Kitabı oku: «Zimmer 122», sayfa 2

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3

Der Kommissar stand kurz vor der Pensionierung und war dank seiner jahrzehntelangen Erfahrung einiges gewohnt. Für die Angehörigen der Opfer war die Situation natürlich ungleich schwieriger, nicht nur der Anblick eines durch Gewalt entstellten Toten, sondern auch die Realisierung eines unwiderruflichen Verlusts.

Er stand dicht neben Frau Niedermann, um sie gegebenenfalls zu stützen. Sie war eine kleine, zierliche Frau und er unterstellte ihr intuitiv, nicht so belastbar zu sein wie ihre Freundin, die sie um Haupteslänge überragte und einen sportlichen und trainierten Eindruck machte. Wie erwartet sackte Klara beim Anblick ihres Mannes zusammen. Caduff hielt sie fest und setzte sie mithilfe von Kim Lacher auf die Bettkante. Kim sah nicht wesentlich besser aus als ihre Freundin, blieb aber eisern neben dem Bett stehen.

Der Kommissar gab einem Kollegen der Spurensicherung ein Zeichen, ein Glas Wasser zu bringen und beobachtete gleichzeitig Kim Lacher. Sie wurde immer blasser, hielt sich aber tapfer auf den Beinen und konnte den Blick nicht von Benno Niedermann wenden. Caduff bemerkte ein Beben ihrer Hände und ein leises Zittern ihrer Lippen, sonst verriet sie keine Gefühle.

Endlich wandte sie sich ab und bestätigte Caduff, dass es sich bei dem Toten definitiv um Benno Niedermann handle, den Ehemann von Klara. Schwer liess sie sich auf die Bettkante neben ihre Freundin sinken, nahm dem Beamten der Spurensicherung das Wasserglas aus den Händen und half ihrer Freundin beim Trinken.

Klaras blaue Augen waren aufgerissen, die Pupillen wirkten riesig. »Wer macht so etwas?«, flüsterte sie erneut. Dabei sah sie ihre Freundin an, nicht den Kommissar.

Kim schüttelte den Kopf. »Ich weiss es nicht. Die Polizei wird es herausfinden, Liebes.«

Ihr Blick wanderte von Klara zu Caduff, während sie mechanisch über Klaras Kopf streichelte. »Bitte versprechen Sie uns, dass Sie herausfinden, welches Monster zu dieser Tat fähig war.«

»Ich verspreche Ihnen, dass wir alles daransetzen werden, den Täter zu fassen. Darf ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen?«

Klara spürte einen aufsteigenden Brechreiz und würgte. Kim tätschelte ihr den Rücken. »Lassen Sie uns bitte in mein Zimmer gehen. Für Klara ist der Anblick nicht zumutbar.«

Nachdem Kim Lacher das Nötigste für ihre Freundin eingepackt hatte, gingen sie in ihr Zimmer. Klara nahm auf dem grossen Sessel beim Fenster Platz, Kim auf dessen Armlehne, um ihrer Freundin nahe zu sein. Caduff setzte sich auf einen Stuhl gegenüber. Tränen rannen über Klaras Wangen und verwischten ihr Make-up. Mit beiden Händen fuhr sie durch ihr schulterlanges Haar. Sie sah mitgenommen und verstrubbelt aus.

Kein Wunder, dachte der Kommissar mitfühlend. Die Wildkatze, wie er Kim insgeheim nannte, hielt sich erstaunlich gut. Sie liess ihre grünen Augen aus dem Fenster schweifen. Caduff konnte ihrem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, was sie gerade dachte. Die beiden Frauen schienen sich sehr nahezustehen.

