Kitabı oku: «Ein schönerer Schluss»
EIN SCHÖNERER SCHLUSS
BEKIM SEJRANOVIĆ
ROMAN
Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof
Inhalt
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Kapitel XLI
Kapitel XLII
Kapitel XLIII
Kapitel XLIV
Kapitel XLV
Kapitel XLVI
Kapitel XLVII
Kapitel XLVIII
Kapitel XLIX
Kapitel L
Kapitel LI
Kapitel LII
Kapitel LIII
Epilog
Anmerkungen
I
1.
Ich sitze in der alten Hütte auf Großvaters „Ranch“. Im Tal ist die Nacht hereingebrochen und hat die waldumhüllten Berge verschluckt. Hier bin ich schon geraume Zeit, ich fühle keine Unruhe mehr. Ich fühle mich wie ein Mensch, der einmal eine Geschichte schreiben wollte, was ihm aber nicht gelang, weil die Geschichte die Kontrolle über die Wirklichkeit übernahm. Es war nicht mehr klar, was wirklich ist, die Geschichte oder das Leben. Und ob das Leben die Geschichte schreibt, oder ob es vielleicht umgekehrt ist.
Ein Siebenschläfer rumort auf dem Dachboden ohne jede Rücksicht. Eines Nachts wurde ich wach und sah gerade noch seinen Schwanz, als er über die Kante der abgewetzten Couch sprang, auf der ich schlafe. Er verschwand in einem Loch in der Wand unter der Gardinenstange.
Die Glühbirne an der Decke geht an und aus, vermutlich ein Wackelkontakt. Die Wände der Hütte sind voller Löcher vom abgefallenen Putz. Darunter sieht man die Bretter, aus denen die Hütte eigentlich gemacht ist.
Die „Ranch“ ist ein Acker von siebeneinhalb dulum, den hatte Großvater gekauft, als er in Pension ging, um hier einen Pflaumengarten anzulegen. Ich erinnere mich an alles, aber das ist jetzt nicht wichtig. Weder Großvater noch Majka (so nannte ich Großmutter) gibt es noch, und auch meine Mutter, ihre Tochter, ist nicht mehr. Es gibt auch die „Ranch“ nicht mehr. Jetzt gibt es hier nur Gestrüpp und einen im Vergessen gefangenen Obstgarten. Das Anwesen gehört Tante Zika, die mich hier sein lässt, so lange ich will.
Ich weiß nicht genau, wann ich hergekommen bin, aber der Sommer ging seinem Ende entgegen, und die Pflaumen vergammelten, weil niemand da war, der sie aufgesammelt hätte.
Tagsüber surren die Wespen in Kampfformation und fressen sich an den überreifen saftigen „Ungarischen“ satt. Vögel in unterschiedlicher Größe und Farbe hüpfen krächzend in der ganzen Misere herum und picken mal die Früchte, mal sich gegenseitig. Auch irgendwelche fetten Heuschrecken kommen in Scharen, und diese lästigen winzigen Fliegen, die sich einem direkt ins Auge stürzen.
2.
Ich erzähle ein und dieselbe Geschichte schon zum wiederholten Mal, so als würde ich hoffen, dass mir einmal ein schönerer Schluss einfällt. Die Geschichte könnte mit dem Zeitpunkt einsetzen, als ich an jenem Oktobernachmittag, vor zwei Jahren, in die Save gefallen war.
Damals bin ich aus dem Fluss ans lehmige Ufer geklettert. Als ich den steilen, glitschigen Pfad hinaufstieg, glitt ich aus, platschte auf den Hintern und rutschte einen halben Meter zurück zum Fluss. Als ich endlich auf der Dammkrone war, zog ich Jacke und Hemd aus. Mein Körper dampfte.
Ich saß eine Zeit lang auf dem Boden, in Erwartung von irgendwas. Ich dachte, ich würde zu weinen anfangen, ich würde, wie in einem schlechten Film, hier am Flussufer Tränen vergießen und sie mir über die Wangen laufen lassen. Und mich dann beruhigen, die Tränen abwischen und lächeln. Mich vorsichtig erheben und langsam in die Zukunft hineinschreiten. Egal in was für eine. Aber das tat ich nicht. Ich saß am Ufer, nackt bis zum Gürtel, und sah zu, wie meine Brustwarzen steif wurden.
3.
Schon seit Längerem höre ich Stimmen. Es sind mehrere. Einzelne erkenne ich wieder und weiß, dass sie einem anderen Ich von mir gehören. Bei den anderen bin ich mir nicht sicher. Die kommen wie aus einem Abgrund herauf, melden sich ein oder zwei Mal und verstummen dann für immer.
