Kitabı oku: «Vicky Victory», sayfa 4

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»Für Pankow soll es der Bubble-Jet sein.« Malte zündet sich einen Zigarillo an. »Im Osten muss man gleich richtig einsteigen. Die Leutchen durften doch ’n halbes Jahrhun­dert nicht mal Visitenkarten drucken. Jetzt geht’s los, jeder kopiert da sein Ego in Farbe, und zwar mit dem digitalen Blasen-Tintenstrahlsystem in meinem Laden.«

Malte bestellt in Vorfreude auf seinen Pankower Rei­bach gleich noch ein Helles und trägt mir einen Job an: ob ich nicht Lust hätte, mich mit der Arbeit am Bubble-Jet anzufreunden?

»Farbumwandlung, Multibahnkopien, Spiegelbildtech­nik, das hast du schnell raus.«

Ich kriege pro Bella-Abend mindestens einen Job ange­boren, und ich weiß das zu schätzen. Ich nicke immer mit demselben Ernst, als wollte ich sagen: So eine existenz­wendende Entscheidung will wohl überlegt sein.

Am liebsten möchte Malte in das Hardware-Geschäft einsteigen; in ihm stecke ein verhinderter Ingenieur, be­hauptet er, und gemeinsam mit Juni könne er eine neue Generation von Laser-Druckern entwickeln. Juni hat sich so ein Gerät von Malte ausgeliehen, hat’s bei sich zuhause in der Küche aufgestellt und arbeitet in seinen freien Stun­den an der Verbesserung der Digitaltechnik.

Schorschi Köhler möchte viel lieber über das Fußball­spiel mitdebattieren, und ob nun der Leipziger Stürmer eine Chance gehabt hätte oder nicht, aber Juni hat ihn am Kanthaken und dringt in ihn, er müsse doch jemand beim Tiefbauamt kennen, denn schließlich, der Köhler ist Rohr­leger.

Als Mecki den Namen des umstrittenen Stürmers: »Olli Scharnweber«, einmal über die mittlere Lautstärke hinaus hervorstößt, merkt Malte auf, lässt vom digitalen Blas-System ab und sagt ruhig:

»Der ist stasibelastet.«

Alles stockt, als sei der Gott-sei-bei-uns durch die Tür getreten. Malte mag solche Momente verlegener Stille. In sie hinein lässt sich jede Dreistigkeit mit verdoppelter Wucht platzieren. Jetzt erklärt er:

»Ich werfe dem Jungen das nicht vor. Man muss die Spielregeln einhalten, überall, ob nun beim Fußball oder sonst wo. Und die Spielregeln hießen drüben: Haltet un­sern Staat sauber. So war’s doch. ’N wohlerzogener Mensch sah das ein.«

Juni hat Angst, dass der Stammtisch auf ein politisches Thema überspringt und fuchtelt lautstark zu Johanna hin, damit sie ihm noch’n Futschi bringt. Dann sagt er:

»Scheiße. Ich glaub, ich hab mir in der Sauna ’n Fußpilz eingefangen.«

Aber so lässt sich Malte nicht stoppen:

»Die Spitzelei war nicht nur die Regel«, hebt er wieder an, »sie war das Spiel selbst. Ich sage euch, denen fehlt jetzt was da drüben. Die hatten doch ihren Krimi täglich frei Haus. Unsereiner muss sich schon ins Freie trauen, um ’n bisschen Spannung ins Leben reinzukriegen, die drüben, die brauchten bloß das Fenster aufzumachen und raus zurufen: ›Scheiß Staat‹ und schon ging ’n klasse Thriller los mit ihnen selbst als Helden. Da drüben bricht der große Frust jetzt aus, weil alles vorbei ist, weil denen der Schwung im Leben fehlt, das tägliche Theater. Arbeitslo­sigkeit ist doch nicht der Punkt, wer will schon arbeiten gehen, und verhungern tut keener. Denen fehlt die Stasi drüben, is doch sonnenklar. Wat sagst du dazu, Igor, du kennst doch den Laden von innen. Hab ich nicht recht?«

Ich sag dazu, dass meine siebeneinhalb Minuten rum sind und Johanna mein Pils nun mal könnte rüberwachsen lassen.