Caduff schaute sich im Zimmer um. Es war geräumig und sah kaum benutzt aus. Die gemusterte Decke über dem Bett war glattgestrichen und alle Gegenstände lagen auf ihrem Platz. Nur ein roter Wecker stand verloren auf dem Nachttisch neben einer Schachtel Kleenex. Kim Lacher musste eine ordnungsliebende und bestens organisierte Frau sein. Wenn er mit seiner Frau in einem Hotel übernachtete, lagen überall Bücher, Zeitschriften und persönliche Gegenstände herum. Hier war es unmöglich, Rückschlüsse über die Persönlichkeit der Bewohnerin zu ziehen.

»Frau Niedermann. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen jetzt einige Fragen stellen zu müssen. Für die Ermittlungen ist es wichtig, keine kostbare Zeit zu verlieren. Ist das in Ordnung?«

Klara nickte und sah ihn an. Trotz der immer noch fliessenden Tränen schien sie ihn wahrzunehmen. Kim legte den Arm um ihre Freundin und schaute weiterhin aus dem Fenster in die Dunkelheit.

»Frau Niedermann, wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«

»Heute Nachmittag spielten wir alle drei zusammen eine Runde Golf, wir Frauen allerdings nur neun Löcher. Dann verliessen wir den Platz. Benno spielte allein weiter.«

»Neun Löcher, was bedeutet das? Ich verstehe leider nichts von Golf.«

Klara sah ihre Freundin hilflos an, die Caduff informierte: »Wenn Sie eine ganze Runde spielen, sind das achtzehn Löcher insgesamt. Neun Löcher bedeuten deshalb nur eine halbe Runde. Benno war ein ausgezeichneter und eifriger Spieler. Eine halbe Runde reichte ihm nie, um seinen sportlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Neun Löcher bezeichnete er immer ein wenig despektierlich als Damenrunde. Deshalb spielte er auch heute allein weiter. Wir machten es immer auf diese Weise. So stimmte es für uns alle.«

»Und Sie beide, wie sah Ihr Programm aus?«

Klara sah Caduff vorwurfsvoll an, ihre Tränen versiegten augenblicklich. »Was wollen Sie damit sagen? Meinen Sie, ich hätte meinen Mann umgebracht?« Ihre Augen sprühten Funken.

»Natürlich nicht, Frau Niedermann. Ich muss Sie das fragen. Reine Routine.«

Kim Lacher beantwortete die Frage, während Klara erneut in Tränen ausbrach.

»Wir machten uns frisch und trafen uns danach zu einem Spaziergang am See, bis es Zeit zum Abendessen war. Der Abend war wundervoll. Wenn wir geahnt hätten …« Kim blinzelte die aufsteigenden Tränen energisch weg.

»Was denken Sie, wurden Sie von jemandem gesehen?«

»Sie behandeln uns wie Mörder«, begehrte Klara mit schriller Stimme auf. »Mein Mann ist tot. Was wollen Sie von uns? Suchen Sie besser den Mörder!«

Kim legte schützend den Arm um sie. »Lass gut sein, Liebes, er macht nur seinen Job.« Dann wandte sie sich gereizt dem Kommissar zu: »Ich weiss nicht, ob uns jemand gesehen hat, gehe aber davon aus. Von der Terrasse aus sieht man den Weg bis zur Biegung. Viele Gäste waren beim Apéro, als wir das Hotel verliessen.«

»Wann haben Sie das Hotel verlassen?«

»Das muss kurz nach 20:00 Uhr gewesen sein.«

»Danke. Wir werden das überprüfen.«

»Tun Sie das, Herr Kommissar.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Caduff seufzte innerlich. Er kannte diese ablehnenden und beschuldigenden Reaktionen zur Genüge. Das war etwas, was er wirklich nicht mehr brauchte, musste er sich eingestehen.

Er ging zum Fenster, kehrte den beiden Frauen den Rücken zu und zog sein Handy aus der Tasche. »Wie läuft’s?«, fragte er leise.