Eine der bekannten Stimmen stänkert, dass sie sich nicht ganz sicher sei bei diesem, nennen wir ihn mal so, Versuch des Ertrinkens. Ihr scheint, dass ich nur ungeschickt ausgerutscht und in den seichten Schlick geplatscht bin. Sie nörgelt ätzend, ich hätte keine Eier für so was, worin ich ihr, wenngleich ungern, recht gebe.
Ich sehe mich auch selbst, wie ich nachdenklich, mit einer Zigarette in der Hand, am Ufer der Save stehe. Ich sehe auf den Fluss, ringsum ist das Krächzen der Krähen zu hören, in der Brust pocht das Herz immer stärker. Ich fühle, wie mich der Zigarettenrauch erstickt, ich weiß, dass mich jetzt dieser Anfall heimsucht, mit dem ich schon seit Jahren lebe, von dem ich nur nicht weiß, wie ich ihn nennen soll. In Panik werfe ich die Zigarette vor mir in den Lehm und trete sie mit der Sohle meines Turnschuhs aus. Ich sehe meinen Fuß, wie er sich bewegt und wie der Boden unter ihm nachgibt. In dem Moment begreife ich, dass ich in den Fluss stürze.
Der Kontakt mit dem kalten Wasser bringt mich zu Bewusstsein. Wütend schwimme ich zu dem einen halben Meter entfernten Ufer, bevor ich begreife, dass mir das Wasser gerade mal bis zur Hüfte geht.
II
1.
Ich sitze in der Hütte, zünde ein Streichholz an und zähle bis fünf. Die Flamme beleckt die Fingerspitzen, und der Schmerz ist da. Auf ihn kannst du dich verlassen.
Ich erwarte den Ruf der Eule, der jede Nacht aus dem nahen hohlen Birnbaum kommt.
Ich habe immer wieder versucht, mir selbst zu erzählen, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, aber es ist mir nicht gelungen. Die Geschichte änderte sich je nachdem, welche von meinen Stimmen sie erzählt. Die eine Stimme vergisst immer wieder einzelne Episoden, während sie bei einer anderen einen zentralen Platz einnehmen.
Aber ich hatte in Großvaters Hütte auch zu viel Zeit zum Nachdenken. Ich fing an zu glauben, dass alles, was erst noch zu geschehen hatte, genau genommen schon geschehen war. Ich bildete mir ein, ich könnte, indem ich die Vergangenheit analysiere, die Zukunft vorhersehen.
2.
In jenem Oktober vor zwei Jahren rappelte ich mich von dem lehmigen Boden auf, wrang dass nasse T-Shirt aus und zog es wieder an. Durch das nasse Gewebe zeichneten sich meine Brustwarzen ab. Wieder musste ich an meine Ex und ihre Brüste denken. Sie waren nur wenig größer als meine, aber sie hatten eine ganz andere Form und Poetik. Brustwarzen spitz zulaufend und hart wie auf den preußischen Pickelhauben aus dem Ersten Weltkrieg. Wenn du hineinbeißt, brechen dir die Zähne, fallen dir die schlecht gearbeiteten Amalgamplomben raus.
In dieser Zeit versuchte ich nicht an sie zu denken, sie wie eine unangenehme Erinnerung zu vergessen. Du hast sie nicht geliebt, du hast sie wirklich nicht mehr geliebt, sagte ich zu mir.
– Die Frage ist, ob du sie überhaupt jemals geliebt hast – meldete sich eine Stimme aus dem finstersten Winkel meines Bewusstseins.
– Nein, die Frage ist, ob er überhaupt jemanden lieben kann – kam die heisere Stimme eines Psychiaters aus einer anderen Ecke.
– Er liebt sich, er liebt nur sich. Sich selbst! – krächzte eine neue, unbekannte Stimme.
– Sich selbst noch am wenigsten – stellte der Psychiater endgültig klar.
