Kitabı oku: «Durst»

Yazı tipi:

BEAT PORTMANN

DURST

Roman


Es begann damit, dass mich mein Verleger bei einem Mittagessen aufforderte, mal etwas Spannendes, Unterhaltsames zu schreiben – «einen Krimi oder so öppis». Ich musste ihn auf eine Weise angeschaut haben, dass er sich genötigt sah hinzuzufügen: «Ich will damit ja nicht sagen, deine bisherigen Erzählungen seien langweilig.» Aber im Grunde genommen war es genau das, was er damit sagen wollte.

Mein Verleger war noch nicht sehr lang im Literaturbetrieb. Welcher Tätigkeit er zuvor nachgegangen war, hatte mich nie wirklich interessiert. Er liess mal durchblicken, mit Immobilien gehandelt zu haben, was ihm aber auf die Dauer verleidet sei. In der Zeit musste er ein kleines Vermögen angehäuft haben.

Guido Brechbühl war nicht gerade der Typ Mensch, den man mit Büchern in Verbindung gebracht hätte. Von seiner Statur her, gross und kräftig, hätte er sich gut in einer Sicherheitsfirma gemacht. Er war Mitte vierzig, immer braungebrannt und hatte eine närrische Freude an goldenen Gegenständen. Um den Hals und am rechten Armgelenk trug er eine solche Kette, seine Uhr war vergoldet und das Feuerzeug, mit dem er mir die Zigarette ansteckte. Er interessierte sich für den Segelsport, kostspielige Autos und die Raumfahrt. In seiner Freizeit spielte er Tennis und ging mit Freunden in der Karibik segeln. Wobei Freizeit in Bezug auf Brechbühl, der in erster Linie andere für sich arbeiten liess, vielleicht nicht das richtige Wort ist. Sein Verlag brachte im Jahr an die fünfzehn Bücher heraus. Dafür sorgte der Verlagsleiter, eine Produktionsleiterin, die zugleich für das Layout zuständig war, und eine Handvoll externer Lektoren. Um die Buchhaltung kümmerte sich Brechbühls Treuhänder.

Ich hatte Brechbühl noch nie mit einem Buch gesehen, auch Zeitungen rührte er nicht an. Stattdessen war er mit der Tastatur seines Mobiltelefons beschäftigt, als ich mit viertelstündiger Verspätung das vereinbarte Restaurant betrat. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er die Werke, die er herausgab, je las.

Seine Bekanntschaft war alles andere als inspirierend. Aber sie trug immerhin dazu bei, dass meine Arbeit veröffentlicht wurde.

Seine Frau hingegen war eine leidenschaftliche Leserin. Sie hatte Germanistik und einige Semester Anglistik studiert und war mit dem Verlagsleiter für die künstlerische Ausrichtung verantwortlich. Ich glaube, Brechbühl wollte ihr einen Gefallen tun, als er damals den Verlag gründete.

Dorothea kannte alles, was in den letzten zwanzig Jahren an interessanter Literatur erschienen war. Ihr Leben drehte sich ausschliesslich um Bücher. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass sie darüber jeden Realitätssinn verloren hatte. Ihre Empfehlungen aber waren höchstes Leseglück. Bücher, die einem den Schlaf raubten.

Es schmeichelt mir noch heute, dass sie es war, die auf mich aufmerksam geworden war. Sie hatte mich vor einigen Jahren an einem Literaturfest lesen gehört, in dessen Vorprogramm ich nur Dank eines glücklichen Umstandes gerückt war. Ich durfte an Stelle einer Kollegin lesen, deren Erstling, soeben bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, ein durchschlagender Erfolg war, weshalb ihr die Veranstalter einen Platz im Abendprogramm einräumten.

Meine zwei bisherigen Romane waren von der Kritik zwar mehrheitlich wohlwollend aufgenommen worden; kaufen gingen die Leute sie trotzdem nicht. Auch die anderen Autoren – einige Lyriker, ein paar schwer verdauliche Prosaisten und ein publikumsbeschimpfender Slammer – waren nicht gerade mehrheitsfähig. Brechbühl schien aus irgendwelchen Gründen einen Publikumserfolg zu benötigen – wahrscheinlich aus Eitelkeit.

Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Krimi schreibt. Krimis interessierten mich nicht. Ich las keine und wollte auch keine schreiben. Ich gab Brechbühl zu verstehen, dass ich mich gegen jede Einschränkung meiner künstlerischen Freiheit verwahre. Ich würde beim Schreiben ästhetische, vielleicht noch ethische Gesichtspunkte berücksichtigen und keinesfalls irgendwelche profanen Marktanalysen, ereiferte ich mich.

