Kitabı oku: «On Ecstasy»

Yazı tipi:

Barrie Kosky

On Ecstasy

Aus dem Englischen von

Ulrich Lenz


Barrie Kosky

On Ecstasy

© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Theater der Zeit

First published in 2008 by Melbourne University Publishing Copyright © Barrie Kosky 2008

Published in Australia and New Zealand in 2020 by Hachette Australia

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Übersetzung: Ulrich Lenz

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Gestaltung: Gudrun Hommers

ISBN 978-3-95749-342-2 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95749-351-4 (ePDF)

ISBN 978-3-95749-352-1 (EPUB)

Für meine Großmütter, Leah und Magda. They don’t make them like that anymore.

Inhalt

Ekstase

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

More ecstasy

Über den Autor

Ekstase

gesteigerte Freude oder Vergnügen

ein emotionaler Zustand von solcher Intensität, dass der Mensch seiner Vernunft und Selbstkontrolle beraubt ist

mit mystischer oder prophetischer Begeisterung in Verbindung stehendes Gefühl von Trance, Rausch oder Verzückung

vom kirchenlateinischen ecstasis entlehnt, das auf griechisch ἔκστασις(ékstasis) „Außersichgeraten, Verzückung“ zurückgeht, von ἐξ-ίστασθαι (ex-hístasthai) „aus sich heraustreten, außer sich sein“

Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.

Franz Kafka

I

Im Anfang war kein Geruch. Sie schnitt einfach die Möhren, Zwiebeln, Pastinaken und den Sellerie in Stücke und warf sie über das rohe Huhn. Ich mochte dieses rohe Huhn nicht, wie es da tot und bewegungslos in diesem großen Kochtopf saß. Ich mochte es nicht. Ich vertraute ihm nicht. Ich war immer froh, wenn das Gemüse dazugeworfen und das Wasser über den Vogel gegossen wurde, um ihn für alle Ewigkeit zu ertränken. Es gab nichts zu riechen und nichts zu schmecken. Ich hatte zu warten. Volle 24 Stunden des Wartens, Wartens, Wartens.

Jeder ernst zu nehmende Hühnersuppen-Kenner wird Ihnen sagen, dass das Hühnersuppenritual in drei klar voneinander abgegrenzte Abschnitte geteilt ist: Vorbereitung – Erwartung – Verzehr. Jedes siebenjährige jüdische Kind wird Ihnen sagen, dass Vorbereitung und Erwartung ärgerliche, quälende Hindernisse auf dem Weg zum Verzehr sind. – Ist sie schon fertig? – Dieser große Kochtopf mit dem großen Deckel, in dem der seltsame Sud aus dicken Gemüseschnitzen und totem Huhn kochte. – Ist sie schon fertig? – Der Dampf, der unter dem Deckel hervorquoll, als ob mein Onkel Sol darunter säße und von dort seinen Zigarrenrauch hervorbliese. – Ist sie schon fertig? – Finger weg! Mit einem Klaps schlug meine Großmutter meine Pfoten weg vom Herd.

Meine polnische Großmutter machte eine Hühnersuppe, die mit keiner anderen Hühnersuppe vergleichbar war. Bis zum heutigen Tag ist mir keine bessere in den Teller gekommen. Sie machte eine Gehackte Leber, die in deinem Mund dahinschmolz. Sie machte Gefilte Fisch, die dir noch tagelang auf der Zunge hüpften. Sie machte einen Schokoladenkuchen, wie er in der westlichen Küche nie wieder zu schmecken sein wird. Aber ihre Hühnersuppe übertraf sogar noch all die Superlative dieser Kreationen. Ihre Hühnersuppe war der Caravaggio der Suppen. Der Rainer Maria Rilke der Suppen. Der Arturo Benedetti Michelangeli der Suppen.

Aber so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch weit, sehr weit vom Verzehr entfernt. Als ob ich es nicht gewusst hätte! Nach vielen Stunden neigte meine Großmutter den Kochtopf über eine große Glasschüssel und goss die Flüssigkeit hinein. Und was für eine Flüssigkeit, oh, was für eine Flüssigkeit! Gold! Wie Howard Carter es erahnte, als er wunderbare Dinge durch das Loch in Tutanchamuns Grabmal sah. Gold! Wie die Räder unter dem Bechstein-Flügel meines Großvaters, wo ich immer hockte und versuchte, das Gold abzureiben, damit es an meinen Händen kleben bliebe. Gold! Wie das Kästchen auf dem Kaminsims meiner ungarischen Großmutter, in dem die Bridge-Karten darauf warteten, dass die Damen ihren Lunch beenden würden. Es war ein Nil, ein Amazonas, ein Euphrat aus flüssigem Himmelsgold. Aber es war noch nicht meines.

