Kitabı oku: «Angst am Abgrund», sayfa 2
Dienstagvormittag, 4. September
Völlig übermüdet stand Jao Baptista auf. Als er sich selbst im Badezimmerspiegel betrachtete, bekam er einen Schreck. Seine Augen waren gerötet und seine Haut wirkte beinahe grau. Er stellte nüchtern fest, dass die Reise ihm nicht gut bekam. Vielleicht war er auch einfach schon zu alt, dachte er bei sich. Aber seine jüngeren Kollegen waren noch nicht so erfahren wie er.
Um halb acht war er mit Gianluca in der nahe gelegenen Bar zum Frühstück verabredet. Als Jao Baptista nach einigen Minuten einen Caffè mit einem der leckeren Cornetti in seinem Magen hatte, fühlte er sich wieder erstaunlich gut.
»Wie sollen wir beginnen?«, fragte Gianluca.
»Mit dem Tatort und der Leiche«, antwortete Jao sofort.
Er würde niemals mit etwas anderem starten.
»Die Gerichtsmedizin hat bis zwölf Uhr geöffnet. Danach wieder ab fünf Uhr. Am besten, wir fahren erst nach Agerola und laufen ein wenig den Sentiero degli Dei entlang. Das wird etwas anstrengend sein und dauern. Danach erholen wir uns ein wenig und sind nachmittags in der Gerichtsmedizin.«
Baptista nickte.
»Am Freitag und Samstag«, fuhr Gianluca fort, »muss ich mich um die Taufe kümmern. Dann kann dich ein Kollege begleiten.«
Wieder nickte Baptista. Er würde sich noch einen Plan für die nächsten Tage aufstellen. Sie stiegen in den Fiat Punto und fuhren Richtung Agerola. Die engen Haarnadelkurven führten zügig vom Ufer nach oben. Schnell wurde Höhenmeter um Höhenmeter überwunden.
»Noch vor fünfzig Jahren«, erzählte Festevola, »waren einige kleinere Dörfer hier an der Küste lediglich über Treppen mit der Außenwelt verbunden, beispielsweise Pergola. Und auch heute noch sind die Treppen für einige Verbindungen viel kürzer als die Straßen. Von Amalfi bis hierher nach Furore, wo wir gerade durchfahren, sind es tausend Stufen.«
Baptista wollte etwas sagen, hielt dann aber inne, weil ihm wieder übel wurde. Nach einer Viertelstunde kamen sie am Ortsrand von Agerola an. Festevola steuerte zielsicher auf eine Bar zu, um seinen zweiten Caffè zu sich zu nehmen. Baptista trank einfach ein Glas Wasser.
»Wie groß ist Agerola?«, fragte er.
»13.000 Einwohner. Im Gegensatz zu der überlaufenen Küste verirren sich hier nur wenige Touristen hin. Es ist ein richtiges Bergdorf. Die Hänge sind terrassiert und werden landwirtschaftlich genutzt. Aber das siehst du gleich selbst.«
Wieder stiegen sie in den Fiat und fuhren ein kurzes Stück durch enge Dorfstraßen. Die Seitenspiegel klappte der Polizist gleich zu Beginn ein. Am Ende der Straße gab es zwei Parkplätze und sie stiegen aus.
»Jetzt laufen wir besser ein Stück.«
Sie überquerten einen Bach über eine alte Holzbrücke. Einige Schilder zeigten den Wanderern, dass sie nun auf dem Sentiero degli Dei wandelten und bis in das sieben Kilometer entfernte Positano gehen könnten. Die ersten Stufen ließen das Spektakel noch nicht erahnen. Doch plötzlich wurde der Blick in ein steil abfallendes Tal frei. Weit unten konnte man das Meer erkennen und neben ihnen türmten sich Felswände bis in den Himmel auf. Einige Hunde kläfften.
Sie liefen einen Feldweg entlang, bis ein rotweißes Polizeiband die Unglücksstelle markierte. Dort endete auch der Feldweg und ein kleiner Pfad begann sich am Berg entlangzuschlängeln und verschwand entfernt hinter einem Berg.
»Ist Jefferson häufig gewandert?«, fragte Baptista.