»Wer war Otto Nuschke?« fragt Juni. Er leckt sein Futschi-Glas aus. »Weiß das einer?«

»Die andere Hälfte der Bevölkerung«, fährt Malte fort, »die Jäger des verlorenen Schatzes, die Schnüffler-, Schlei­cher- und Arschkriechertypen, die sind erst recht betuppt, klarer Fall. Die ham ja nun niemand mehr, in dessen Müll sie wühlen können und niemand, der ihnen auf die Schul­ter klopft und ihnen ’n Orden an die Kappe klebt. Na, wenn das keen Verlust ist, wenn das keen Zusammen­bruch von Lebensperspektiven ist! Mein Vorschlag zur Güte: man macht die ›Firma‹ wieder auf, mit allem Drum und Dran in der Normannenstraße, und auf Los geht’s los, meine Damen und Herren, wer will noch mal, wer hat noch nicht ’ne Wanze in sein’ Klo.«

»Und was soll nu ausgespitzelt werden«, fragt Wenzel, »wo der Klassenfeind rehabilitiert ist?«

»Is doch piepegal«, versetzt Malte, »war doch vorher auch egal. Oder glaubst du, das hat im Ernst jemand inter­essiert, wat so’n Ingenieur von Bergmann Borsig oder so’n Elektriker aus Babelsberg abends im Bett für’n Westbuch liest? Es war völlig egal, aber es wurde ausspioniert und aufgeschrieben und abgeheftet und mit’m Top-Secret-Stempel versehen, damit die Leute ’ne Spannung im Leben hatten, damit überhaupt was los war und sie nich alle miteinander vor Langeweile abgekratzt sind.«

»Wer war … hab ich … Ottmahlske … woBonz … Futschlett..«

Das sind Juni und Schorschi, die zur gleichen Zeit re­den, einer immer aufgeregter als der andre, und es kostet sie ordentlich Mühe, ihre Stimmen auseinanderzuzurren und die Reihenfolge zu klären. Juni darf zuerst:

»Wer war Otto Nuschke?« fragt er. »Und wo bleibt mein. Futschi?«

Dann kommt Köhler:

»Hab ich doch kürzlich in Mahlsdorf ’ne Villa saniert und dabei ’n eingesargtes Skelett im Garten gefunden.«

»Is nich wahr!« Alle sind platt.

»Stellte sich raus«, - Köhler kichert und vergisst, die Schaumbläschen in seinen Bart zu drücken, sodass sie jetzt auf dem Gestrüpp wie Pusteblumen sitzen bleiben.

»Stellte sich raus, dass der angrenzende Friedhof irgendwie durch 'ne Erdverschiebung in das Grundstück des Kun­den rübergerutscht war …«

Johanna kommt mit neuem Stoff und horcht offenen Mundes auf das Schauerstück.

»Mir egal«, brummt Chagdas, »ob der Scharnweber Dreck am Stecken hat. Er is nun mal der einzige Spielfüh­rer, der sich auch im Westen behaupten könnte.«

»Im Westen niemals«, fährt Mecki dazwischen, »dafür fehlt’s denen drüben am sechsten Sinn für Taktik.«

»Wer war Otto Nuschke?« ruft Juni. »Igor, du musst das doch wissen, sag mal ’n Ton.«

»Wozu willst du wissen, wer Otto Nuschke war?« fragt Wenzel, der Versicherungstyp, der leider plant, nach Köln umzuziehen.

»Wegen der Otto-Nuschke-Straße: die wird jetzt umbe­nannt. Und ich muss wissen, ob es sich lohnt, das alte Schild zu kassieren.«

»Wozu?«

»Um Kasse zu machen, du Dämlack, denn diese Schil­der haben einen marktgängigen Symbolwert.«

»Mit sowas handelst du?« fragt Schorschi, nicht ohne einen Unterton der Verachtung für Junis Müllwelt.

»Man muss die Arbeitsplätze, die der Osten ehrlich schafft, besetzen«, gluckst Juni. »Die Mauer ist in Stücken ein Vermögen wert.« Er selbst hat zwei Blöcke nach München verkauft und eine Ladung mit Brocken nach Istanbul.

»Arbeitsplätze sind ’ne feine Sache«, fängt Malte wie­der an, »aber die Arbeit muss auch Spaß machen, Geld al­leine reicht nicht zum Leben. Was ist spaßig an der Malo­che, wo du die Überstunden nicht bezahlt kriegst und wo ständig Feierschichten geschoben werden, weil niemand echt zuständig ist, denn der Betrieb gehört dem Staat? Um diese Öde ein bisschen bunter zu gestalten, hamse die Stasi erfunden gehabt, und die hat dafür gesorgt, dass die Zeit schneller vergeht und ein großangelegtes Versteck- und Fangenspiel sozusagen breitensportmäßig die ganze Be­legschaft der DDR erfasst hat.«

»Wer war Otto Nuschke?« lallt Juni, sichtlich benusselt. Und ich, der ich’s gern höre, wenn Juni diese Frage stellt, aber auch stolz darauf bin, seine Neugier stillen zu kön­nen, ich packe nun mein Wissen aus:

»Ein Blockflötenmann der ersten Stunde. Von der CDU.«

»Stasi-belastet?«

»Was spielt das für ’ne Rolle?«

»’Ne Riesenrolle. Ich krieg das Doppelte für sein Stra­ßenschild, wenn er ein Schurke war.«

»Also, diese Aasgeierei«, sagt Schorschi angewidert, »die find ich tragisch.«

»Nicht, mit mir«, murmelt Chagdas, aber keiner ver­steht, was er damjt meint.