Ich wusste, solange seine Frau im Verlag die Fäden zog, hatte ich nichts zu befürchten. Brechbühl wusste das auch und liess es dabei bewenden, nochmals auf die Verkaufszahlen hinzuweisen, die kaum einen Viertel der Auflage rechtfertigten. Ich hatte damals gegen seinen Willen auf fünftausend Exemplaren bestanden, weil alles darunter, so argumentierte ich, vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Markt gleichkäme.

Gleichwohl gab mir unser Gespräch zu denken. Abgesehen davon, dass ich es nicht mochte, von einem wie Brechbühl Tipps zu erhalten, hätte ich ihm ja gern bewiesen, dass ich durchaus etwas schreiben kann, das sich auch absetzen lässt.

So liess ich mich im neuen Telefonbuch unter falschem Namen als Privatdetektiv eintragen. Keine Ahnung, was ich mir dabei dachte. Vielleicht hielt ich das für eine Art, Nachforschungen anzustellen. Um einen Krimi zu schreiben, brauchte ich geeigneten Stoff, und den musste ich mir ja irgendwoher besorgen.

Lange geschah nichts. Meine Bekannten wunderten sich, weshalb ich neuerdings nur noch ein fragendes «Ja?» am Telefon vernehmen liess. Dann, eines Tages meldete sich eine Männerstimme.

«Spreche ich mit Herrn Arnold?»

«Jawohl, am Apparat.» Ich war aufgeregt.

Der Mann zögerte: «Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?»

«Absolut, das gehört zur Branche wie die Pfeife zum Holmes!»

«Wie bitte?»

«Ich wollte damit sagen, dass Sie sich vollkommen auf meine Diskretion verlassen können.»

«Gut, es geht nämlich um eine sehr delikate Angelegenheit …»

«Nur frisch von der Leber damit.»

Der Mann räusperte sich. «Es handelt sich um meinen Lebenspartner …»

«Ihren Lebenspartner.»

«Ich glaube, er betrügt mich. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber ich bin mir ziemlich sicher.»

«Ja?»

«Sie sollen mir den Nachweis erbringen. Wenn es stimmt, dass er mich betrügt, setz ich ihn sofort auf die Strasse. Ich will aber nichts unternehmen, bevor ich nicht Gewissheit hab. Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, dann kann ich Ihnen weitere Informationen geben.»

Ich überlegte, ob das wirklich der Stoff war, aus dem man Krimis schreibt.

«Hallo?»

«Ja, mh, wissen Sie … Ich muss Sie leider enttäuschen. Beschattungen gehören nicht zu meinen Kernkompetenzen. Wenn Sie sich bitte an meinen Kollegen wenden würden? Warten Sie, ich geb Ihnen die Nummer.»

Ich schlug im Telefonbuch nach und nannte ihm den Namen und die Nummer des Privatdetektivs, der in seinem Eintrag auch das Wort Observationsdienstleistungen aufführte. Der Mann bedankte sich und legte auf.

Es verging über eine Woche bis zum nächsten Anruf. Diesmal war es eine Frau.

«Guten Tag. Herr Arnold?»

«Exakt, so heisse ich.»

«Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?»

«Keine Frage!»

«Es ist in der Tat unabdingbar, wissen Sie. Mein Gemahl ist nämlich Anwalt, ein vielbeschäftigter Mann … Er darf von unserem Gespräch nichts erfahren.»

«Machen Sie sich keine Sorgen, von mir erfährt ers nicht.»

Sie wurde plötzlich misstrauisch. «Sind Sie schon lang in dem Beruf tätig?»

«Ich hab mich vor drei Jahren selbständig gemacht. Zuvor war ich bei der Polizei.»

«Gut. Hören Sie, es handelt sich um unsere Haushaltshilfe. Kolumbianerin. Sie stiehlt. Zuerst nur kleine Sachen, eine Gabel, eine Packung Spaghetti. Mittlerweile ist sie zu Wertvollerem übergegangen. Eine Flasche Wein, eine seltene Blumenvase. Ich hab sie zur Rede gestellt. Wissen Sie, was sie darauf geantwortet hat?»

Weil ich nicht gleich begriff, dass das eine rhetorische Frage war, sagte ich: «Nein?»

«Sie meinte, sie benötige mehr Lohn!»