Die Kühlschranktür fiel zu und mir wurde wie immer gesagt, dass ich die Suppe nicht stören solle, damit sie schlafen könne. Eine schlafende Suppe! Ab und zu wollte ich einen Blick erhaschen, um zu sehen, ob es irgendeine Veränderung in der Schüssel gab. Ich war immer wieder aufs Neue erschüttert, wenn ich feststellen musste, dass sich die zuvor glänzende goldene Flüssigkeit am nächsten Tag in eine dunkle glibberige Pampe verwandelt hatte. Wie konnte etwas, das so unglaublich roch und so umwerfend aussah, nur 24 Stunden später als übler brauner Glibber enden? Das wollte mir einfach nicht einleuchten.

Was mir jedoch einleuchtete, war der Beginn von Teil drei des Rituals: der Verzehr. Wenn ich ein guter Junge gewesen war, meine Hausaufgaben brav gemacht, Klavier geübt und meine Hände gewaschen hatte, ließ mich meine Großmutter vorsichtig das erstarrte weiße Fett von der Oberfläche der Suppe abkratzen. Ich liebte diesen Teil. Mit dem Geschick, der Geduld und der Fingerfertigkeit eines plastischen Chirurgen trug ich die dicke Lage Fett mit einem Holzlöffel ab, vorsichtig darauf achtgebend, dass ich nicht die Haut der dunklen Pampe darunter verletzte.

Meine Großmutter schöpfte die braune Brühe in einen Kochtopf und schickte mich aus der Küche. – Sitzen. – Warten. – Es war unerträglich. Ich wollte schreien. Manchmal tat ich es. Wie beim berühmten Hühnersuppen-Wutanfall des Jahres 1977. – Ist sie schon fertig? – Und da endlich erschien sie, vor meinen Augen: die Hühnersuppe.

Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe in meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe, metaphysische Verzückung. Der zweite Löffel … pures Glück. Der dritte Löffel … kosmische Glückseligkeit. Der Hühnersuppenraum am Ende von Kubricks 2001. Eine Suppe, die dich an den Anfang und das Ende aller Zeiten katapultierte. Eine glänzende, reine, klare Rhapsodie in Gold.

Ein kleiner Junge mit braunem Cowboyhut hüpft einen steilen, trockenen Abhang hinunter. Er spielt auf einer silbernen Flöte. Der kleine Junge heißt Jimmy. Die silberne Flöte heißt Freddy. Auch die Flöte kann sprechen. Jimmy und Freddy springen in ein großes, schönes, in hellen Farben bemaltes Boot und segeln über das glitzernde Wasser davon.

Es ist vier Uhr nachmittags. Ein kalter, unwirtlicher Nachmittag in einem Vorort von Melbourne. Es ist das Jahr 1974. Ich bin sieben Jahre alt und sitze auf dem braunen Flokati-Teppich in unserem Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sitze dort, wie ich es seit Wochen tue, jeden Tag pünktlich um 16 Uhr. Um genau zu sein: um 15.52 Uhr. Nur um ganz sicher zu sein. Um es auf keinen Fall zu verpassen. Ich konnte es gar nicht verpassen. Ich hätte es niemals verpasst. Darauf hatte ich ja den ganzen Tag gewartet. Es war der Höhepunkt des Tages: Jack Wilds nasse Jeans im Vorspann der amerikanischen Kinderserie H. R. Pufnstuf.

Sie waren nass. Sehr nass. Und sie waren eng. Sehr eng. Ich erinnere mich an zwei unterschiedliche Bilder: das erste, wie er bewegungslos am sandigen Flussufer auf dem Bauch liegt, mit diesen engen, nassen Jeans noch halb im Wasser; das zweite, wie er wieder auf die Beine gestellt wird von H. R. Pufnstuf, dem Bürgermeister von Living Island, und seinen beiden zwergenhaften Rettungsrangern Kling und Klang. Jack Wild schüttelt das Wasser aus seinem dichten schwarzen Haar, und seine Kleider kleben ihm am Körper. Nass und eng.