Die Stimmen verfolgen mich, seit sie mich verlassen hat. Ich hatte es noch ein paar Monate in Oslo ausgehalten, wo ich an der Uni arbeitete, aber dann hatte ich gegen Ende des Wintersemesters den Rucksack gepackt, das ganze Geld vom Konto abgehoben und war nach Brasilien geflüchtet. Ich irrte eine Zeit lang ohne bestimmtes Ziel umher, um mich nach ein paar Monaten in Morro do São Paolo im Norden des Landes einzunisten. Dort verliebte ich mich in ein Mädchen, das so etwas wie eine Doppelgängerin meiner Ex war. Als ich sie zum ersten Mal sah, konnte ich es kaum glauben. Die gleiche hohe Stirn, die gleichen frechen Augen, die vollen Lippen, der biegsame Körper, der sich im Takt der Musik bewegt, und der gleiche magere, fast nicht vorhandene Hintern. Nur dass sie eine Schwarze war. Wir liebten uns über zwei Monate, und die Stimmen in mir verstummten. Schon fing ich an zu fantasieren, sogar zu planen, für immer auf der Insel zu bleiben. Ich sah schon einen Haufen dunkelhäutiger Kinder vor mir, wie sie einander auf den endlosen Sandstränden jagen. Und dann kam sie eines Tages ganz verweint an und sagte, sie müsse weiter. Sie erklärte mir unter Tränen, die aufrichtig zu sein schienen, dass ihr Mann im Gefängnis sitze und sie sich um ihre drei Kinder kümmern müsse, die in einem kleinen Städtchen im entlegenen Mato Grosso bei ihrer Mutter auf sie warten. Ich begriff nichts, ich versuchte sie mit Küssen und sanften Worten in schlechtem Portugiesisch zu beruhigen. Am Ende wurde sie von Hysterie gepackt, sie fing an zu schreien, wie widerlich Brasilien und wie dumm ich sei und dass ich dorthin verschwinden solle, woher ich gekommen bin. Als sie sich beruhigt hatte, verlangte sie Geld. Ich gab ihr, so viel ich hatte. Sie küsste mich, bedankte sich und ging.
Danach waren die Stimmen in meinen Kopf wieder da, und ich kehrte, nach weiteren Monaten des Umherirrens in Brasilien, nach Oslo zurück. An der Uni erwartete mich die Kündigung, weil ich mehr als ein halbes Jahr gefehlt und mich bei niemandem gemeldet hatte. Vielleicht hätte sich etwas machen lassen, Professor Pettersen, mein Mentor, mochte mich, aber es hatte keinen Sinn. Ich wusste, dass ich bei der ersten Gelegenheit, sobald ich genügend Geld zusammenhätte, wieder verschwinden würde.
Bis zum Herbst hielt ich es in Oslo irgendwie aus, zumeist den ganzen Tag arbeitend. Wenn es Arbeit gab, als Übersetzer, und wenn es keine gab, als Bauarbeiter. Im Herbst packte mich wieder die Unruhe, und so ging ich erneut weg, zuerst nach Kroatien, dann nach Bosnien. Ich dachte auch daran, wie es wäre, mich in die Save zu stürzen und einfach zu verschwinden, aber das ist nicht leicht. Dabei bin ich ausgerutscht und in den schlickigen Fluss gefallen.
3.
Damals, vor zwei Jahren, ließ ich die Save hinter mir. Ich ließ das Haus und die Straße und das Viertel hinter mir, in dem ich Kind gewesen bin, und mir selbst näher als zu irgendeinem Zeitpunkt danach. Ich ließ die zerfallenen Mauern hinter mir, die verdorrten Gärten, die Grabsteine und Gräber auf den ausgewaschenen Fluren.
Nach meinem Sturz in die Save verspürte ich immerhin eine vage Hoffnung. Ein armseliges, schwaches Flämmchen begann in mir zu glimmen. Ich wusste noch nicht genau, was ich tun würde, auch nicht wie, aber für den Anfang streifte ich mir die nassen Sachen vom Leib und zog mich um, setzte mich in Großvaters „Grünen Heinrich“, unseren Zastava 101, und fuhr in Richtung Split. Den Grünen Heinrich hatte mir Großvater im Testament hinterlassen. Kurz vor Mostar blieb er stehen und wollte nicht mehr. Daraufhin ließ ich ihn stehen, die Schlüssel im Zündschloss, marschierte mit dem Rucksack auf dem Rücken die Straße hinunter und versuchte es per Anhalter. Natürlich hielt niemand. Auf dieser Straße fahren die Leute wie die Verrückten.
III
1.
Vorm Morgengrauen werde ich plötzlich wach, nass vor Schweiß. Im ersten Moment begreife ich nicht, wo ich bin, mein Herz im Brustkorb hämmert feindlich. Die Reste des Traums tanzen noch ausgelassen in Großvaters Hütte, ich stehe rasch auf, ziehe den Vorhang weg, um etwas Helligkeit ins Zimmer zu lassen. Durchs Fenster dringt bleiches Licht, es reicht nicht aus, um die Schrecken des Traums zu verscheuchen.