«So was …»

«Wenn man bedenkt, wie viel ehrliche Menschen froh wären, überhaupt eine Arbeit zu haben … Doch das tut hier nichts zur Sache. Ich und mein Gemahl sind entschlossen, sie zu entlassen. Aber zuvor möchte ich die Vase zurück. Ihre Aufgabe ist es, diese ausfindig zu machen und mir zurückzubringen.»

«Weshalb gehen Sie nicht zur Polizei?»

Die Frau wechselte in die nächsthöhere Oktave: «Aber dann würde sie ja unverzüglich des Landes verwiesen! Sie ist halt ohne Papiere hier … Hören Sie, wir sind doch keine Unmenschen. – Wann können wir uns treffen?»

«Wegen einer Vase?»

«Ich hab Ihnen bereits gesagt, dass sie selten ist. Ein Erbstück meines Gemahls. Ich bezahle im Voraus, und wenn Sie die Vase zurückbringen, erhalten Sie den restlichen Betrag.»

Ich stellte mir vor: «Die Vasendiebin». Das reichte nicht mal für eine Kurzgeschichte.

«Es tut mir leid, aber zur Zeit bin ich voll und ganz ausgelastet. Wenn Sie sich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt an mich wenden möchten …»

«Warum sagen Sie das nicht gleich von Anfang an?!»

«Sie haben mich nicht danach gefragt.»

Einige Tage später hatte ich wieder jemanden am Telefon.

«Ja?»

«Hallo!»

«Ja?»

«Sie sein Privatdetektiv?» Der Mann sprach mit unverkennbar slawischem Akzent.

«Jawohl, Arnold, Privatdetektiv.»

«Sie missen kommen. Treffen mit mir. Noch heute!» Die Stimme klang nicht unfreundlich, trotz der imperativen Wortwahl.

«Worum gehts denn?»

«Nicht am Telefon. Ich will sprechen mit Sie an Tisch. Heut abend, sechs Uhr. Im Dancing Bahnhefli. Sie kennen?»

«Ja, ich weiss wo. Und woran erkenn ich Sie?»

«Sie fragen bei Frau von Bar – Zoran Slavković!»

«Gut, dann werd ich um sechs dort sein.»

Der Mann hatte bereits wieder aufgelegt.

Es regnete, als ich kurz nach sechs die Wohnung verliess. Zum «Bahnhöfli» war es nicht weit. Ich ging zu Fuss, unter aufgespanntem Regenschirm, die Gerliswilstrasse hinunter. Durch die Strassenschlucht defilierte der Feierabendverkehr, Autoreifen zischten, Scheinwerfer blendeten.

Ich kam an der neuen Tankstelle vorbei, die ihre Umgebung in ultraviolettes Licht tauchte – als ob man irgendwelche Fixer an der Ausübung ihrer Sucht hindern wollte –, und zweigte in die Bahnhofstrasse ab. Beim Kebabstand, wo es die beste Joghurtsauce im ganzen Kanton gab, waren einige Gestalten unter dem Vordach versammelt.

Das Restaurant war leer bis auf die Bahnarbeiter, die Eistee tranken, und drei sich anschweigende Männer am Stammtisch. Die Kellnerin hatte sich hinter der Kaffeemaschine verschanzt. Ich grüsste mit einem knappen Nicken und ging weiter zur Treppe, die ins Untergeschoss führte. Hier waren die Toiletten, der Zigarettenautomat und am Ende des Korridors das Dancing.

Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Ich ging auf Teppich. Deutscher Schlagerpop troff aus den Lautsprechern. In einer Nische sassen eine junge Osteuropäerin und ein Mann mit Schnauz. Sie beachteten mich nicht. Soweit ich erkennen konnte, waren sie die einzigen Gäste. Auf der kleinen Bühne neben der Bar standen ein Keyboard, zwei Barhocker und ein Mikrofonständer. Die Frau hinter dem Ausschank sah mir müde entgegen. Sie war weit über dreissig und stark geschminkt. Ich ging auf sie zu und sagte, ich sei mit Herrn Slavković verabredet. Sie wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf eine dunkle Ecke.

Erst jetzt erkannte ich, dass dort noch jemand sass. Ich sah das Aufglimmen der Zigarettenglut und kurz darauf die filigrane Rauchsäule, die das verstreute Licht einer Spotlampe einfing.

«Sie kommen zu spät, fünfzehn Minuten!», sagte er, wobei er fünfzehn wie finfzehn aussprach und dazu mit dem Zeigfinger auf seine Armbanduhr klopfte.

Ich setzte mich und sagte: «Tut mir leid, ich wurde aufgehalten.»