»Auf jeden Fall war er ein sportlicher Mann. Das wurde uns in seinem Hotel von den Angestellten so gesagt.«
»Wo befindet sich denn das Hotel?«
»In Ravello. Fünf-Sterne-Luxusklasse. Wir könnten heute Abend dorthin und in dem Ristorante speisen – allerdings nur, wenn Sie es auf die Spesenrechnung setzen dürfen.«
Das Handy von Festevola klingelte.
»Pronto. Si … einen Moment.«
Er gab Baptista ein Zeichen, dass er kurz telefonieren müsste. Der Commissario ging vorsichtig an den steilen Rand und blickte auf die Absturzstelle hinunter. In seinem Kopf stellte er sich Jefferson vor, wie er mit einem gepflegten Anzug aus einem teuren Wagen ausstieg, begleitet von seinem Mörder. Sie liefen langsam den Pfad entlang und sprachen über Geschäfte. Der Abendwind pfiff um ihre Ohren und der würzige Geruch von verbrannten Feldabfällen lag in der Luft. Jefferson merkte nicht, wie sich sein Gesprächspartner etwas zurückfallen ließ und einen Revolver aus seiner Jacke zog. Übertönt durch die Windgeräusche fiel ein gedämpfter Schuss. Jeffersons Begleiter schnitt der Leiche die Finger ab, stach die Augen aus und stieß den Körper den Abhang hinunter. So könnte es abgelaufen sein.
Für Baptista wirkte der Ablauf wie ein Ritual. Würde man sonst diesen Ort für einen Mord aussuchen. »Der Weg der Götter«, gibt es einen größeren Symbolcharakter?
Jao zuckte zusammen, als Gianluca plötzlich hinter ihm auftauchte. Er stolperte ungelenk auf den Abgrund zu, knickte mit dem Fuß um und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ein Augenblick schwindelte ihn und er dachte, dass er in die Tiefe stürzen würde. Aber nichts geschah. Er ließ die Brüstung wieder los.
»Hast du dir weh getan?«, fragte Gianluca erschrocken und sprang zu Jao.
»Nein, nein. Es geht schon.«
Humpelnd stand Jao auf und wehrte die Stützversuche von Gianluca vehement ab. Mit jedem Schritt zum Wagen zurück spürte er jedoch, wie sein Knöchel anschwoll. Er hatte ihn gestaucht und es würde einige Tage dauern, bis er wieder schmerzfrei gehen konnte. Er biss sich vor Schmerz und Wut auf die Lippen.
Dienstagmittag, 4. September
Das Mittagessen könne man gut bei seiner Cousine bekommen, schlug Festevola vor. Baptista nickte lediglich, weil er innerlich mit seinem Knöchel beschäftigt war. Er würde sich aufblähen wie ein Luftballon. Wie sollte er damit die Treppenstufen zu seinem Apartment überwinden, geschweige denn die Zugänge zum Tatort?
Er war so in seinen Gedanken versunken, dass ihm bei der Fahrt nicht einmal übel wurde.
»Wir sind da«, verkündete Festevola.
Wieder stand Baptista vor dem Haus, aus dem gestern der Geburtsschrei gekommen war.
»Soll deine Cousine uns nach der Geburt wirklich etwas kochen?«, fragte Baptista.
»Auf keinen Fall«, antwortete Gianluca. »Das macht meine Schwester. Aber jetzt komm, das Essen wird sonst kalt.«
Als Baptista den Fuß vorsichtig auf die Straße setzte, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Festevola kam ihm zu Hilfe und stützte ihn die enge Treppe hinauf. Jede Stufe knirschte und sie standen vor einer Tür mit einem Kreuz, hinter der sich offenbar ein turbulentes Leben abspielte. Festevola klopfte, der Lärm wurde kurz etwas leiser und eine Frau mit offensichtlicher Ähnlichkeit zu Festevola öffnete die Tür. Baptista schätzte sie auf vierzig Jahre und sie hatte ebenfalls Gianlucas Nase, allerdings deutlich kleiner.
»Da seid ihr ja«, begrüßte Viola Festevola die beiden und umarmte ihren Bruder. »Mein Bruder hat mir schon alles von Ihnen erzählt. Kommen Sie, wir feiern ein wenig die Geburt des kleinen Filippe Alessandro, kein großes Festessen, aber doch eine Kleinigkeit.« Die beiden wurden in das Wohnzimmer geschoben, in dem sich Gianlucas Cousine Giovanna und zwei ihrer Freundinnen befanden. Alle sahen mitleidig auf Baptistas humpelnden Fuß.