»Wie üblich. Niemand hat irgendetwas Verdächtiges gesehen oder gehört. Die drei schienen ein eigenartiges Trio zu sein. Benno Niedermann machte auf die anderen Gäste einen überheblichen Eindruck, er hat offenbar keine Sympathiepunkte gesammelt.«

»Bitte überprüft, ob jemand die Frauen beim Spaziergang gesehen hat.«

»Von welcher ungefähren Zeit sprechen wir?« Sanja war kurz angebunden.

»20:00 Uhr oder etwas später. Und klärt ab, wann genau sie auf die Terrasse zurückkamen. Mich interessiert ihre Stimmung. Waren sie fröhlich und lachten oder eher gestresst und ängstlich? Sofern der Kellner etwas taugt, erinnert er sich an die beiden.«

»Okay, Chef.« Die Verbindung wurde abgebrochen.

»Herr Caduff, wir bitten Sie, uns jetzt in Ruhe zu lassen und zu gehen. Frau Niedermann muss ihre beiden Kinder benachrichtigen. Sie können kaum nachvollziehen, wie belastend das ist.«

Die Wildkatze hatte gesprochen. Caduff warf einen Blick auf Klara. Klein und zusammengesunken hing sie wie ein verlorenes Kind in dem riesigen Sessel. »Ich werde morgen um 10:00 Uhr hier sein. Bitte halten Sie sich zu meiner Verfügung.« Er drehte sich nochmals um. »Wie alt sind Ihre Kinder?« Seine Stimme hatte einen empathischen Klang angenommen.

»Fünfzehn und siebzehn«, schluchzte Klara. »Ich weiss nicht, wie ich es ihnen beibringen soll.« Ihre Tränen flossen wieder in Strömen. »Ich will heim zu ihnen. Sie brauchen mich. Im Moment ist nur meine gesundheitlich angeschlagene Mutter bei ihnen.«

»Wo wohnen Sie, Frau Niedermann?«

»Wir wohnen in Olten.«

»Sobald wir uns morgen gesprochen haben, steht Ihrer Heimreise nichts im Weg. Das verspreche ich Ihnen. Wie gesagt, es tut mir sehr leid, Frau Niedermann.« Mit diesen Worten verliess er das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Auf der Terrasse waren Sanja und Philipp immer noch mit der Befragung der Gäste beschäftigt. Als Sanja den Kommissar entdeckte, ging sie zu ihm.

»Es waren ausschliesslich Hotelgäste auf der Terrasse. Sie bleiben alle hier und halten sich zu unserer Verfügung. Ein einziger Zeuge hat die Damen Niedermann und Lacher beim Verlassen des Hotels beobachtet. Er sagte, das sei um 20:05 Uhr gewesen. Willst du mit ihm sprechen?«

»Das mache ich morgen. Es ist schon weit nach Mitternacht. Gehen wir nach Hause und treffen uns morgen um 8:00 Uhr im Foyer.« Als er sich schon umgedreht hatte, schickte er noch ein »Gute Nacht« hinterher und ging gemessenen Schrittes zu seinem Wagen.

4

Pünktlich auf den Glockenschlag traf Peter Caduff im Seeblick ein. Er hatte schlecht und viel zu wenig geschlafen, was man ihm auf den ersten Blick ansah. Seine blauen, normalerweise wachen Augen waren zwei verquollene Schlitze. Wie immer trug er schwarze Jeans und ein übergrosses schwarzes Hemd, das um seinen Körper schlotterte. Darunter verbarg sich ein muskulöser und durchtrainierter Körper. Der Schlabberlook war sein Markenzeichen und im Team wurde gemunkelt, er versuche noch heute, Schimansky zu kopieren. Im Gegensatz zu Schimansky legte Caduff jedoch Wert auf eine gepflegte Sprache. Nur selten hörte man ihn fluchen. Er galt als kompetent, klug und zuverlässig. Seiner sprichwörtlichen Intuition war es zu verdanken, dass es ihm schon oft gelungen war, die raffiniertesten Täter zu überführen.