»Was Neues schaffen«, fährt Schorschi, zu Juni gewen­det, fort, »fällt jemand wie dir nicht ein. Immer nur alte Schüsseln aufpolieren, das würde mir auf Dauer nicht rei­chen als … als Perspektive. Und nun noch in die Abfallton­nen greifen.«

»Das siehst du ganzfalsch.« Juni fängt an, heftig mit dem Stuhl zu kippeln. »Neues Schaffen ist völlig abgesagt. Es gibt nämlich schon zu viel Neues auf der Welt. Zu viele Autos, zu viele neue Straßen samt Schildern und zu viele Schorschi Köhlers. Recycling ist das Gebot der Stunde.«

»Und wann recyceln die Türken mal wieder in ihre Hei­mat«, knirscht Schorschi, »und machen wieder Platz für unsereins?«

Das ist die Stunde des Wirts. Isaacs Stärke liegt in seiner amerikanischen Autorität, die da heißt: Leibesfülle und Sinn für Fairness. Er nimmt alle mit gewissen Obertönen ausgesprochenen Sätze in den Winkeln von »Bella« wahr und wirft sich ins Mittel, vom Tresen her. Er tut das immer mit Maß und mit einem Geschirrtuch in der Faust. Aus seinen Augen blitzt der Triumph des Dompteurs:

»Grrroße Worte nach 23 Uhr sind genehmigungspflich­tig, werrter Herr«, sagt er.

Wunderbarerweise durchdringt seine warme Stimme den Kneipenlärm. Juni erstickt seine Wut in einem Ki­cheranfall und quietscht mir zur Freude:

»Wer war bloß Otto Nuschke … wer war bloß dieses blö­de Otto-Nuschke-Schwein?«

Schorschi widmet sich seinem Bier. Damit keiner sieht, wie verzogen seine Mundwinkel sind und wie schwer es ihm fällt, sie wieder auf normal zu stellen, versenkt er die Lippen im Schaum. Eine Weile spricht niemand. Nicht mal Malte sagt was, aber er grinst. Da geht, mitten in das Schweigen der Runde hinein, die Kneipentüre sachte auf und, vom bellatypi­schen Halbdunkel und von den Rauchschwaden anfangs verhüllt, darin zu uns rüberwinkend, nickend und so doch erkennbar, tritt eine Gestalt ein, die niemand anders ist als unser aller Freund Veit, der gute, dem Krankenbett entronnen und der Versammlung. Mit seinem Schal um den Hals kommt er näher, Lachen, Krakeelen und Poltern auslösend, als man einen Stuhl sucht und den späten Gast angemessen begrüßt. Nun sind alle beisammen.

»Ich hab das Rumliegen nicht mehr ausgehalten«, sagt Veit, »hab mir gedacht: am besten hilft doch ein Cognac.« Er ruft Johanna seine Wünsche zu.

»Hier, wer Angst hat vor Ansteckung, soll sich das Zeug unter die Zunge träufeln.«

Jetzt stürzt sich Malte, angefeuert durch das Erscheinen Veits, dieses Parteigängers der Deutschen Demokrati­schen Republik, mit erneuerter Streitlust in seine Stasi-Tirade, aber er blitzt ab. Veit muss sich erst mal über das Wetter, die Viren und das Finanzamt auslassen und reibt sich ausgiebig die Hände. Juni mag sowieso nicht politisie­ren; er zieht Chagdas und mich in ein Palaver über Terrier und Miniröcke, und es bleibt für Malte nur Wenzel übrig, von dem er aber nicht ernstgenommen wird. Zumal Mecki mit Schorschi über die Promillegrenze zu streiten anfängt.