»Es geht schon«, sagte Baptista zur Begrüßung. Festevolas Schwester brachte ihm einen Stuhl, auf den sich Jao sofort fallen ließ. Er sah in die Runde und auch Festevolas Cousine hatte die Familiennase, die allerdings in ihrem jungen Gesicht mit tiefschwarzen Wimpern und dunklen freundlichen Augen etwas Graziles hatte.
Gianluca lief in eines der Nebenzimmer und holte den winzigen, in ein enges Tuch gewickelten Filippe Alessandro. Stolz zeigte er ihn Jao.
»Ist er nicht unglaublich süß?«, fragte Gianlucas Schwester.
Baptista nickte natürlich.
»Und er kommt ganz nach dem Vater!«, sagte Festevola. »Leider ist Federico gleich wieder gefahren. Auf Capri ist noch Saison und Federico arbeitet dort in einer Bar.«
»Er kannte übrigens den toten Jefferson«, sagte Giovanna.
»Was?«
»Diese reichen Typen machen immer Ausflüge nach Capri. Und der Kerl hat mehrmals eine Lokalrunde geschmissen.«
»Das hast du mir nicht erzählt«, sagte Gianluca vorwurfsvoll zu seiner Cousine.
»Ich hatte andere Dinge zu tun«, erwiderte sie etwas schnippisch und zeigte auf das Baby.
»Vielleicht können wir mit ihm reden«, schlug Jao vor. »Das wäre bestimmt hilfreich.«
»Dann müsst ihr nach Capri. Federico wird erst in zwei Wochen wieder hier sein.«
Viola kam mit einer Schüssel Pasta herein. Es duftete nach Olivenöl und darin angebratenen Kräutern.
»Heute gibt es Auberginen und Zucchini«, erklärte sie beinahe belanglos.
Baptista lief von dem Geruch das Wasser im Mund zusammen. Die Auberginen und Zucchini waren mit Zwiebeln in Olivenöl geschmort. Dazu kamen in Honig geröstete Pinienkerne, frisches Basilikum, ein Spritzer Zitrone und grob geriebener Parmesan.
Sie stellte die Schüssel auf den schweren Holztisch. Ihr Bruder holte in der gleichen Zeit Besteck und Teller.
»Wann wirst du wieder arbeiten?«, fragte Gianluca seine Cousine beim Essen.
»Sie arbeitet hier in dem kleinen Laden, der meiner Schwester gehört«, ergänzte er für Jao.
»Ich wollte keine lange Pause machen. Ich kann mich doch mit Filippe wunderbar in den Laden setzen. Im September ist die Saison ohnehin vorbei.«
»Aber die Wintergäste reisen an.«
»Wintergäste?«, fragte Baptista erstaunt.
»Ein bisschen Saison ist hier immer«, sagte Giovanna.
Baptista sagte nichts. Er hatte den ersten Bissen im Mund und seine Geschmacksknospen sorgten für die Ausschüttung von Glückshormonen. Danach gab es Caffè für alle aus einer großen Caffètiere.
Jao war satt und müde. Er wollte in sein Apartment zurück.
»Ich fahre dich«, bot Gianluca an.
»Unsinn.«
»Du findest es nicht.«
»Doch doch.«
Gianluca war jedoch völlig anderer Meinung und ging mit dem schmerzhaft humpelnden Baptista im Zeitlupentempo einige verwinkelte Treppen nach oben. Die Strecke mit dem Auto war im Vergleich unendlich viel länger, da man erst über Serpentinen zum Apartment gelangen konnte.
»Ruh dich aus. Heute Nachmittag hole ich dich ab, damit wir zur Leichenhalle gehen können«, sagte Gianluca.
Als Jao endlich auf seinem Bett lag, hatte er das Gefühl, sein Knöchel würde gleich platzen. Der Schmerz zog sich durch den ganzen Körper und das gesamte Bett schien mit seinem Pulsschlag zu vibrieren. Schließlich schlief er ein.
Dienstagabend, 4. September
Baptista wachte pünktlich um fünf Uhr auf. Er lag mit seinem pochenden Knöchel auf dem Bett und überlegte erneut, wie er damit an einer Steilküste, die teilweise nur auf Treppen zu begehen war, überhaupt ermitteln sollte.