In den letzten Monaten hatte er sich definitiv verändert. Er war oft übellaunig und sein beissender Spott, unter dem hauptsächlich Sanja zu leiden hatte, konnte verletzend sein. Philipp kannte seinen Chef gut und vermutete, dass dies mit seiner bevorstehenden Pensionierung zusammenhing.

»Wo steckt unsere Kommissarin?«, fragte er Philipp mit einem Blick auf die Uhr genau in dem Moment, als Sanja ins Foyer stürmte. Sie war ausser Atem und ihr streng zurückgebundener Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt munter auf und ab. »Ist sie im Beauty-Salon oder liegt sie im Schönheitsschlaf?«

Natürlich hatte Sanja die Bemerkung gehört. Philipp warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Ihm waren die Sticheleien der beiden unangenehm und er vermied es tunlichst, hineingezogen zu werden. Er blieb lieber still und versuchte Sanja mit Blicken zu signalisieren, dass er auf ihrer Seite stand. Die abschätzigen Äusserungen von Caduff empfand er als unfair. Caduff hatte allen Grund stolz zu sein, dass er eine so fähige Nachfolgerin aufgebaut hatte.

An Sanja schienen solche Spitzen abzuprallen. Sie bedachte Caduff mit einem hämischen Blick: »Du siehst aus wie ausgekotzt. Schlecht geschlafen?«

Philipp zuckte zusammen. Unglaublich, dieser schnippische und forsche Ton gegenüber ihrem Chef. Kein anderes Teammitglied erlaubte sich solche Bemerkungen. Im Gegensatz zu Caduff liebte sie Kraftausdrücke und benutzte diese hauptsächlich in seiner Gegenwart. Vielleicht wollte sie durch die rüde Sprache beweisen, wie unerschrocken sie war und es auch sprachlich mit ihren männlichen Kollegen aufnehmen konnte.

Philipp streckte seinen Rücken durch, ein untrügliches Zeichen, dass er sich gleich zu Wort melden würde: »Möchtest du jetzt mit Peter Meierhans sprechen? Er ist im Vernehmungszimmer, das Sägemann direkt neben dem Treppenaufgang für uns eingerichtet hat.«

Caduff sah Philipp fragend an. Er hatte keine Ahnung, wer Peter Meierhans war. Philipp reagierte sofort. »Meierhans ist der einzige Zeuge, der Klara Niedermann und Kim Lacher gestern Abend beim Verlassen des Hotels beobachtet hat.«

Caduff nickte und bedeutete Sanja, ihm ins notdürftig eingerichtete Vernehmungszimmer zu folgen. Philipp bat er, in der Zwischenzeit die Videobänder, die ihm Sägemann ausgehändigt hatte, einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Vielleicht war ja jemand beim Betreten von Zimmer 122 aufgezeichnet worden. Caduff hoffte es.

Peter Meierhans, der Zeuge, erhob sich schwerfällig. Mit einem tiefen Schnaufer versuchte er, nach dieser Kraftanstrengung wieder Luft zu bekommen. Der mindestens einsfünfundachtzig grosse Mann war von einer enormen Körperfülle. Er erinnerte Caduff an einen Elefanten.

Die Kommissare begrüssten Meierhans per Handschlag und Caduff bat ihn, wieder Platz zu nehmen. Sanja bedankte sich zunächst für seine Gesprächsbereitschaft, was ihr einen erstaunten Blick von Caduff einbrachte. Natürlich war Meierhans gesprächsbereit. Er hatte keine andere Wahl. Sanja liess sich vom Blick ihres Vorgesetzten nicht beirren.

»Herr Meierhans, Sie haben gestern Abend Frau Niedermann und Frau Lacher beim Verlassen des Hotels beobachtet. Erinnern Sie sich an die exakte Uhrzeit?«

»Noch besser erinnere ich mich an die Damen. Beide sehr attraktiv. Ich könnte nicht sagen, welche mir besser gefiel.« Er lachte laut und dröhnend.