Ohne sich abzuwenden, griff er mit der linken Hand hinter sich und schaltete eine Lampe ein, die über seinem Kopf an der Wand hing. Dann musterte er mich, was ich umgekehrt ebenfalls zu tun versuchte. Aber er war eindeutig im Vorteil. Was ich im Gegenlicht erkennen konnte, war, dass Slavković einen aussergewöhnlich grossen Kopf hatte. Die Haare waren militärisch gestutzt, sein Kinn fliehend, seine ganze Gestalt wirkte massig. Er trug einen dunklen Anzug, dunkles Hemd und eine violette Krawatte. Es fiel mir schwer, die geckenhafte Bekleidung mit seinem vulgären Gesichtsausdruck zusammenzubringen.

«Sie sind jung, sehr jung.»

Ich erwiderte nichts.

«Sind Sie so gut, wie Sie meinen?»

«Ich bin der Beste!», versuchte ich schlagfertig zu sein.

«Gut. Nur die Besten können zu spät kommen. Ich kann meine Zeit nicht mit jungen Schweizerburschen verschwenden. Verstanden!?»

Die Kellnerin war an unseren Tisch herangetreten. Slavković bestellte dasselbe wie zuvor – irgendwas Hochprozentiges –, ich ein Bier.

Er drückte die Zigarette, die er bis fast zum Filter heruntergeraucht hatte, im Aschenbecher aus. Dann leerte er den Inhalt des halbvollen Glases in einem Zug.

«Ich werde bedroht, von anonyme Schweinehund!», begann er schliesslich. «Ich habe Briefe bekommen, worin steht, dass man mich töten will.» «Töten» sprach er wie «teten» aus, was ein wenig lächerlich klang. Er kniff die Augen zusammen und setzte hinzu: «Sie müssen herausfinden, wer diese Briefe geschrieben hat!»

Er unterbrach sich, während die Kellnerin die Getränke hinstellte. Nachdem sie sich lautlos auf dem schweren Spannteppich entfernt hatte, fragte ich: «Haben Sie die Briefe bei sich?»

Er griff mit der Rechten in die Innentasche seines Sakkos und nahm drei zusammengefaltete Couverts hervor. Einen Augenblick lang behielt er sie zwischen seinen dicken Fingern, als müsse ers sich noch einmal überlegen, ob er sie mir aushändigen sollte.

Ich sah mir die Couverts an. Sie waren mit einer alten Schreibmaschine adressiert, ein Absender fehlte. Slavković wohnte in einem ruhigen Aussenquartier, wo sich die Vermögenden ihre Einfamilienhäuser hinstellten. Den Poststempeln entnahm ich, dass sie im Abstand von wenigen Tagen bei der Hauptpost in Emmenbrücke aufgegeben worden waren. Ich öffnete den ersten Umschlag. Die Zeilen waren am Computer geschrieben worden, trotzdem konnte ich kein Wort lesen. Der Text war in kyrillischer Schrift verfasst. Ich sah auch die anderen Briefe durch. Dasselbe Bild. Ich legte sie hin und blickte auf.

«Was steht da drin?»

«Dass sie mich töten wollen!»

«Wer?»

«Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht mit Ihnen hier!»

Slavković steckte sich eine weitere Zigarette an; ich folgte seinem Beispiel. Er gab mir Feuer.

«Warum gehen Sie nicht zur Polizei?»

Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz normal. «Polizei nicht gut. Machen immer Probleme. Sind alles Rassisten, verstehen Sie?»

Ich nickte. «Haben Sie einen Verdacht?»

Er stiess den Rauch durch die Nase aus. «Schwierig. Ich habe viele Neider hier, weil ich viel Erfolg habe.»

«Aber es müsste einer Ihrer Landsleute sein, der Ihre Sprache spricht.»

«Sicher! Vielleicht ein Türkenschwein.»

«Wie bitte?»

«Sie wissen, was ich meine: Ein Moslem – Kosovare, oder ein Bosniake.»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Weil sie die Serben hassen, besonders, wenn sie Erfolg haben!»

«Und Sie glauben, weil Sie ein erfolgreiches Reisebüro führen, wollen diese Leute Sie einschüchtern?»

«Warum wissen Sie das vom Reisebüro?»

Ich blies den Rauch gemächlich in den Lichtkegel. «Nachforschungen …»

Slavković verzog sein feistes Gesicht zu so was wie einem Grinsen. «Sie sind gut. Sie sind der richtige Mann für mich.» Erneut griff er in seinen Sakko und holte ein weiteres Couvert hervor. Er legte es auf den Tisch.