»He, Genosse«, stichelt Malte, der noch nicht aufgibt, in Veits Richtung, »warste auch’n Inoffizieller? Haste in der Normannenstraße Bescheid gesagt, wenn Isaac Junis Köter in die Küche gelassen hat zum Restefressen?«

»Ach leck mich«, knurrt Veit. Er führt aus, dass es vor allem die Asozialen, die Kriminellen und die Faulpelze ge­wesen seien, die sich gegen den Staat gestellt hätten und deshalb überwacht werden mussten, und das sei überall in der Welt so. Und dass er, Malte, bloß nicht so tun solle, als seien alle, die von der Stasi beschattet worden wären, selbstlose Freiheitskämpfer und verhinderte Reformer ge­wesen. Solche Leute gebe es erfahrungsgemäß in einer Bevölkerung höchstens zu zwei Prozent.

»Die sogenannten Opfer«, sagt Veit mit brechendem Organ, »haben genauso ’n Interesse daran, ihre Akten ver­schwinden zu lassen wie die sogenannten Täter. Leck mich am Arsch.«

Aber Malte hat keine Lust, sich zu wehren, jetzt, wo nicht mehr er es ist, der im Mittelpunkt steht. Er winkt Johanna zu, weil er zahlen will. Danach träufelt er sich schön langsam die Immuntropfen unter die Zunge und schielt dabei zu Johanna rüber, ob sie wohl Interesse an seinem geöffneten Mund zeigt. Wenzel legt mir seine Hand auf den Kopf und sagt vertraulich: »Warum biste rüber damals, hattste öffentlich zur Unzucht aufgerufen?«

Alle wissen hier, warum ich rüber bin, ich habe es mehr­fach erklärt. Aber ich erzähle es gerne noch mal, wenn die Mitternacht eingerückt ist.

»Ich bin rüber, weil das Mädchen, in das ich verliebt war, mich hat sitzen lassen. Zudem war mein Opa verstorben.«

»Is nich wahr«, flüstert Juni und bettet seinen Kopf an Chagdas’ Schulter. Er schließt langsam seine Augen, ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er an Kurt denken muss. Es ist Zeit aufzubrechen. Malte lehnt am Tresen und spricht mit Isaac über die Polizeistunde. Das ist die große Sorge der Berliner Gastwirte, dass jetzt, wo die Stadt sich normalisiert und mit der Mauer die importierten Straßen­namen, die Stasi und die Besatzungssoldaten verschwin­den, dass jetzt womöglich eine Sperrstunde eingeführt wird.

»Und wenn, dann interpretieren wir sie in unserm Sinn«, schmunzelt Isaac. »Wir sagen den Bullen: Polizei­stunde ist, wenn wir auf euer Wouhl anstoußen.«

»He Igor«, ruft Juni und wischt sich eine Träne aus ro­tem Auge. - »Wenzel hier besorgt mir ’n neuen Hund. Was meinste: nenne ich ihn Otto oder Nuschke?«

Die Mehrzahl am Tisch ist für Nuschke. Malte schlägt noch »Vöfreu« vor, als Abkürzung von »Völkerfreund­schaft«. Das ist uns denn doch zu weit hergeholt.

3. Kapitel
Dr. Sonja

Eins macht mir Sorgen: Wenn alle so sind wie wir, wie mei­ne Freunde und ich, wenn auch »die da oben«, die Ab­geordneten, Konzernchefs und Erzbischöfe, Persönlich­keiten, vor denen ich den Hut ziehe, weil sie sich bereit finden, nach dem Rechten zu sehen, wenn die letztlich doch genauso sind wie wir, wie Juni, Veit, ich und die an­deren, genauso darauf bedacht, oben zu schwimmen und die Lacher auf ihrer Seite zu haben, im Mittelpunkt zu stehen und fröhlich begrüßt zu werden, wenn dieses Nar­renverhalten normal ist, allgemein-menschliches Verhal­ten, uns Zweibeinern von unserer Natur aufgezwungen und allem höheren Streben zum Trotz unser Los, - dann, ja dann gute Nacht, Marie.