Sanja verdrehte die Augen. Primitives Arschloch, dachte sie und betrachtete ihn angewidert. Sie bemerkte, wie ein Lächeln Caduffs Lippen umspielte, und versuchte es zu ignorieren.

»Ich habe Sie nach der Uhrzeit gefragt, Herr Meierhans, und nicht nach Ihrem Schönheitsideal.« Sanja bemühte sich um einen gelassenen und freundlichen Tonfall, obwohl sie den selbstgefälligen Kerl am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt hätte.

»Es war kurz nach 20:00 Uhr. Da bin ich mir sicher. Ich verkaufe Luxusuhren und schaue regelmässig, wie spät es ist.« Er streckte seinen fleischigen Arm aus und präsentierte eine luxuriöse, protzig wirkende Uhr.

»Die beiden Damen verliessen Arm in Arm das Hotel und spazierten auf der Seepromenade. Ich schaute ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwanden, was ich sehr bedauerte. Ein erfreulicher Anblick, die beiden Prachtweiber.«

»Wie wirkten die Prachtweiber auf Sie? Waren sie entspannt?« Caduff liess sich auf das Niveau des Zeugen herab.

»Absolut entspannt. Sie flüsterten und schwatzten wie Teenager. Weshalb fragen Sie das? Stehen sie unter Verdacht?«

»Hier steht jeder unter Verdacht. Auch Sie«, antwortete Sanja genervt.

»Sahen Sie auch auf die Uhr, als die beiden Damen zum Essen auf die Terrasse zurückkamen?«, wollte Caduff wissen.

»Natürlich. Das war exakt zwanzig Minuten später.«

Sanja hatte genug von diesem Typen, der glaubte, unwiderstehlich zu sein. »Halten Sie sich weiter zu unserer Verfügung.« Sie erhob sich und verliess hocherhobenen Hauptes den Raum. Ihr Pferdeschwanz wippte wieder bei jedem Schritt. Zu ihrem Erstaunen folgte ihr Caduff, ohne Meierhans weitere Fragen zu stellen. Ein kurzes Dankeschön reichte als Verabschiedung.

»Ein ausgesprochen sympathischer Mensch.« Er lächelte Sanja zum ersten Mal an diesem Morgen an. Sanja lächelte zurück. Ihr war der ständige Machtkampf, der zwischen Caduff und ihr entstanden war, ebenso unangenehm wie Philipp. Sie liess sich nur darauf ein, weil er sich ausschliesslich gegen sie richtete, und sie war eine Kämpferin, die sich nichts gefallen liess. Auch nicht von ihrem Vorgesetzten. Seit ihrer Kindheit war sie daran gewohnt, nicht aufzugeben und sich durchzusetzen.

5

Sanja wurde vor fünfunddreissig Jahren in Serbien als zweites von vier Kindern geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie zusammen mit ihren drei Brüdern und Eltern in einem Haus am Rande von Belgrad. Ihr Vater, Thomas Reusser, war ein Schweizer Arzt, der sich als Student in den Semesterferien in eine serbische Schönheit verliebt hatte und nach Abschluss seines Studiums nach Belgrad ausgewandert war, um seine Dunja zu heiraten. Dieser Liebe entsprossen die vier Kinder. Es war eine harmonische und in jeder Beziehung unbeschwerte Zeit, an die sich Sanja stets mit Wehmut erinnerte. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, lachte gern und viel und sprühte vor Lebensfreude.

Dann kam der Krieg, der alles veränderte und das Leben der Menschen auf den Kopf stellte. Ihr Vater hatte als angesehener Arzt im Spital alle Hände voll zu tun und konnte sich nur wenig um seine Familie kümmern, die deshalb fast ganz auf sich gestellt war. Die Kommunikation beschränkte sich in der Regel auf ein Telefongespräch pro Tag. Der Vater arbeitete Tag und Nacht. Dunja und ihre vier Kinder litten unter dieser Situation und unter Hunger und mussten stundenlang für Lebensmittel anstehen, wie alle anderen Menschen auch.

