erklärte ich. 300 Franken. Erst lachten sie mich aus. Dann verfluchten sie mich. Schließlich versuchten sie, mir aus dem Weg zu gehen; schwierig, in der kleinen Hütte. Sie verweigerten mir das Geld und bald auch das Wort. Und wenn sie doch zu mir sprachen, dann nur, um mich zum Gehen aufzufordern. Die Schwere des Schweigens wurde unerträglich. In der unliebsamen Stille lag die Vorahnung, dass bald etwas passieren würde. Nichts Gutes.
Am dritten Tag belauschte ich Lena am Telefon. Ich kann nur ahnen, mit wem sie sprach. Sie klagte über einen »unliebsamen Gast« und fragte, wie sie ihn dazu bringen könne zu gehen. »Unliebsam« nannte sie mich! Am Abend kochte Lena Kartoffelsuppe, dazu gab es altes Brot und getrocknete Wurst. Ich sagte, ich hätte das Gespräch gehört. Heinrich polterte, er wurde ausfällig und brüllte, ich solle gehen. Wenn ich nicht sofort verschwinden würde, erstatte er Meldung, es gehe nicht, dass ich mich hier auf ihre Kosten breitmache, die Nahrung werde schon knapp. Erneut forderte ich Geld, sonst würde ich keinen Wank machen, 500 Franken jetzt. Das war keine Erpressung, das Geld stand mir zu, und noch viel mehr, stellen Sie sich vor, wie viel das Wetterwartpaar in den drei Jahren verdient hat dort oben in der Hütte, Geld, das meines hätte sein sollen. Ihr ganzes Leben stand mir zu – mir, nicht ihnen. Durch einen gemeinen Betrug haben sie mich um das Leben gebracht, das für mich bestimmt gewesen wäre. Ich schlug auf den Tisch. Sturm, der Hund, bellte wild. Doch ich fürchtete ihn nicht. Er mochte mich, er war auf meiner Seite. Lena flehte mich an zu verschwinden. Nicht ohne das Geld, erklärte ich. Wir stritten laut und lange, sie wollten nicht begreifen, dass sie mich um mein Leben betrogen haben. 1.000 Franken hätte ich verlangen sollen, das wäre das Mindeste gewesen. Sie hatten kein Einsehen. Ein Wunder, dass an diesem Abend nicht die Fäuste flogen. Irgendwann sind wir schlafen gegangen.
Am vierten Tag war ich immer noch da. Erneut gab es nur Streit. So konnte es nicht weitergehen. Wenn sie mir nicht geben wollten, was mir zustand, würde ich es mir einfach nehmen. Irgendwo musste Heinrichs Waffe sein. Irgendwo war auch ihr Geld versteckt. Sie würden damit herausrücken, wenn ich sie nur das Fürchten lehrte.
Neue Zürcher Zeitung,
28. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Zum Doppelmord auf dem Säntis. Es liegen erste Erkenntnisse vor, wie der Säntiswart Haas und seine Ehefrau hoch oben auf dem Berg ums Leben gekommen sind. Der Säntisträger Rusch, der gemeinsam mit seinem Sohn die Toten gefunden hat, erstattete Bericht über sein schreckliches Erlebnis. Nachdem der Kontakt zu Heinrich Haas und seiner Ehefrau abgebrochen war, machte sich Rusch gemeinsam mit seinem Sohn ahnungslos auf den Weg, um die Bruchstelle in den Leitungen zu suchen. Sie gelangten bis zur Rehalp, aber bis dorthin war die ganze Leitung instand. Zweifelhaftes und schlechtes Wetter, Regen und Schneefall verhinderten tagelang einen höheren Aufstieg. Erst am Samstagmorgen erzwangen sich die beiden berggewandten Träger den Aufstieg bis zu jener Stelle, an der die Telephonleitung nunmehr als unterirdisches Kabel verlegt ist. Sie konnten bis dahin keinen Schaden an der Leitung feststellen. Da wurden die Träger stutzig: Sie ahnten, dass droben im Observatorium etwas passiert ist. Rasch wurden die Schneeeisen an die Füße geschnallt und nach herben Mühen die Säntisspitze erreicht. Das Rufen der Namen des Ehepaars Haas verklang unbeantwortet. Nur das Winseln des Hundes Sturm war von drinnen zu vernehmen. Erwartungsvoll, von bangen Zweifeln gequält, öffneten sie die Tür des Beobachtungshäuschens. Doch welch Anblick wurde ihnen zuteil! Mitten in einem wüsten Durcheinander lag Frau Haas, bleich und blutbefleckt. Vorsichtig und behutsam sichteten die beiden Männer alle Räumlichkeiten, tasteten sich schließlich durch den unterirdischen Gang zum Windmesserhäuschen empor. Alles leer! Mit einem Spreizschritt waren sie im Freien. Da – wer beschreibt ihr Entsetzen – kaum 20 Meter unterhalb des Häuschens, auf der Toggenburger Seite, lag das zweite Opfer: Wetterwart Haas.