Mein Glaube aus der Zeit des Gräserpressens und Mün­zensammelns ist, dass es außer uns selbstvergessenen Kindsköpfen noch die Erwachsenen gibt, die wissen, wo es lang geht und wie man richtig lebt. Selber erwachsen werden, heißt diesen Glauben verlieren und mit Entset­zen der Wahrheit in ihr Teufelsauge blicken: Auch die Großen spielen bloß, niemand ist nüchtern geblieben und passt auf die Schar der Rangen auf. Erwachsen werden heißt, alsdann vor lauter Schreck ein bisschen weniger übermütig sein, ein bisschen verständnisvoller und vorausschauender. Was mich betrifft, so ist mir dieser Schritt noch nicht geglückt. Immer hoffe ich insgeheim, dass der Bezirksbürgermeister, der Konsistorialpräsident und der Aufsichtsratsvorsitzende Leute sind, die wissen, was sie tun, und sich nie von so eitlen, unernsten und fallweise regelrecht niederträchtigen Motiven leiten lassen wie zum Beispiel die »Bella«-Gäste, selbstverständlich auch ich und alle meine Menschenfische, die da durch das Häusermeer schwimmen, ohne mir zu sagen, was sie treiben. Aber ich ahne es: Es ist Malte gar nicht darum zu tun, herauszufin­den, wie er und andere sich wirklich zu den Stasi-Gräueln stellen sollen, denn er will nur, dass die Runde über seinen Fez lacht und dass Johanna es hört, auf die er ein Auge geworfen hat. Es ist Veit gar nicht darum zu tun, den neuen Bundesländern mit seiner Fürsprache beizuspringen, er will nur recht behalten, weil er in der SEW gewesen ist oder wenigstens nah dran. Juni ist ehrlicher, er gibt keine großen Ziele vor; aber was würde aus der Menschheit wer­den, wenn sich alle so unbekümmert um das Allgemein­wohl zeigten wie er? Da ziehen wir über den Berliner Se­nat her und sollten froh sein, dass es Menschen gibt, die es in der Politik aushalten, weil sonst diese Stadt, übervoll mit Bälgern wie Wenzel, Juni und Marenge, führungslos durch die Geschichte donnert wie »Igor Eins« durch das Sonnensystem.

»Du bist mir ein schöner Anarchist«, spottet Sonja, wenn ich ihr solche Gedanken vortrage. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein echter Anarchist sich solche Sor­gen um das Allgemeinwohl macht.«

»Meine Sorgen um das Allgemeinwohl sind bloß ge­spielt. Ich äußere sie, um dir zu imponieren.«

»Da wüsst ich was Besseres.«

Es stimmt gar nicht, dass ich diese besonderen Sorgen vorschütze, um Sonja zu imponieren. Ich hege sie wirklich. Um Sonja zu imponieren, behaupte ich, sie seien gespielt. Bin ich doch auch nicht anders als der Rest der Welt - der ja nur eins im Sinn hat: Sonja zu imponieren. Oder sonst einer Frau.

»Was jeder Mensch im innersten Herzen wünscht, ist, im Mittelpunkt zu stehen«, erkläre ich. - »Jeder einzelne. Immerzu. Leider gibt es nicht so viele Mittelpunkte wie Individuen. Das ist schon rechnerisch ausgeschlossen.«

An solchen Stellen wird Sonja hellwach und sieht mich aus ihren königsblauen Augen mit gefährlicher Aufmerk­samkeit an. Um ihre Stirn legt sich eine Wolke aus profes­sionellen Vorbehalten. Sie lässt nichts durchgehen, was nur Vermutung oder Vorurteil wäre, sie sucht nach den wahren Beweggründen. Da sie eine studierte Sozialarbeiterin ist, die psychologische Vorlesungen gehört hat, verfügt sie über das Rüstzeug, mit dem sie Wunschdenken und Ein­bildung aus ihrem Urteil vertreibt wie Maulwürfe aus ih­rem Laubengarten.

»Die meisten Menschen fühlen sich ganz wohl außer­halb des Mittelpunkts«, bemerkt sie mit frischer Entschie­denheit. »Sie schauen lieber zu, wie andere sich abstram­peln.«

Man sollte denken, dass Sonja es wissen muss. Ihr Arbeit­geber ist die Evangelische Kirche, ihre Klientel sind Alko­holiker. In der Kirche gibt es nur Einen (groß?), der im Mittel­punkt steht, der Rest ist Herde. In den Gruppen, die Sonja betreut, steht sie im Mittelpunkt, die anderen sitzen be­schickert um sie herum. Ich aber bin davon überzeugt, dass die schwindende Popularität der Kirchen an der Aus­schließlichkeit hängt, mit der sie, die Kirchen, den Ge­kreuzigten und seine irdischen Vertreter in den Mittel­punkt stellen. Wie überhaupt die Abdankung autoritärer Systeme, seien sie geistlicher oder weltlicher Herkunft, darauf zurückzuführen ist, dass sie zu wenig Mittelpunkte anbieten. Die Demokratie ist da überlegen: Sie zollt der Eitelkeit der Menschen klugen Tribut. Und was den Alko­hol betrifft: Warum wohl greift Hans-Walter Balthasar, Sonjas problematischster Klient, zur Flasche, wenn nicht, um sich im Rausch erhaben über die Welt zu fühlen?

Sonja aber neigt einem Theorem zu, das ganz andere Zusammenhänge herstellt, und wer weiß, vielleicht ist sie im Recht.