Wie hatte man so eine Situation vor hundert Jahren in Amalfi gehandhabt? Etwa wenn man sich bei der Arbeit verletzt hatte? Jemand musste den Verletzten die Treppen hinauf- und hinabgetragen haben. Oder blieben die Menschen einfach im Haus? Vielleicht hatten sie sich einfach nicht verletzt.
Dieser letzte Gedanke gefiel Baptista. Wahrscheinlich hätte ein Tollpatsch wie ich nicht lange überlebt, dachte er. Er musste selbst lächeln. Es klopfte. Gianluca stand mit dem Auto bereit.
»Die Leichenhalle ist außerhalb der Stadt. Wir müssen fahren.«
Sie stiegen ein, fuhren fünf Minuten und hielten wieder an. Baptista sah Festevola überrascht an.
»Wir sind schon außerhalb. Dieses Gebäude ist es.«
Sie standen vor einem kleinen Haus.
»Früher war es Teil der Papiermühle von Alessio. Er hat die Gebäude einzeln verkauft.«
»Gibt es noch Papiermühlen, die in Betrieb sind?«
»Nur aus Liebhaberei.«
»Vielleicht kann ich mir einmal eine ansehen. So etwas bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht.«
»Ich kümmere mich darum.«
Gianluca klopfte gegen die verwitterte Holztür. Die Türe öffnete sich mit einem herzzerreißenden Quietschen. Es kam ein Mann zum Vorschein, der problemlos den Glöckner von Notre-Dame hätte spielen können. Er hatte einen stark gebeugten Gang und einen Buckel. Seine Haut schien im Salzwasser gelagert zu haben. Sie hatte tiefe Furchen und dunkle Flecken.
»Da seid ihr ja«, sagte er mit einer krächzenden Stimme.
Mit einer einladenden Geste bat er die beiden Herren herein.
Ein düsterer, feuchter Raum umfing sie. Als sich die Türe hinter ihnen schloss, hatte Jao das Gefühl, in einer Gruft gelandet zu sein.
»Geh doch mal vor, Marco«, sagte Festevola.
Mit schlurfenden Geräuschen ging Marco eine Treppe nach unten. Überraschenderweise war dort eine hochmoderne Edelstahltür. Marco tippte mit seinen Gichtfingern einen Code ein und die Tür glitt geräuschlos zur Seite.
»Dann wollen wir mal«, sagte er und ging vor.
In einem kleinen Raum, der in der Mitte mit einer Glastür getrennt wurde, lag auf einer Metallbahre der Tote, noch verhüllt von einem Laken. Die drei tupften sich vor Betreten des Raums noch etwas Pfefferminzbalsam unter ihre Nasen. Dann öffnete Marco die Tür und enthüllte den Körper. Aus der Totenakte las er vor: »Jefferson. David Kaviar. Fünfundvierzig Jahre alt. Todeszeitpunkt: 26. August gegen vier Uhr. Oberschenkelfrakturen in beiden Beinen. Trümmerbruch der rechten Schulter. Schädelfraktur. Kopfschuss durch den rechten Stirnlappen. Kugelaustritt am Hinterkopf. Todesursache Kreislaufversagen.«
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Baptista.
»Jefferson. David …«, begann Marco genervt zu wiederholen.
»Nein. Die Todesursache.«
»Kreislaufversagen.«
»Wie sicher sind Sie?«
»Absolut sicher.«
»Wieso starb Jefferson nicht an seinen Verletzungen?«
»Weil er schon vorher tot war. Sonst hätten ihn die Schädelfraktur oder der Kopfschuss umgebracht.«
Die beiden Polizisten sahen sich an.
»Wie lange weißt du das schon?«, fragte Gianluca.
»Die Ergebnisse aus Napoli haben etwas gebraucht. Seit gestern.«
»Warum hast du nicht sofort angerufen?«
»Mein Onkel brauchte Hilfe.«
Gianluca sah Marco mit einem tödlichen Blick an. Dann lachten beide.
»Verstehe.«
Baptista verstand nichts. Er verstand nicht, wie man in Gegenwart einer Leiche Witze machen konnte, er verstand nicht, warum die Hilfe für den Onkel so wichtig war. Es interessierte ihn im Augenblick auch nicht. Das Gesicht des Toten nahm ihn vollkommen gefangen. Der Gerichtsmediziner hatte auf die ausgestochenen Augen Wattepads gelegt. Baptista fühlte sich an eine Schönheitsbehandlung erinnert.