«Sie finden heraus, wer die Briefe geschrieben hat. Wenn Sie wissen wer, Sie bekommen den Rest von dem Geld. Hier meine Telefonnummer.» Er notierte eine Zahlenreihe auf das Couvert und schob es mir zu. Dann gab er seiner Stimme einen bedrohlichen Unterton: «Aber wenn Sie den Schweinehund nicht finden, geben Sie alles Geld zurück!» Er drückte mir die Hand und stand auf.

Ich war überrascht, wie klein er war. Er war beinahe breiter als hoch. Er klapste mir auf die rechte Schulter und verliess den Raum. Dabei gab er der Barfrau ein Zeichen. Sie nickte und notierte sich was.

Ich ging mit der halbvollen Tulpe an die Theke und sah mich um. Das Paar war verschwunden. Sonst waren keine neue Gäste gekommen.

Ich fragte die Frau, die in einer Illustrierten blätterte, ob es hier dienstags immer so ruhig sei.

«Die Leute kommen erst später, so gegen neun Uhr», sagte sie, ohne von ihrem bunten Magazin aufzusehen.

Ich trank aus und wollte bezahlen.

Das gehe aufs Haus, sagte sie.

«Sie wollen sagen, auf Herrn Slavkovićs Rechnung?»

Sie runzelte die Stirn. «Mhm, schon möglich …»

Ich verliess das «Bahnhöfli» direkt durch die Tür auf der Hinterseite des Gebäudes.

Zu Hause öffnete ich das Couvert. Zweitausend Franken war Slavković die Identität des anonymen Verfassers wert.

Ich kannte Adnan aus der Zeit, als ich noch Sport trieb. Wir spielten zusammen beim FC von Moos. Adnan war unser Starstürmer, ich wurde in der Verteidigung geduldet. Nach dem Training gingen wir jeweils in den «Adler», die ganze Gruppe. Ich gehörte mit Adnan zusammen zum harten Kern. Was ich auf dem Platz nicht zu leisten vermochte, machte ich hier mit meinen Sprüchen wett. Das konnte auch mal in eine Prügelei ausarten, etwa wenn wir den Stammtisch provozierten. Aber meistens waren die zu sehr damit beschäftigt, miteinander zu zanken und gegen Ausländer, den Staat und was auch immer zu wettern. Johnny, der Wirt mit dem unerschöpflichen Fundus an Witzen, die aber nur komisch waren, wenn er sie zum Besten gab, wusste jedenfalls genau, an welchem Wochentag wir Training hatten. Er musste dann öfter, als ihm lieb war, von seinem Platz aufstehen, um den Kellnerinnen zu Hilfe zu eilen, die selten genug die Probezeit durchielten. Nachdem nämlich Ulla, seine langjährige Kellnerin mit den Eigenschaften einer Dompteuse, aus ungeklärten Gründen gekündigt hatte, fand er nie mehr einen vollwertigen Ersatz. Ullas Verschwinden hatte gleichsam den Niedergang des verrufenen Spuntens mit seinen berüchtigten Hardrock-Konzerten hinten im Saal eingeleitet.

Nach der Matura versuchte sich Adnan im Profifussball. Er wechselte vom FC Emmenbrücke zu Kriens, wurde von Luzern unter Vertrag genommen und kickte für eine Saison beim FC Zürich, bevor er wieder zu Emmenbrücke zurückkehrte und mit dem Sportstudium begann.

Wir hatte uns im «Central» verabredet. Vor einigen Monaten war im «Adler» der absehbare Pächterwechsel erfolgt. Der Neue versuchte die Patrioten zu bedienen, indem er an den Wochenenden Schwyzerörgeli aufbot und die AC/DC-Scheiben aus der Jukebox entfernte.

Als ich im «Central» eintraf, sass Adnan bereits an einem Tisch und unterhielt sich mit der Kellnerin. Sie war etwas älter als wir und sah gar nicht mal schlecht aus.

Wir begrüssten uns mit dem FCVM-Handschlag. Ich setzte mich und bestellte eine Flasche Bier. Die Kellnerin bedachte Adnan mit einem vorläufigen Lächeln und ging zum Ausschank.