Jack Wild war 17, als er die Serie drehte, aber er sah wesentlich jünger aus. Ich war verrückt nach dieser Sendung. Verrückt nach den Farben der Kulissen und der fremdartigen Kostüme, verrückt nach der wilden, fetzigen, zum Mitwippen animierenden Musik, verrückt nach all diesen singenden und tanzenden Häusern, Bäumen, Tieren und Uhren, die darin vorkamen. Aber da rührte sich noch etwas anderes, wenn diese dunklen, nassen Jeans über den Bildschirm flimmerten. Eine andere Empfindung. Eine seltsame, neue Empfindung. Es machte mir Angst, dieses Gefühl. Es brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich fühlte es nur, wenn ich sah, wie die nassen Jeans an seinen Beinen und an seinem Po klebten. Ich saß da im Schneidersitz, ein Brille tragender, sieben Jahre alter Junge in Schuluniform, hielt den Atem an und sank mit einem Gefühl von pochender, wohliger Übelkeit in den Flokati.

Ich mochte Jack Wild nicht. Ich mochte seine nassen Jeans, aber ihn mochte ich nicht. Er war nervig, doof und anstrengend. Wie einer dieser nervigen, doofen und anstrengenden Jungs aus der Schule. Bedeutungslos. Ich verstand ihn nicht. Nach dem Vorspann langweilte er mich. Absolut niemals gelangweilt war ich hingegen von der Hexe Witchiepoo. Ich liebte Witchiepoo. Ich liebte alles an ihr: ihren märchenhaften fliegenden Besen, ihr märchenhaftes Vaudeville-Make-up, ihre märchenhaften roten Haare, ihre märchenhaften bunten Strümpfe, ihre märchenhafte falsche Nase und ihre märchenhaften albernen Schergen, Orson und Seymour. Warum hatte ich keine Freunde wie sie?

Ich liebte Witchiepoo, ich wollte Witchiepoo sein. Ich wollte meinen Zauberstab zücken und Leute verschwinden lassen. Ich wollte eine große rote Sonnenbrille tragen und „Orangen, Porangen – wer sagt, es gäb keinen Reim für Orangen“ singen. Ich wollte in einem verfallenen gotischen Palast leben und Leute durch ein großes silbernes Teleskop beobachten. Nein, vergiss Jack Wild und seine strammen, nassen Pobacken, ich wollte üppige rote Haare haben, singen und tanzen und auf einem Besen fliegen.

Ich hatte kein Problem damit, meine Liebe zu Witchiepoo mit meiner seltsamen Sehnsucht nach Jacks Jeans zu verbinden. Es schien ein natürlicher Teil meines dreißigminütigen Nachmittagsrituals zu sein. Der Flokati war mein magischer Teppich, und für eine halbe Stunde schwebte ich in einem Paralleluniversum. Gnade ihnen Gott, wenn mein Bruder oder meine Schwester mich unterbrachen. Es war mein Ritual, und das lange, bevor es so etwas wie Videorekorder gab. Wenn ich den entscheidenden Augenblick verpasste, hatte ich den entscheidenden Augenblick verpasst. Aber ich verpasste ihn nie. All diese Bilder vor meinen Augen zu sehen, zu beobachten, wie sie sich auflösten, teilten, ineinander übergingen, verflogen und sich vervielfachten, war mit keinem anderen zuvor erlebten Gefühl vergleichbar. Alle anderen Erfahrungen wurden daran gemessen.

Jacks nasse Jeans raubten mir den Atem. Witchiepoo machte mich beschwingt. Dann, um 16.30 Uhr: totale Traurigkeit. Alles vorbei bis zum nächsten Tag. Nach der Sendung drückte ich mich im Haus herum. Unfähig, mich zu konzentrieren. Unfähig, die eigene Freude oder Traurigkeit begreifen zu können. Aus dieser Lethargie konnte ich mich nur mit dem schrillen Schrei der Aufregung befreien, der durch meinen Körper ging, wenn ich an morgen dachte. Ja, morgen! Morgen um vier Uhr! Nasse Jeans und große Nasen aufs Neue.