Wie genau sich das schauerliche Drama zugetragen hat, bleibt bis zur Festnahme des Mörders ein ungelüftetes Geheimnis. »Von hinten erschossen«, lautet kurz und knapp der ärztliche Befund über den gewaltsamen Tod des Heinrich Haas. Die Vermutung liegt nahe, dass der Mörder nach vollbrachter Tat sich der wehrlosen Frau erinnerte, die ihm zur Verräterin werden konnte. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Auch sie wurde meuchlings von hinten erschossen. Unten im Tal sind zwei unmündige Kinder zu Waisen geworden.
Ich musste nicht lange suchen: Die Waffe lag in der untersten Schublade des Schreibtischs in Heinrichs Arbeitszimmer. Ein Browning, Kaliber 7,65. Ich nahm sie an mich. Bevor ich zurück ins Bett schlich, zerstörte ich die Telegraphen- und Telefonleitung – die einzige Verbindung zum Rest der Welt. Es war mitten in der Nacht. Niemand hat mich gehört.
Am nächsten Morgen blieb ich lange in der kleinen Kammer liegen. Erst als ich vernahm, dass Heinrich das Zimmer verließ, um ins Windmesserhäuschen hinaufzusteigen, stand ich auf. Ich zog mich an, nahm die Waffe, überlegte mir genau, wie ich vorgehen musste. Heinrich würde eine Zeit lang beschäftigt sein. Lena war ein leichteres Opfer: Ich war sicher, dass sie mir alles geben würde, was sie besaß, wenn sie in den Lauf der Waffe blickte. Danach wollte ich sie in die Küche sperren, meine Beute und meine Sachen packen und zum Abstieg aufbrechen. So konnte ich mir genügend Vorsprung verschaffen. Heinrich würde Lena nach der Arbeit finden, doch Alarm schlagen konnte er nicht, die Leitung ins Tal war gekappt. Wohl würde er die Verfolgung aufnehmen, aber er ist nur halb so schnell wie ich. Keine Chance. Sobald der Heinrich im Tal ankäme, wäre ich längst über alle Berge.
Es war ein guter Plan. Doch nichts lief so, wie ich es vorgesehen hatte. Wenn die Lena bloß nicht ein solcher Sturkopf gewesen wäre!
Sie reagierte ruhig und gefasst, als ich die Waffe auf sie richtete. Sie wirkte nicht einmal überrascht. Ich forderte sie auf, mir all ihr Geld und allen Schmuck zu geben, sonst würden sie und Heinrich den Abend nicht mehr erleben. Aber dieses Weib zeigte keine Angst! Wütend herrschte sie mich an, ich solle endlich das Weite suchen. Doch so spricht man nicht mit mir, nicht sie, deren Mann mir mit hinterhältigen Lügen die Verlobte vertrieben und mich betrügerisch um meine Stelle als Wetterwart gebracht hatte. Lena weigerte sich, mir das eine oder das andere zu geben, sie nannte mich einen miesen Lump, die Schlampe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie sich zur Wehr setzt. Plötzlich ging alles blitzschnell. Sie drehte sich weg, griff nach einem Holzscheit neben dem Kamin und wollte es mir an den Kopf schleudern. Instinktiv duckte ich mich, gerade im rechten Augenblick, das Scheit knallte an die Wand, ich richtete mich auf, sie schrie, drehte sich erneut um, auf der Suche nach dem nächsten Holzstück.
Ein Schuss löste sich.
Vielleicht habe ich auch bewusst geschossen.
Ich weiß es nicht, kann’s nicht mehr sagen heut. Es ging zu schnell. Womöglich war es ein Reflex, den Finger krümmen, eine leichte Berührung nur, es braucht nicht viel. Der Knall war schrecklich.