Adnan war ein Charmeur. Ich hatte ihn deswegen oft beneidet. Aber er war keiner, der einen in Gegenwart attraktiver Frauen anders behandelte. Wenn er merkte, dass es mir jemand angetan hatte, hielt er sich vornehm zurück. Freilich nützte das nicht viel. Am Ende interessierten sich die Mädchen doch nur für ihn. Ich führte das neben seinem guten Aussehen – blond, blaue Augen, gewinnendes Lächeln – auf sein humorvolles und spontanes Wesen zurück, das nicht zuletzt ja auch mich für ihn einnahm.

Nachdem wir einander zugeprostet hatten, fragte ich Adnan geradeheraus, ob er die kyrillische Schrift lesen könne.

«Ich habs mal im Serbokroatisch gelernt. Ist aber lang her. Warum?»

«Ich hab hier drei Texte, von denen ich gern wüsste, was sie bedeuten.»

Ich reichte ihm die Briefe. Adnan betrachtete den ersten und runzelte die Stirn. Nach einer Weile blickte er verwundert auf.

«Ich glaub, ich kanns noch einigermassen. Wo hast du die her?»

«Später … Kannst dus übersetzen?»

«Mal schauen …»

«Moment …» Ich gab der Kellnerin ein Handzeichen. Sie kam lächelnd näher. Ob sie mir einen Kugelschreiber leihen könne, fragte ich.

Sie wiegte sich in den Hüften, schmunzelte und sah dabei Adnan an. «Wenn du mich nicht mehr siezen tust! Ich komm mir nämlich sonst so alt vor.»

Ich erklärte mich damit einverstanden, nahm den Kugelschreiber entgegen und sah ihr nach, während sie sich entfernte. Adnan grinste, nahm einen kräftigen Schluck und schob das Glas zur Seite.

«Also hier steht … Moment, ich bin nicht mehr so geübt darin … Also der erste Satz: Die Welt ist … ist überfüllt mit – wie sagt man dem auf Deutsch? Dreck? Schmutz? Abschaum? … Also, noch einmal: Die Welt ist überfüllt mit Abschaum. Odasvud! – Von überall her.»

«Die Welt ist überfüllt mit Abschaum von überall her?»

«Nach Schmutz kommt ein Punkt.»

«Schreibs auf, darüber.»

Ich gab ihm den Kugelschreiber. Er kritzelte mit seiner ungelenken Schrift über den kyrillischen Zeichen.

Ich steckte mir eine Zigarette an.

«Hast du mir auch eine?»

«Ich dachte, du hast damit aufgehört?»

«Hab ich auch.»

Ich gab ihm Feuer.

«Also, und darunter steht: Ja, Bosnien ist das Land des Hasses.»

«Aufschreiben.»

Wieder schrieb er.

«Soll ich weitermachen?»

«Ja, bitte.»

«Von ihm verbreitete sich … širio oštar zadah ranjene zverke … der scharfe Geruch … einer verletzten Bestie?»

«Einer verwundeten Bestie», schlug ich vor.

Adnan schrieb. Dann griff er nach seiner Zigarette, die in einer der Rillen des Aschenbechers steckte, und zog daran.

«Und weiter?»

«Das ist alles.»

«Also gut – der nächste Brief.»

«Was soll das bedeuten?»

«Ich erklärs dir gleich.»

Adnan nahm noch einen Zug und klemmte die Zigarette wieder in die Rille.

«Hier steht … Wie sagt man dem … nicht Pater, sondern …»

«Pfarrer?»

«Nein …»

«Priester, Abt, Dekan?»

«Neinnein, das was unter dem Pater ist …»

«Unter dem Pater? … Du meinst Bruder.»

«Ja genau, Bruder. Okay: Bruder Radomir konnte nicht sprechen, weil sein Mund voll Blut war …»

Adnan schrieb. Nachdem er auch den letzten Brief übertragen hatte, reichte er ihn mir. Ich las noch einmal alle Sätze durch. «Die Welt ist überfüllt mit Abschaum. Von überall her.» – «Ja, Bosnien ist das Land des Hasses.» – «Von ihm verbreitete sich der scharfe Gestank einer verwundeten Bestie.» – «Bruder Radomir konnte nicht sprechen, weil sein Mund voll Blut war.» – «Nun warteten wir auf die ungewisse Ankunft des Zugs nach Foča.» – «Er richtete sie hin zu der Seite, wo Vuković stand, und drückte ab.» – «Da wurden ihnen die Köpfe abgeschnitten und auf Pfähle gesteckt.» – «Ihre Körper aber warf man von der Brücke in die Drina.» – Und zum Schluss noch einmal der Satz «Ja, Bosnien ist das Land des Hasses.»

Ich blickte auf. Adnan sah mich fragend an.