Es war lebensgefährlich, nach draussen zu gehen, um das für’s Überleben Notwendigste zu besorgen. Dunja und Sanja pflanzten Gemüse in ihrem Garten, das sie grosszügig auch unter ihren Nachbarn und Familienmitgliedern verteilten. Vieles wurde allerdings gestohlen, bevor sie es ernten konnten. Als einziges Mädchen unterstützte Sanja ihre Mutter, wo sie nur konnte.

Als Dunja eines Tages ihren ältesten Sohn nach draussen schickte, um Brot zu kaufen, wurde er von einer verirrten Kugel getroffen und schwer verletzt ins Spital eingeliefert. Auch sein Vater konnte ihn nicht retten. Ein paar Tage später starb er unter Qualen. Die Familie beerdigte ihn auf dem Friedhof, auf dem sich reihenweise Gräber mit weissen Kreuzen von jungen Männern befanden, die im Krieg ihr Leben verloren hatten. Die Familie Reusser erholte sich nicht mehr von diesem Schicksalsschlag.

Sanjas Mutter begann unter Schlaflosigkeit zu leiden. Sie konnte ihre häuslichen Arbeiten nicht mehr verrichten und war unfähig, ihre drei Kinder zu versorgen. Immer häufiger verbrachte sie ihre Tage im Bett, wo sie nur stumm zur Decke starrte. Sie sprach mit niemandem und stand nur auf, um ins Bad zu gehen. Sie vernachlässigte nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie und ihre Pflichten als Mutter von drei Kindern. Immer mehr glitt sie in eine schwere Depression. Dunja fühlte sich schuldig am Tod ihres Sohnes, weil sie ihn zum Einkaufen geschickt hatte.

Sanja, die sich gezwungen sah, die Verantwortung für ihre Mutter und ihre zwei jüngeren Brüder zu übernehmen, war heillos überfordert. Sie versuchte, ihren Brüdern die Mutter zu ersetzen, so gut es eben ging. Sie besorgte den Haushalt und war für die Essensbeschaffung verantwortlich, obwohl es lebensgefährlich war, nach draussen zu gehen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Jemand musste es tun.

Eines Morgens verliess Sanja schon in aller Frühe das Haus, um sich auf dem nahegelegenen Markt mit dem Nötigsten einzudecken. Wie ihr Vater ihr geraten hatte, verdeckte sie ihre langen Haare unter einem Kopftuch, das sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Plötzlich nahm sie eine Gefahr wahr, die sie allerdings nicht ausmachen konnte. Die Menschen, die an den Marktständen Schlange standen, drängten sich schweigend zusammen. Man konnte die Angst förmlich riechen. Normalerweise herrschte emsiges Treiben, begleitet von lautem Geplauder. Sanja spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Woher kam die Bedrohung? In diesem Augenblick näherte sich eine Gruppe schwerbewaffneter Männer dem Markt, die Gewehre im Anschlag. Sie schrien wild durcheinander und fuchtelten mit ihren Waffen herum. Sanja konnte kein Wort verstehen. Verzweifelt sah sie sich nach Hilfe um. Die Männer schrien noch immer und schossen in die Luft. Jetzt kam Bewegung in die Menschen. Sie rannten in alle Richtungen davon, rannten buchstäblich um ihr Leben. Auch Sanja schloss sich einer Gruppe Fliehender an, ohne zu wissen, was eigentlich los war. Weitere Gewehrsalven folgten. Eine Frau, die unmittelbar neben Sanja durch die Strasse hetzte, warf plötzlich beide Arme in die Luft und brach zusammen. In Todesangst bückte sich Sanja, um nach ihr zu sehen, als sie von hinten angerempelt und umgestossen wurde. Entsetzt realisierte das Mädchen, dass die Frau, auf die sie gefallen war, tot war. Ihr Hinterkopf war weggeschossen. Irgendwie kriegte Sanja eine Hand zu fassen, die sie wieder auf die Beine zerrte und mit sich zog. Die bewaffneten Männer schossen wahllos in die fliehende Menschenmenge und töteten und verletzten viele von ihnen. Kinder kreischten. Erwachsene schrien. Es herrschte Chaos. Sanja konnte sich später nicht erinnern, wie sie es doch noch nach Hause geschafft hatte.