Jefferson sah jünger aus als fünfundvierzig. Seine Haut war faltenlos und gleichmäßig gebräunt. Er schien viel Wert auf sein Äußeres gelegt zu haben. Seine Gesichtszüge hatten etwas Weiches, sein eher länglich gezogenes Gesicht etwas Engelsgleiches, Unschuldiges.
»Hatte Jefferson ein angegriffenes Herz? Hatten Sie die Möglichkeit, seine Krankenhistorie zu bekommen? Manager aus London sind doch bestimmt herzinfarktgefährdet.«
»Die Akten habe ich angefordert, aber noch nicht erhalten«, sagte Gianluca.
»Nach meiner Meinung war er topfit«, sagte der Arzt. »Er sieht nicht nur äußerlich jung aus. Auch sein Herz ist sehr viel besser in Form, als in diesem Alter üblich. Gifte wurden im Blut auch nicht gefunden.«
Er machte eine kurze Pause.
»Das heißt jedoch nicht viel. Man hat heute eine breite Palette an nicht nachweisbaren Giften.«
Die Leiche irritierte Baptista immer noch. Etwas an dem Körper schien ihm fremd, wie außerirdisch. Festevola wollte mit dem Mediziner noch etwas besprechen und sie traten zur Seite. Baptista hatte so die Gelegenheit, die Leiche in Ruhe aus der Nähe anzusehen.
Der Brustkorb war selbst in diesem Zustand noch deutlich als gut trainiert zu erkennen. Ebenso hatte Jefferson kräftige Oberarme und Beine.
Baptista stieß gegen eine Schachtel mit Mullbinden. Sie fiel auf den Boden. Unwillig kniete sich Baptista hin und sammelte die Mullbinden wieder ein. Dabei kam er gegen den Arm von Jefferson, der wie in Zeitlupe von der Liege fiel. Als Baptista wieder aufstand, fiel ihm an der Leiche ein Fleck in der Achselhöhle auf. Der Fleck war daumengroß und hatte eine ungewöhnliche Farbe, ein beinahe fluoreszierendes Grün. Er rief den Leichenarzt.
»Was ist das für ein Fleck?«
»Ist mir auch aufgefallen. Kann ich aber nicht erklären. Ich brauche die komplette Krankenakte dazu.«
Baptista nickte. »Ich schlage vor, wenn die Akten da sind, gehen wir Ihren Bericht noch einmal durch.«
»In Ordnung.«
Der Leichenarzt führte sie an die knarzende Tür zurück. Baptista war froh, als er wieder draußen war.
»Am besten trinken wir erst einmal einen Caffè«, schlug Festevola vor. »Dann fahren wir nach Ravello und essen etwas in dem Hotel, in dem Jefferson bis zu seinem Tod gewohnt hat.«
Baptista humpelte die wenigen Schritte zum Wagen und war sehr froh, dass Italiener dazu neigen, auch kürzeste Strecken mit dem Auto zurückzulegen. Wie üblich wurde Gianluca laut begrüßt, als sie an der Bar ankamen. Baptista wurde mehr oder weniger ignoriert, allerdings tauchte der Caffè seine Gehirnzellen ohnehin in einen leicht rauschhaften Zustand.
Die Sonne ging schlagartig gegen acht Uhr unter und das eben noch sonnengefärbte Amalfi tauchte in eine beinahe düstere Nachtstimmung. Obwohl die Straßenlaternen ein romantisches Flair erzeugten, drückten die steilen Berghänge Baptista auf das Gemüt.
Ohne dass es einen sichtbaren Akt der Bezahlung gab, stand Gianluca auf und ging mit Jao zum Wagen.
»Wie weit ist es nach Ravello?«, fragte Baptista.
»Beinahe sieben Kilometer.«
Baptista erwartete eine kurze Fahrt. Nachdem sie jedoch von der Strada Statale Amalfitana, die direkt am Ufer entlangführte, in die Berge nach Ravello abbogen, wurde die Straße zu einer Serie von Haarnadelkurven, die in der Dunkelheit lebensgefährlich wirkten.