«Würdest du mir jetzt bitte erklären, was das Ganze soll?»

«Stell dir vor, du bekämst diese drei Briefe zugeschickt. Ohne Absender, ohne Unterschrift. Was würdest du denken?»

«Ich weiss nicht …»

«Komm schon, versetz dich in die Lage!»

Adnan nahm einen Schluck.

«Nun?»

«Ich würde denken, dass mich jemand bedrohen möchte.»

«Siehst du, genau das hat der Empfänger auch gedacht.»

«Aber was sollen diese seltsamen Sätze?»

«Es sind Zitate.»

«Zitate?»

«Erkennst du keines?»

«Du bist hier der Literat.»

Ich trank und behielt das Glas in der Hand: «Ich glaube, sie stammen von Ivo Andrić.»

«Du meinst das mit den Leichen, die sie in die Drina werfen.»

«‹Die Brücke über die Drina›, genau. Dafür hat er den Nobelpreis erhalten.»

Ich erzählte Adnan von meinem Gespräch mit Brechbühl und dass ich mich als Privatdetektiv ins Telefonbuch hatte eintragen lassen. Als der Name Slavković fiel, horchte er auf.

«Kennst du ihn?»

«Ich weiss, wer er ist. Er hat ein Geschäft, das Busreisen auf den Balkan organisiert. Man kann bei ihm auch Geld überweisen, glaub ich. Mein Vater behauptet, er habe mit Drogen und Prostitution zu tun.»

«Ah ja?», fragte ich interessiert.

Adnan winkte ab. «Du kennst doch meinen Vater, für ihn haben seit dem Krieg alle Serben irgendwas mit dem organisierten Verbrechen zu tun.»

Ich erkundigte mich, ob Adnans Familie auch schon bei Slavković gebucht habe. Er verneinte. Seit sein Vater ein Auto habe, seien sie jeweils selbst gefahren.

«Und zuvor?»

«Zuvor haben wir bei Taliqi gebucht.»

«Wie heisst der?»

«Taliqi, Mehmet Taliqi. Kosovare, er lebt schon lange hier. Mein Vater lässt über ihn Geld an die Verwandten in Bosnien zukommen.»

Ich schrieb mir den Namen auf.

Nach und nach kamen wir auf andere Dinge zu sprechen. Wir tranken noch einige Flaschen Bier, und Adnan half mir eine Schachtel Zigaretten leeren. Die Kellnerin, die sich zwischendurch zu uns setzte und plauderte, wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde hübscher. Es wurde trotzdem nicht zu spät. Adnan musste anderntags früh zum Training.

Ich betrat den Raum und sah mich um. Endlich hatte ich sie gefunden: Sie hatte sich an die Wand gelehnt und schien mich erwartet zu haben. Ich ging auf sie zu. Sie lächelte wissend, ihr Gesicht war ganz nah. Ihre Augenlider sanken wie Rollläden an heissen Tagen, ihre Lippen schimmerten feucht.

Plötzlich begann sie aus unerfindlichen Gründen zu schreien. Sie brüllte aus voller Kehle und hatte die Augen weit aufgerissen. Während sie diesen scheusslichen Schrei zum dritten Mal ausstiess, merkte ich, dass das Telefon klingelte. Ich blieb liegen und harrte aus, bis der Beantworter einschaltete. Dann drehte ich mich auf die andere Seite und versuchte dort anzuknüpfen, wo ich unterbrochen worden war. Als ihr Gesicht im Nebel der Imagination allmählich Gestalt annahm, begann das Telefon erneut zu klingeln. Ich drehte mich auf den Rücken, weigerte mich aber, die Augen zu öffnen. Vielleicht gabs einen Schalter, womit ich den Klingelton verändern konnte. Oder wenigstens die Lautstärke. Beim dritten Anruf stand ich auf.

«Ja?», fauchte ich.

«Hab ich dich geweckt?»

«Was willst du?»

«Es ist bereits halb elf.»

«Na und?»

«Ich bin seit vier Stunden auf …»

«Na und?»

«Ich komm gerade vom Training. Ein wunderschöner Tag – kein Wölkchen am Himmel. Einen so schönen Morgen verbringt man doch nicht im Bett!»

Ich hatte nie begriffen, wie Frühaufsteher zu ihrem Selbstverständnis kamen. Mir wäre es ja auch nicht in den Sinn gekommen, jemanden um zwei in der Früh anzurufen, nur weil die Sterne gerade so schön funkelten.

«Was willst du?»