Etwa um dieselbe Zeit, als Jack, Witchiepoo und die Hühnersuppe in mein Leben traten, kam meine ungarische Großmutter mit einem Stapel Schallplatten zu mir. Ich war etwas verwirrt und unsicher, was ich davon halten sollte. Meine eigenen Platten hatten neue, glänzende Hüllen mit Stofftieren oder Zeichentrickfiguren darauf. Die Schallplatten meiner Großmutter aber waren alt und fleckig. Die Hüllen waren hellgelb und zeigten eine seltsam aussehende, mich anstarrende Frau.

Meine Großmutter erklärte mir, sie wünsche sich, dass ich mir diese Platten anhöre. Denn in ein paar Monaten würde sie mich zu etwas ganz Besonderem mitnehmen. Wohin? – Wart ab. Was? – Hör dir einfach die Musik an. Warum? – Weil du dich vorbereiten musst.

Mich vorbereiten? Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber ich rannte zum Plattenspieler und legte eine der Platten auf. Die ertönende Kakophonie ließ mich zusammenzucken. Die Platte war zerkratzt und die Musik knisterte und knackte durch die Lautsprecher. Ich nahm sie herunter und legte eine andere auf. Noch mehr Kakophonie. Noch mehr Kratzer. Noch mehr Knistern und Knacken. Dieses Mal sangen viele Stimmen zusammen. Das war zu viel für mich. Ich nahm die Platte herunter und versuchte es mit einer dritten, wobei ich erneut Kratzen und Knistern und Knacken erwartete. Doch dieses Mal wurde ich überrascht. Eine sanfte, hohe Stimme. Ein Klang, den ich noch nie zuvor gehört hatte. Die Stimme war eigenartig. Sie schwebte durch die Luft und schnitt doch auch gleichzeitig durch sie hindurch. Schnitt sie in Scheiben. Stieg höher und höher, und plötzlich, ohne jede Warnung, sank sie nach unten und wurde dunkler, tiefer und unheimlich.

Ein Mann versuchte einzustimmen, aber das mochte ich nicht. Ich wollte wieder die Stimme der Frau hören. Und ich wollte sie alleine, ohne das blökende Schaf. Ich setzte die Nadel zurück an den Anfang der Platte, wo ich zuerst die Stimme der Frau gehört hatte. Und ich lauschte erneut. Nadel hoch. Nadel aufsetzen. Und noch einmal. Nadel hoch. Nadel aufsetzen. Und noch einmal. Wer war die Frau? Warum sang sie so? Und warum streichelte ihre Stimme meine Haut, drang in meinen Körper und wirbelte in meinem Magen herum? Und worüber sang sie? Und warum klang sie so traurig? Und warum mochte ich das?

Meine Großmutter erklärte mir das Geheimnis. Die Platten hießen Madama Butterfly, die Sängerin sei eine Frau namens Renata Tebaldi, und das sei die Aufnahme von etwas, das wir in ein paar Monaten sehen würden. Ich hatte es immer noch nicht verstanden. Wie konnten wir sehen, was sie sang?

In den nächsten Monaten hörte ich mir immer wieder diese Madama Butterfly an. Ich wusste nichts von der Geschichte, den Charakteren oder dem Text der Oper. Ich mochte es nicht, wenn alle durcheinandersangen, ich hasste es, wenn die Männer sangen, und ich langweilte mich wahnsinnig, wenn nur das Orchester spielte. Aber wenn die Frau mit der hohen Stimme sang, war ich wie versteinert. Ich versuchte weiterhin, die seltsam aussehende Frau auf der Plattenhülle mit der Stimme in Verbindung zu bringen. Es war kein Bild einer Aufführung oder etwa die Fotografie einer Sängerin. Es war eine nüchterne geometrische Zeichnung einer japanischen Frau. Meine Großmutter sagte mir, sie heiße Madame Butterfly. Aber für mich sah sie überhaupt nicht aus wie ein Schmetterling, und außerdem schien sie nichts zu tun zu haben mit der Stimme, die das Wohnzimmer erfüllte. Ich spielte es immer lauter und lauter ab. Ich ließ es schneller laufen, sodass sie wie Micky Maus klang. Ich ließ es langsamer laufen, sodass sie wie ein alter Mann klang. Aber am meisten mochte ich sie, wenn ich es mit normaler Geschwindigkeit laufen ließ. Wer war diese seltsame und wundervolle Madame Butterfly? Und wann würden wir sie treffen?

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9783957493521
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