Allmählich verstehe ich die Reichen, die hierherkommen, dachte Baptista. Ihr Leben verläuft auch in Haarnadelkurven am Abgrund. Die Costiera Amalfitana ist wie ihr eigenes Leben. Überall gefährliche Kurven mit Abgründen, ständig die Angst vor dem Absturz oder Blockaden.
Erneut mussten sie warten, bis sich zwei entgegenkommende Busse aneinander vorbeigequetscht hatten. Obwohl physikalisch scheinbar unmöglich, ging es doch immer weiter.
»Das ist hier halt so«, sagte Festevola lethargisch. Dann wechselte er das Thema. »Haben Sie eine Idee, was mit Jefferson passiert sein könnte? Marcos Aussagen haben mich durcheinandergebracht. Das sieht nach einer komplizierten Geschichte aus. Und dafür habe ich im Moment weder Zeit noch Nerven.«
»Wenn Milliardäre ermordet werden, ist es immer kompliziert. Es gibt zu viele Feinde, zu viele Motive, alles ist heikel. Aus irgendeinem Grund hat Jeffersons Herz versagt und jemand scheint das mit einem Mord und diesem absurden Wurf in den Abgrund verschleiern zu wollen. Wir brauchen einfach viel mehr Informationen über Jefferson, um irgendetwas zu verstehen.«
»Morgen und übermorgen müssen wir pausieren. Ich muss mich dringend um meine Cousine kümmern. Bis Freitag sollten wir dann alle Akten bekommen haben und können weitermachen.«
Baptista antwortete nicht. Ihm wurde übel. Bei jeder Kurve hatte er Angst, sich zu übergeben. Nach beinahe einer halben Stunde waren sie endlich in Ravello angekommen. Sie parkten und mussten einige Treppen zu dem Luxushotel Fiori di Mandorla gehen. Baptistas Übelkeit wurde von den Knöchelschmerzen überlagert. Er blieb durch sein ungeschicktes Gehen mit einem Hosenbein am Geländer einer Treppe hängen und riss sich die Hose auf.
»Ist etwas passiert?«, fragte Festevola erschrocken.
»Nein, es geht schon.«
Baptista nahm ein Taschentuch aus seiner Jacke und tupfte das Blut an seinem Schienbein ab.
Als sie das Fiori di Mandorla betraten, sah ihn der Concierge mit einem Blick an, der Mitleid und Verachtung für das untere Volk so mischte, dass Baptista vor Scham rot wurde.
»Ciao Carlo, das ist Commissario Baptista.«
»Buona sera, Signor Baptista. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir haben uns mit Massimiliano verabredet«, sprang Festevola ein.
»Ich rufe ihn.«
Der Concierge rief an. Nach einigen Minuten kam ein kleiner untersetzter Mann zum Empfang, auf dessen Glatze ein großes Muttermal hervorstach.
»Buona sera, Signori«, begrüßte sie Massimiliano Bernadetti. Seine schwarzen Knopfaugen lächelten und ließen die Gäste in ein Bad aus Freundlichkeit abtauchen. Offenherzig streckte er ihnen seine Arme entgegen.
»Ich kann gleich bei euch sein«, sagte er entschuldigend. »Wenn ihr in der Zwischenzeit einfach auf meine Kosten etwas essen wollt?«
Mit diesen Worten schob er die beiden in Richtung Restaurant zu einem Tisch und winkte dem Kellner zu. Sie bekamen noch während Massimiliano aus dem Raum ging einen Champagner serviert. Der Tisch war mit dicken weißen Leinentüchern gedeckt. Das Porzellan sah sündhaft teuer aus und war mit dem Hauswappen verziert. Für das Besteck hätte Baptista eine Monatsmiete hinlegen müssen. In der Mitte des Tisches schwamm die Blüte einer Seerose in einer Steinschale. Baptista traute sich kaum, sich zu bewegen. Dazu hatte er ohnehin keine Zeit, weil der Kellner bereits mit ihm sprach.
»Die Küche serviert heute Jakobsmuscheln an feiner Safranmousse«, sagte der distinguierte ältere Herr mit einer nasalen Stimme.
Er fragte weder, was die beiden wollten, noch ob sie mit dem Essen einverstanden waren. Er verschwand einfach wieder, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Massimiliano ist bekannt für seine speziellen Kreationen«, sagte Gianluca erklärend.