«Ich sitze im ‹Gerliswil›, trinke einen Kaffee, blättere dazu die Zeitung wie üblich von hinten durch und – rat mal, worauf ich da stosse!»

Ich war inzwischen mit dem verknoteten Kabel von der Küche ins Schlafzimmer gelangt, hatte das Gerät neben die Matratze gestellt und die Decke bis ans Kinn hochgezogen.

«Keine Ahnung, vielleicht verrätst dus mir ja …»

«Ich blättere also die Seiten um, überfliege dies und das, komme zum Regionalteil und – du wirst nicht glauben, was ich da lese …»

Ich gähnte und prüfte, ob die Sprechmuschel in meinen Mund passte.

«Mord in Emmenbrücke! So die Überschrift. Im Rotlichtmilieu, geschehen vorgestern Nacht. Und jetzt das: Es handelt sich um einen Mann aus Exjugoslawien, wie sich die Pressefritzen ausdrücken. Er wurde enthauptet.»

«Enthauptet?!» Ich hatte mich im Bett aufgerichtet.

«Jawohl, enthauptet. Ist das nicht unglaublich?»

«Scheisse! Scheisse. Und du erzählst keinen Mist?»

«Mit so was spass ich nicht. Kannst es ja nachlesen. Du bist doch Abonnent.»

«Ja, ich …» Ich war hellwach. «Weisst du was, ich ruf dich später zurück.» Ich legte auf und stieg in die Jeans, die über der Stuhllehne hingen. Dann streifte ich mir ein T-Shirt über und ging barfuss das Treppenhaus hinunter. Der Hauswart war ein seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebender, überassimilierter Kroate, und ich hätte auf den Stufen mein Konfibrot streichen können, so sauber waren sie.

Noch im Treppenhaus überflog ich die Schlagzeilen. «Mord in Emmenbrücke» stand dick auf der Frontseite geschrieben. Ich blätterte weiter. Auf der ersten Seite des Regionalteils fand ich den kurzen Beitrag. Ich schloss die Tür und las im Stehen. «Die Hintergründe der Tat sind noch nicht bekannt. Die Polizei geht von einer Abrechnung im Milieu aus.» Ich hatte keine Zweifel. Es musste sich um Slavković handeln!

Ich setzte mich an den Küchentisch und zündete mir eine Zigarette an. Meine Hände zitterten, meine Gedanken wirbelten konzeptlos durcheinander. Endlich gelang es einem, sich von den anderen abzusetzen: Slavković musste nur wenige Stunden, nachdem ich ihn im «Bahnhöfli» getroffen hatte, ermordet worden sein.

Ich war überrascht, als mir Frau Slavković öffnete. Ich hatte ein verweintes Häufchen Elend erwartet, das kaum ein Wort hervorbrachte, ohne in Tränen auszubrechen. Statt dessen stand ich einer gefasst wirkenden, korpulenten Frau gegenüber, die kurz abwesend lächelte, als ich mich vorstellte.

«Kommen Sie herein – die Polizei war heute auch schon hier», sagte sie in gutem, nahezu akzentfreiem Hochdeutsch.

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer.

Eine breite Fensterfront gab den Blick auf den Pilatus und die östlich anschliessenden Firste der Voralpenkette frei. Auf der anderen Seite der Weide, die unmittelbar an die Einfamilienhäuser anschloss, waren der Bauernhof und eine alte Arbeitersiedlung der Eisenwerke zu erkennen.

«Möchten Sie einen Kaffee?»

Als ich vor Jahren zum ersten Mal bei Adnan zu Hause war, hatte ich, als mir seine Mutter ein Stück Kuchen anbot, aus Höflichkeit abgelehnt. Sie solle sich keine Umstände machen, hatte ich gesagt. Dass ich sie damit beleidigte, wurde mir erst bewusst, als mich Adnan nachträglich darauf aufmerksam machte. Seither schlug ich einer südslawischen Gastgeberin nach Möglichkeit nichts mehr aus.

Frau Slavković ging aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte ich sie in der Küche hantieren.

Ich sah mich im Wohnzimmer um. Eine wuchtige, dunkel lackierte Wohnwand, darauf allerlei Kleinkram, Fotografien und eine Menge Bücher. Ich studierte die Titel der Werke, zog wahllos eines hervor, blätterte darin und stellte es wieder zurück. Manche waren in kyrillischer Schrift, die meisten aber in lateinischer. Darunter solche in englischer, französischer, italienischer und deutscher Sprache. Letztere war durch kein geringeres als «Das Kapital» vertreten.

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