»Hans-Walter Balthasar«, erläutert sie, »wurde als Kleinkind von seiner Mutter ans Gitterbett gefesselt und stundenlang in seinen eigenen Ausscheidungen liegen ge­lassen.«

Kaum ist diese Fülle menschlichen Leids vor meinem inneren Auge erstanden, verstumme ich und schiele vor Betretenheit. Dabei ticken mir die Schläfen. Niemals aber reicht mein Mitgefühl aus, um den Zweifel an Sonjas zen­traler These wegzuschwemmen: dass wir Menschentiere aus der Bahn geraten, weil uns die Liebe fehlt. Daran glau­be ich nicht. Ich glaube, dass wir auf Liebe verzichten kön­nen, bloß auf Bedeutung nicht. Doch die wird uns keines­wegs nur von liebenden Mitmenschen zuerkannt, auch und erst recht von hassenden und angsterfüllten.

»Die Menschen wollen oben schwimmen«, behaupte ich, »sie wollen hervortreten und beachtet werden. Ob mit liebenden Augen oder nicht, ist ihnen piepegal.«

»Die moderne Psychologie«, pflegt Sonja Kontroversen dieser Art zu schließen, »ist sich über vieles uneins, nicht aber über die Bedeutung affektiver Zuwendung für die Individuation. Um es einem Laien wie dir zu verklickern, mein Freund: Wer Liebe gefunden hat, ist am Ziel seiner Wünsche und wird weder Verbrecher noch Säufer. Wenig­stens nicht im statistischen Durchschnitt.«

Wie sollte ich widersprechen. Bin ich doch immer sonn­abends der glücklichste Laie von ganz Lichterfelde, lagernd auf der Couch in Sonjas edlem Wohnzimmer, eine Teetasse zwischen den Händen und eine Frau im Blick, die Frau meines Herzens, die sich zu schaffen macht: an ihrem Zopf, an der Teekanne, an ihrem samtenen Hausmantel­kragen und an meinem Ohr. Die Statistik sprach gegen meine Chance, die affektive Zuwendung einer so reizen­den Braut zu gewinnen, und sie warnt mich noch heute, wenn ich mich verführt fühle, es mir auf ihrer Couch und in ihrem warmen Arm allzu bequem zu machen: Los, Igor, steh auf und sammle ein paar Pluspunkte, sonst verlierst du dieses Mädchen mit dem tollen Körperbau.

Indessen: Ist es der spöttische Blick aus Sonjas klaren Au­gen, ist es ihr volles Herz, das sie mir zum Geschenk macht, ihre abgöttisch von mir und tja, auch vom Rest der Männerwelt verehrte Figur, sind es diese Gaben, die mich davor bewahren, kriminell zu werden oder nicht vielmehr der schlichte Fakt, dass ich mir vom geraden Weg weit mehr verspreche? Warum ich kein Alkoholiker geworden bin, kann ich plausibel begründen: Ich vertrage das Zeug nicht. Leider Gottes. Juni dabei zuzusehen, wie er abhebt, nachdem er eine gewisse Anzahl seiner heißen Mix-Drinks intus hat, Malte zu lauschen, wie er nach dem fünf­ten Halben vollends mit der Welt zerfällt - das weckt in mir die Vorstellung einer brodelnden Erlebnistiefe, in die ich gern mal selbst hinunterstürzen würde. Aber ich bin dazu nicht fähig. Das erste Bier tut mir wohl. Das zweite bekommt mir durchaus. Das dritte aber weckt, schon nach dem ersten Schluck, einen milden Protest meiner Magennerven nach den letzten Schlucken Brechreiz, und es fan­gen sogar meine Papillen an, giftige Bitternis zu melden. Ich muss abbrechen und mich im Ausscheidungskampf um die vertiefte Weltbegegnung selbst disqualifizieren. Von schärferen Sachen gar nicht zu reden. Einzig Veits Rum­topf schmeckt und bekommt mir so gut, dass ich ein ganzes Glas davon wegdrücke. Mehr aber nicht.

»dass du kein Alkoholiker geworden bist«, lächelt Son­ja, »hat mit deinen Magennerven nichts zu tun. Es liegt daran, dass deine Mutter dich geliebt hat. Und dass dein Großvater immer für dich da war.«

Obwohl ich anderer Ansicht bin, weil ich zum Beispiel weiß, dass mein Schulfreund Sebastian, der mit 19 dem Wodka verfallen war, eine sehr zärtliche Mutter hatte, er­hebe ich keinen Einspruch sondern benutze die Gelegen­heit, von einer akuten leichten Entzugserscheinung in Sa­chen Liebe zu schwatzen und Sonja in' ihrem samtenen Hausmantel zu mir auf’s Sofa zu hieven. Denn die Liebe, die muss immer neu gezapft und nachgeschenkt werden, damit der Mensch nicht stehlen und betrügen geht und nicht im Suff verkommt. Und sie, die Liebe, ist ein Ding an sich mit Sonja.