Einen Moment lang war ich wie gelähmt. Sturm, der Hund, war verstört unter den Tisch gekrochen. Und Lena lag da, vor dem Fenster, regungslos. Der Kopf auf dem Stickrahmen, an dem sie zuvor gearbeitet hatte, der linke Arm über den rechten gekreuzt, die Beine leicht angezogen. Holzpantinen an den Füßen, eine Schürze mit weißen Punkten. Neben ihrem Kopf das Stehpult. Darüber an der Wand ein Abreißkalender. Der Zettel trug noch das Datum vom Vortag. Der Blick in das Zimmer zeigte mir ein irreales Bild, ein abstraktes Gemälde, dessen Inhalt ich zwar erkannte, aber nicht verstand.
Nie werde ich den Anblick vergessen.
Auch nicht den Wirbelsturm von Gefühlen, der durch meinen Körper fuhr. Klar, da war zum einen die Panik – was hatte ich getan? Gleichzeitig verspürte ich Stolz, weil ich mir das nicht habe gefallen lassen, so springt man mit einem Kreuzpointner nicht um. Und dann spürte ich eine freudige Aufregung, Erregung fast, dass ich tatsächlich getan hatte, was ich mir nie zugetraut hätte, einen Menschen getötet, die Lena erschossen! Mein erster klarer Gedanke danach war: das Geld. Fast gleichzeitig erinnerte ich mich daran, dass da noch jemand war: Heinrich. Er durfte nicht sehen, was ich getan hatte. Ich musste verhindern, dass er zurückkommt. Im nächsten Augenblick funktionierte ich wieder: Ich würde auch Heinrich töten. Es gab keinen anderen Weg, wenn ich nicht am Galgen enden wollte.
Hinter der Tür lag der Korridor, in den Felsen gehauen. Ich schlich durch den finsteren Tunnel. Es roch nach Feuchtigkeit. Ich stieg lautlos die abgetretenen Stufen zum Windmesserhäuschen hoch, öffnete das kleine Türchen nach draußen so leise, dass der Wind das Geräusch verschluckte. Da vorne im Schnee stand er. Heinrich. Ich hatte Glück, er wandte mir den Rücken zu.
Dieses Mal war es ganz einfach. Alles fällt einem leichter, wenn man es schon mal getan hat. Mit dem Töten verhält es sich nicht anders.
Er hat mein Leben zerstört.
Ich habe ihm sein Leben genommen.
Bald werde ich ihm folgen.
Neue Zürcher Zeitung,
1. März 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Zum Doppelmord auf dem Säntis. Die Legalinspektion der Leichen des ermordeten Ehepaares Haas wurde Montagvormittag im Krankenhaus Appenzell vorgenommen von den Amtsärzten Doktor Hildebrand aus Appenzell und Professor Doktor Bells aus St. Gallen. Haas wurde getötet durch einen Rückenschuss, der aus der Brust wieder austrat. Seine Frau erhielt einen Schuss in die Brust und das Geschoss blieb im Körper stecken. Es wurde bei der Obduktion gefunden. Zum Zwecke einer größeren Wirkung der Geschosse hat der ruchlose Mörder die Spitze der Kupfermantelgeschosse scharf angefeilt. Beide Schüsse trafen edle Körperteile: Lunge, Herzbeutel, große Schlagadern, sodass bei beiden Personen der Tod sofort eingetreten sein muss.
Weiter ist zu berichten, dass der Mörder am Tatort Kabel an Telephon und Telegraph ausgestöpselt hatte. Die Verwüstung des Zimmers im Erdgeschoss des Observatoriums, in dem die tote Lena Haas gefunden worden ist, scheint nicht wie anfänglich vermutet durch einen Kampf verursacht worden zu sein, sondern durch den verzweifelten Hund Sturm, der mehrere Tage mit der Toten eingesperrt gewesen ist.
Die Bestattung der beiden Opfer der grausamen Mordtat auf dem Säntis findet am Mittwochvormittag um einviertel zehn in Appenzell statt. Wer die beiden liebenswürdigen Säntiseinsiedler gekannt hat, wer ihnen, wie der Schreiber dieser Zeilen, im Leben nähergestanden, wird ihnen ein schönes Gedenken wahren über das Grab hinaus.