Der Traum: Ich bin ein böser Geist. Mich jagen drei gute Geister. Wir fliegen wie Kometen durch ein großes Gebäude, das mich an meine Grundschule erinnert, „Nationalheld Zaim Mušanović“. Sie jagen mich, wie wütende Jäger die Beute jagen, die ihnen schon viele Male um ein Haar entkommen ist. Ich weiß, wenn sie mich fangen, ist alles vorbei. Während wir wütend durch die langen Korridore fliegen, die Treppen rauf und runter, durch die bekannten Schulräume, drohen sie und sagen mir, was mich alles erwartet, wenn sie mich zu fassen kriegen, aber ich schneide nur Grimassen und beschimpfte sie mit allem, was mir einfällt. Einer folgt mir wie ein Pfeil zum geschlossenen Fenster; ich drehe abrupt ab und er knallt gegen die Scheibe. Ich öffne das Fenster, stoße den guten Geist hinaus, dann schließe ich es wieder und zische wie ein Geschoss durch die Aula, wo wir einmal neben dem Tito-Bild Ehrenwache gehalten haben. Die anderen beiden guten Geister krümmen sich vor Schmerz und Wut. Sie schreien und heulen, fluchen, speien Gift und Galle. Ich heiße sie alles Mögliche, aber ich spüre Angst in mir aufsteigen, Panik, die meinen immateriellen Körper überkommt, und plötzlich weiß ich, dass ihre Drohungen nicht leer sind, dass sie sich früher oder später bewahrheiten werden.
Solche Wachträume suchen mich gewöhnlich heim, wenn ich aufhöre, Haschisch zu rauchen. An die zehn Jahre habe ich jeden Tag geraucht, mit kurzen Unterbrechungen. Manchmal habe ich aufgehört, weil ich keinen Nachschub kriegen konnte, und manchmal, um einen klaren Kopf zu kriegen. In den letzten Jahren habe ich, wann immer ich mit dem Rauchen aufgehört habe, nachts geschwitzt. Dieser Schweiß ist klebrig und hat einen süßsäuerlichen Geruch. Du träumst nicht, wenn du rauchst. Wenn du aufhörst, kommen die Träume zurück.
2.
In jenem Oktober vor zwei Jahren flog ich zurück nach Oslo. Im Flugzeug bemühte ich mich, den Menschen um mich herum nicht ins Gesicht zu sehen, nicht ihre Stimmen zu hören; mich interessieren ihre traurigen Geschichten nicht, wie sie den Urlaub verbracht haben, wie viel sie für ihre Unterbringung bezahlt haben, und wie viel für die Kalmare vom Grill in einer Konoba auf Hvar. Ich nehme ein Bier, öffne es und schütte die halbe Dose einem jungen Norweger über die Hose, der neben mir sitzt und sich bis eben noch begeistert mit seinem Mädchen unterhalten hat. Sie ist ungesund mager, mit Einlagen im BH und kleinen roten Pickeln im Gesicht, die sie erfolglos unter Puder zu verstecken versucht. Der junge Mann sieht mich überrascht an, dann böse. Er beginnt mit der Hand den Schaum von der Hose zu wischen und flucht laut im nordnorwegischen Dialekt. Ich schweige und sehe ihn an, wie der Mensch eine Nisse ansieht, die ihm einen halben Liter Blut abzapft, bevor sie sich in eine Laus verwandelt. Ich nehme einen Schluck Bier, dazu ein Valium, und drehe den Kopf zur anderen Seite.
Bevor ich in die Seligkeit der Bewusstlosigkeit sinke, denke ich noch, dass es das Beste wäre, wenn das Flugzeug abstürzen würde, sobald ich eingeschlafen bin. Irgendwo in den Alpen, wenn möglich.
3.
Ich wache auf, bevor das Flugzeug auf dem Flughafen Gardermoen landet, fünfzig Kilometer von Oslo entfernt. Mich durchströmt eine Welle der Angst, deren wahre Quelle ich nicht kenne, die mir aber nur zu gut bekannt ist. Es war immer so: Diese Angst war immer da, diese Unzufriedenheit mit mir und dem Rest der Welt.