Meine Verlobte ist eine Frau, deren Anblick überwäl­tigt, wenn man sie von hinten sieht. Kein Liebhaber wird es je ertragen, von Sonja verlassen zu werden - im Wortsinn: dass sie sich umdreht und hinaus schreitet aus dem Leben dieses Unglücklichen und dabei womöglich noch nackt ist. Was mag bloß in ihren Klienten vorgehen, wenn die The­rapeutin während der Sitzung herausgerufen wird, sich vom Drehstuhl erhebt und aus dem Raum spaziert? Wer ihr jetzt mit den Blicken folgt, sieht sie unweigerlich von hinten. Zwar neigt sie zu überlangen Pullovern und weiten Jacken, aber auch die verbergen nicht alles, nein, kein Tex­til kann gänzlich jenes Teil verhüllen, das meiner Sonja ein angeheiteter Schöpfergott in bester Geberlaune drauf­ packte: den größten und formschönsten Arsch des Jahr­hunderts. Wie war das, Helmut Amrehn, - so hieß der Typ, den Sonja sitzen ließ, als wir uns verliebten - wie war das, als Sonja Katharina Rudolph, die kleine Zopfträgerin aus Lichter­felde, die gescheiteste und ehrgeizigste Diplomandin ih­res Jahrgangs, die dich sowieso leistungsmäßig in die Ta­sche steckte, wie war das, als sie dir die Liaison gekündigt und sich umgedreht und ihren gelungenen Leib aus deiner Tür geschoben hat - hast du da noch Luft gekriegt? Hast du auch nur ein Wort herausgebracht? Und hast du nicht, als es längst zu spät war, ein elendes: Nein! hervorgestoßen und bist dann für immer verzweifelt? Warum bloß, denkst du heute, vergesse ich die Zicke nicht? Ich kann es dir sagen: Du hast sie von hinten gesehen. Das Bild wird dir bleiben.

Oben ihr Kindernacken, aus dessen allerliebster Mittel­kuhle ein brauner Zopf zum Oberkopf hinaufsteigt, darun­ter die zierlichen Schultern, zwischen denen die Wirbel­kette auf die schmale Taille zuläuft; unten zwei kräftige Beine mit rosa Kniekehlen. Und zwischendrin, prangend in autoritativer Wucht und vollkommener doppelter Bal­lung, der mächtige Arsch.

O nein, er zieht den Körper nicht in träger Massivität nach unten, er bebaut und schmückt ihn durch zwei Kup­peln, die sich triumphal in den Raum erstrecken und dabei keine Himmelsrichtung auslassen. Niemand, der Sonja, ein heiteres, vernünftiges, schnellsprechendes Mädchen mit träumerischen Augen, zum ersten Mal und von vorn erblickt, vermutet einen solchen Schatz in den Tiefen ih­rer Kledage. Hat sie abgelegt und bewegt sich unter ihren Jeans oder Hosenröcken mit charakteristischer Taumeligkeit, die durch das rückwärtige Übergewicht bedingt ist, so ahnt man einiges. Dennoch bleibt einem die Spucke weg, wenn man sie erstmals nackt sieht.

»Wie ist das eigentlich«, - erkundigte ich mich neulich vorsichtig, »wenn während der gruppentherapeutischen Sitzungen das Telefon klingelt? musst du dann unterbre­chen? Rennst du hinaus ins Vorzimmer und ….«

»Wo denkst du hin? Während der Sitzungen ist das Te­lefon so leise gestellt, dass wir es im Gruppenraum nicht hören, und draußen im Vorzimmer geht Dagmar ran und sagt: ›Frau Rudolph ist erst ab 14 Uhr wieder zu sprechen.‹ Gut, was?«

Natürlich beruhigt mich eine solche Auskunft nicht. Wie auch. Selbstverständlich sehen Sonjas Klienten sie von hinten, auch wenn die Gute während der Beratungen auf ihrem Stuhl festgenagelt säße. Es geschieht nun mal, dass eine Frau ihren Mitmenschen den Rücken zukehrt, ständig kommt das vor, und dass auch sie, meine Sonja, ihre Rücken- und Popartie zur Draufsicht freigibt, damit muss ich mich abfinden. Ganz wie sie sich damit abfinden muss, dass mir mal eine andre Frau gefällt, zumal es bereits pas­siert ist. Was würde Sonja tun, wenn sie es wüsste? Mir eine Therapie empfehlen? Mir eine kleben? Es mir heimzahlen mit Hans-Walter Balthasar?