Nach diesem schrecklichen Erlebnis wollte Sanja nichts anderes als in die Arme genommen und getröstet werden. Sie vermisste ihre Mutter, die apathisch im Bett lag. Noch schmerzlicher vermisste sie ihren Vater, an dessen Schulter sie sich ausweinen wollte. Sie wollte Kind sein und keine Verantwortung für ihre Familie tragen müssen. Und schon gar nicht wollte sie wieder nach draussen, um Lebensmittel einzukaufen. Leider war die Realität eine andere.

Nach diesem Ereignis wagte sich Sanja einige Tage nicht mehr aus dem Haus, obwohl inzwischen sämtliche Lebensmittel ausgegangen waren. Beim blossen Gedanken daran zitterte sie wie Espenlaub. Doch pflichtbewusst, wie sie war, verdrängte sie bald ihre Angst, verbarg ihr Haar wieder unter einem grossen Schal und machte sich erneut auf den Weg zum Markt. Das Blut auf den Strassen war noch gut zu sehen und liess Sanja erschauern. Als sie die wenigen Nahrungsmittel, die sie ergattern konnte, nach Hause trug, erschütterte eine gewaltige Explosion die Strasse. Sanja drückte die Einkaufstasche fest an ihren Körper und lief, so schnell sie konnte, nach Hause. Erst am nächsten Tag erfuhr sie, dass die Statue eines Kriegsgegners in die Luft gesprengt worden war.

Es war eine harte Zeit. Sie machte aus Sanja eine Kämpferin, die es gewohnt war, der Gefahr zu trotzen.

Als der Krieg endlich zu Ende ging, verliess Thomas Reusser mit seiner kranken Frau und seinen drei Kindern Serbien und kehrte in die Schweiz zurück. Dunja wurde in die Psychiatrische Klinik eingewiesen, wo sie sich nur langsam von ihrem Trauma erholte. Thomas Reusser fand eine Stelle als Arzt im Kantonsspital Luzern, die es der Familie ermöglichte, wenigstens finanziell ein sorgloses Leben zu führen. Aber auch er war nicht mehr derselbe. Für die Kinder, die um eine fröhliche und unbeschwerte Kindheit gebracht worden waren, erwies sich der Weg in die Normalität ebenfalls als schwierig. Sanja musste sich nach ihren traumatischen Erlebnissen psychologisch betreuen lassen. Sie litt unter Angstzuständen. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, sich laufend umzudrehen, weil sie sich verfolgt fühlte. Hinter allem witterte sie eine Gefahr. Ständig war sie in Alarmbereitschaft, litt unter Schweissausbrüchen, Zittern, Herzrasen und Atemnot. Mithilfe ihres Psychologen gelang es ihr in langen und intensiven Gesprächen, diese lähmende Angst zu bewältigen und ein einigermassen normales Leben zu führen. Vergessen konnte sie ihre traumatischen Erlebnisse nicht, die Panikattacken suchten sie aber nur noch bei seltenen Gelegenheiten heim.

Zum Glück hatte ihr Vater Schweizerdeutsch mit den Kindern gesprochen, sodass sie sprachlich keine Probleme hatten. Sanja verfolgte nur ein einziges Ziel. Sie wollte Hauptkommissarin bei der Mordkommission werden, und zwar die Beste. Sie wollte das Schlechte und Böse bekämpfen. Sie kannte nichts anderes, als sich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen. In zwei Monaten würde sie von Peter Caduff die Leitung der Mordkommission übernehmen.

Sie war bereit.

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