Es war eigentlich tragikomisch. Wenn ich in Norwegen war, ging mir alles auf die Nerven: die norwegische Musik und ihre Musiker, die Literatur und ihre Schriftsteller, die Schlagzeilen der Zeitungen, die Fernsehnachrichten, die norwegische Sprache und alle Dialekte, die norwegische Geschichte, Geografie, Natur, Berge und Fjorde, die endlosen dunklen nordischen Winter, die endlosen Sommertage, die norwegischen Gesetze, die Regierung, der König, die Königin, Prinz und Prinzessin, die Menschen auf der Straße, langweilige, altkluge Knaben und eingebildete kleine Mädchen, frustrierte Mädchen mit aufgepumpten Backen und hochgeschnürten Titten, schwachbrüstige, komplexbeladene Jünglinge, um vom Fußball und von der Politik gar nicht zu reden.
Gleichzeitig war alles, was mit dem Balkan zu tun hatte, quasi ideal: Die Menschen sind direkt, warmherzig, rebellisch, sie haben nicht diesen norwegischen Schafsgehorsam, dich engt nicht dieses Spinnennetz aus Vorschriften ein, es herrschen Trägheit, Lässigkeit und Chaos, eine fruchtbare Zigeunerei, die gerade so, wie sie ist, mit all ihren schlechten Seiten, einem menschlichen Wesen doch näher steht als eine metallisch kühle, perfekt organisierte und in jedem Detail pedantisch kontrollierte Gesellschaft. Chaos ist Leben, überlegte ich in einem meiner gemieteten Zimmerchen im Osten Oslos. Ich zündete mir einen Joint nach dem anderen an und kam zu dem Schluss: Das Chaos perfektionieren bedeutet, nach dem Nichts zu streben. Ich hörte balkanische, orientalische oder afrikanische Musik, las Bücher in „unserer“ Sprache, kaufte Zeitungen, verfolgte die Nachrichten.
Es war viel Wahres an meinem Herumgefurze, aber es zwang mich niemand, in Norwegen zu bleiben. Ich konnte auf den Balkan zurückkehren. Und es war ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte, aber gerade in solchen Momenten hatte meine innere Maschine einen Verreiber. Wenn ich nach Kroatien, Bosnien, Serbien, Montenegro, Mazedonien fuhr, kriegte nach den ersten Wochen, in denen ich Freunde traf und auf ausgelassene Partys ging, alles ein anderes Aussehen. Das zerklüftete Norwegen ebenso wie der bergige Balkan. So erwachte ich eines Morgens in Rijeka, Split, Zagreb, Sarajevo, Mostar, Tuzla, Belgrad, Novi Sad, egal, zumeist verkatert, ausgepumpt, mit einem durch irgendeine Droge eingeschränkten Bewusstsein, und plötzlich stellte sich alles auf den Kopf. Mich überkam eine Mischung aus Ekel und Panik, ein Gefühl völligen Versagens. Nach zwei Wochen verzog ich mich in die Einsamkeit, hörte norwegische Musik, las Bücher auf Norwegisch, und wenn ich mich doch einmal betrank, fing ich an, über die Schönheit der norwegischen Natur zu philosophieren, über ihre elaborierte Kultur, ihre entwickelte Demokratie, den Klassenfrieden und all den anderen Kram.
Der Schluss des Traums: Die beiden übrig gebliebenen guten Geister holen mich ein, ich spüre ihre Wut, ich höre ihr geiferndes Knurren, schon strecken sie ihre hässlichen Greifer nach dem dünnen, gasförmigen Schweif aus, den ich hinter mir herziehe, während ich so schnell ich kann die Richtung ändere. Ich werde müde, ich fühle meine Kräfte nachlassen, vielleicht habe ich auch verdient, womit sie mir drohen, vielleicht würde ich sogar anhalten; aber dennoch würde ich gern wissen: weshalb? Das alles ist nur deshalb so schrecklich, weil ich nicht dahinterkomme, weshalb ich ein böser Geist bin und sie die guten, weshalb ich der Fliehende bin und sie die Verfolger, weshalb ich Angst habe und sie stark und hochmütig sind. Wir fliegen weiter, ich erkenne die Räume und das Gebäude nicht mehr, wir kommen ganz nach oben, ich fliege aufs Dach hinauf, dort ist ein großer Schornstein, und ich habe das Gefühl, dass ich mich hier vielleicht für einen Moment verstecken und ausruhen könnte. Ich husche unhörbar in ihn hinein, fliege durch dichtes rußiges Dunkel. Dann wache ich schweißgebadet auf.
Voller Grauen begreife ich, dass diese Welt nur ein finsterer Schlot ist, in dem ich mich für einen Moment vor den Verfolgern verborgen halte.