Vorderhand ahnt sie nicht mehr als Frau Rosinski selbst und kommt um drei zu einem guten Zweck: um mir beim Fensterputzen zu helfen.

Manchmal klingelt auch mein Telefon. Es klingelt gehor­sam und stetig, ohne je eine Persönlichkeit, die Igor Ma­renge sprechen möchte, mit schnarrender Tonbandstim­me anzuöden. Als Ex-DDR-Bürger empfinde ich noch in meinem neunten Westjahr eine heimliche Freude, wenn mich das vielversprechende Schrillen aus häuslichen Be­schäftigungen reißt; ich lasse alles stehen und liegen, selbst ein Spiegelei mit Speck, und hechte an den Apparat.

Damals, zuhause in Friedrichshain, hatten wir kein Te­lefon. Wer eins hatte, galt der Protektion durch Bonzen oder der 150 Prozentigkeit verdächtig; also war der anstän­dige Mensch gar nicht auf ein Telefon aus und lebte mit überraschenden Besuchen.

Was mich am Westen auf Anhieb überzeugte, war, dass ich junger Taugenichts, ich ungelernter Frauenjäger, ich bloß präsumtiver Student der Altphilologie, ein Telefon beanspruchen konnte, ohne auch nur den Schatten eines Vorwurfs auf mich zu ziehen. Inbrünstig liebte ich meinen Apparat, den mir ein sympathischer Monteur der Post an einem schönen Märztag installierte. Leider schwieg das grüne Ding für’s erste hartnäckig, bis schließlich Veit den Bann brach. Er war damals gerade aus seiner Buchhand­lung geflogen, was er mir aber nicht gleich gestand, und hielt sich mit dem Schreiben kleinerer Artikel für ein Stadtteilblatt über Wasser.

»Hier Veit Prause. Weißt du noch? Wir ham vor’n paar Wochen bei mir zuhause Rumtopf …«

»Au Mensch, ach ja, wie geht es?«

»Bestens. Ich möcht gern ’n kleines Gespräch mit dir führen, über deine Ausreise aus der DDR, dass du als An­archist persona non grata warst. Ich könnte das beruflich gebrauchen, für ’n Zeitungsartikel. Wie isses: Machst du mit?«

»Klar, Mensch.«

»Also dann, ich schlage vor, wir treffen uns heute Abend um 18 Uhr inner Kneipe. Du gehst die Turmstraße runter bis Ecke Kögelstraße …«

So kam ich zu Bella. Isaac traktierte seinen Tresen mit einem blauweißgewürfelten Putztuch und nickte mir, nachdem er Veit durch ein Hallo! gegrüßt hatte, zweimal freundlich zu. Die Westwelt hatte sich mir aufgetan. Man mochte mich, man traf sich mit mir, man hörte meiner Ge­schichte zu. Ich orderte mein erstes Bella-Pils.

Jetzt ist es der Fensterputzeimer, den ich stehen und liegen lassen muss, um rauszufinden, wer was von Igor Marenge will. Ob Sonja absagt? Nein, es ist Wenzel. Ich hätte doch bestimmt Lust, dabei zu sein, wenn Juni seinen Nuschke kriegt; er, Wenzel, würde mich mit dem Wagen abholen, nachdem er das Tier vom Nachbarn eines Kolle­gen in Empfang genommen habe. Nun, ich persönlich ma­che mir nicht viel aus Kötern, aber vielleicht hätte Sonja Spaß daran, und außerdem, bei Juni einzufallen, das lohnt sich immer. Also bis später.

Ob ich Loreley anrufe und versuche, ihr erst mal telefo­nisch näherzukommen? Leider gibt es etliche Rosinskis in Berlin. Und da ich hoffe, dass meine körperliche Erschei­nung einen gewissen Eindruck auf sie machen wird, da ich diesen Trumpf nicht aus der Hand geben will, zögere ich mit einem Rundruf unter Berlins Rosinskis. Ferner siedele ich die Blonde nun mal im Osten an, und eine Supermarkt­kassiererin vom Prenzlauer Berg hat kein Telefon.

Wenn Sonja nicht kommt, sage ich vor mich hin, wenn sie unsere Verabredung vergessen hat, soll es ein böses Omen sein. Kommt sie aber, dann soll es bedeuten, dass sie mich immer noch liebt.

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