Am Nebentisch wurde es plötzlich sehr laut. Eine extravagant aussehende, junge und sehr hübsche Frau mit streng nach hinten gekämmten Haaren, riesiger Sonnenbrille und knallrotem Kleid und Lippenstift saß alleine vor einem Brief. Das Dekolleté war tief heruntergezogen und passte in keiner Weise zu dem aufgelösten Gesichtsausdruck der Frau.
»Die sind doch vollkommen verrückt«, schrie sie.
Alle sahen erschrocken auf. Die Dame sank jedoch wieder in sich zusammen und blickte konzentriert nach draußen. Baptista fühlte sich verpflichtet, die Frau anzusprechen. Er lehnte sich zu ihrem Tisch herüber.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Nur ein Brief.«
Sie machte eine Pause.
»Ein Freund von mir ist gestorben. Diesen Brief hat er vor seinem Tod noch an mich abgesendet.«
»Das tut mir leid.«
»Menschen werden geboren und Menschen sterben. So ist das. Er stürzte in eine Schlucht, wurde ermordet. Für etwas, mit dem er nichts zu tun hatte.«
»Wie schrecklich. Weiß die Polizei davon?«
»Polizei? Die Polizei hat mir in meinem Leben nur Unglück gebracht.«
»Das tut mir leid«, sagte Baptista erneut.
Er kam sich in dieser Konversation vollkommen hilflos vor. Kurz überlegt er, ob er verheimlichen sollte, dass er Polizist ist. Dann entschied er sich aber dagegen.
»Darf ich mich vorstellen. Mein Name ist Jao Baptista und ich bin Polizist.«
Die Dame sah ihn mit großen Augen an.
»Barnes, Linda Barnes. Das konnte ich nicht ahnen. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
Nun machten Baptista und Festevola große Augen. Der tote Freund von Linda Barnes war natürlich David Jefferson. Baptista überlegte, dass der Brief an Linda Barnes möglicherweise der letzte war, den Jefferson geschrieben haben könnte.
»Wir ermitteln gerade im Fall Ihres toten Freundes«, sagte Gianluca.
»Haben Sie mich gesucht?«
»Wir sind hier, weil Jefferson hier übernachtet hatte.«
»Und zwar in meinem Bett«, sagte Linda Barnes stolz.
»Wollen wir nicht gemeinsam das Essen fortführen?«, schlug Baptista vor.
Linda Barnes winkte mit einer sparsamen Handbewegung den distinguierten Kellner herbei. Er brachte mit leichter Missbilligung ein neues Gedeck an den Tisch von Festevola und Baptista.
»Bringen Sie die Austern«, sagte Linda.
»Für uns bitte ebenfalls«, ergänzte Baptista.
Er hatte das Gefühl, auf diese Weise eine Art Gedenkessen für Jefferson zu begehen.
Der Kellner war von der Veränderung des Menüs nicht begeistert. Schließlich hatte er Jakobsmuscheln angekündigt. Aber keiner nahm von ihm Notiz.
»Was war Jefferson für ein Mensch?«, fragte Baptista.
»Er war ein Gott. Jung, reich, schön und zerrissen, wie alle Götter. Ich habe ihn vor drei Jahren hier getroffen. Für mich war es einfach ein Urlaub in einer wunderbaren Landschaft. Wir haben uns auf dieser Terrasse dort getroffen. Ein Pianist spielte »O sole mio« und die Sterne begannen zu funkeln. Als er auf die Terrasse trat, wurde es heller.«
Linda verstummte. Eine unterdrückte Träne bahnte sich ihren Platz. Sie tupfte sie vorsichtig vom gepuderten Nasenflügel.
»Alle waren neidisch auf ihn«, fuhr sie fort. »Auf sein Geld, aber noch mehr auf sein Aussehen. Man kam sich neben David einfach alt vor. Als ich ihn einmal darauf ansprach, lächelte er nur geheimnisvoll.«
Linda wurde unterbrochen. Der Kellner brachte die Austern. Sie waren mit einem Hartkäse überbacken und sahen aus wie Hochzeitsringe in einem Samtbett. Niemand sagte etwas, als sie aßen. Als der Kellner abräumte, begann Linda zu reden.
»David war sehr reich. So reich, dass er sich die ganze Amalfiküste hätte kaufen können. Er war es nicht gewohnt, dass sein Leben in irgendeiner Weise von irgendjemandem kommentiert wird. Seine Familie schien ihn nicht zu interessieren. So wie mich meine auch nicht interessiert.«
»Wissen Sie, womit David Jefferson sein Geld verdient hat?«
»Darüber haben wir nicht gesprochen. Unser Verhältnis war eine Auszeit von unserem normalen Leben. Oder anders gesagt: Wir hatten ein normales Leben, in dem Geld und Macht keine Rolle spielten.«
Der Kellner kam mit einem Risotto. Es enthielt getrocknete Tomaten, die in einem Sugo aus dunklem Rotwein und Balsamico eingelegt gewesen waren. Daneben enthielt es Pfifferlinge, kleine Avacadostückchen und Buttererbsen in einer feinen Gemüsebrühe mit dem Reis und Butter vermengt.
»Hatte Jefferson Feinde?«, fragte Baptista, nachdem sie das Risotto gegessen hatten.
»Er hatte hunderte Feinde, eigentlich war jeder Mensch, der ihn sah, ein Feind. Ich weiß nicht, wie es ein Mensch fertigbringt, sich die ganze Welt zum Feind zu machen.«
Der Kellner unterbrach sie erneut. Eine Seescholle wurde vor ihren Augen perfekt filetiert, mit Kräutermarinade übergossen und mit frittierten Kartoffelschnitzen serviert. Um den dienstlichen Fragen Baptistas zuvorzukommen, führte Festevola das Gespräch weiter.
»In welchem Film spielen Sie eigentlich im Moment?«, fragte er Linda Barnes.
»So ein Schmachtschinken. ›Die Freiheit des Herzens‹. Spielt in Mexiko. Schreckliches Land.«
Dann verstummten die drei, weil sie sich nicht mehr gegen die Signale ihres Gaumens wehren konnten. Der zart gegrillte Fisch zerfiel auf der Zunge mit der geheimnisvollen Kräutermarinade zu einem Gedicht aus Rosmarin und pfeffrigem Olivenöl.
»Wissen Sie, was so schrecklich am Drehen ist?«, fragte Linda etwas unvermittelt in die Runde.
Die beiden antworteten nicht sofort.
»Jeder will mein bester Freund sein. Aber keiner möchte dafür etwas geben. Alle wollen nur haben. Das war der Unterschied zu David. Er hat sich selbst gegeben.«
Aus dem Mund einer jungen Frau hörten sich solche Worte etwas altklug und auswendig gelernt an. Baptista hatte das Gefühl, dass Linda sein Mitleid erregen wollte. Er überlegte, warum sie das brauchte, fand aber keine Antwort.
»Wie haben Sie sich eigentlich kennen gelernt«, fragte Jao.
»Das ist eine lustige Geschichte. Ich war auf der Suche nach einem Restaurant in Positano unterwegs und habe David auf der Straße um Hilfe gebeten. Später haben wir uns überraschend hier im Hotel wiedergetroffen.«
Von der Terrasse begann wieder der Pianist zu spielen. Zeitgleich servierte der Kellner einen winzigen Panna Cotta mit hausgemachtem Mandarinenmark. Sekunden später kam dazu ein Espresso mit einer fingerdicken Crema, der das Abendessen abrundete.
»Wir werden uns nun das Zimmer von Jefferson ansehen«, sagte Gianluca. »Möchten Sie uns begleiten?«
Linda Barnes begann sichtbar mit sich zu ringen, dann nickte sie. Wie auf ein Stichwort kam der Chef des Hauses zu ihrem Tisch.
»Ich hoffe, dass das Essen in Ordnung war.«
»Fantastisch wie immer«, sagte Linda Barnes.
»Leider müssen wir nun zu dem beruflichen Teil des Besuchs kommen«, meinte Jao.
»Ich darf vorgehen«, sagte Bernadetti.
Er führte sie über schweren Teppichboden zwei Flure entlang an mehreren Ölgemälden vorbei.
»Jefferson ist vor drei Wochen angereist«, erklärte Bernadetti. »Zimmer zweiundzwanzig wie üblich. Das ist unsere kleine Suite.«
»Für wann war seine Abreise geplant?«, fragte Baptista.
»Das hat Jefferson immer sehr kurzfristig entschieden. Avisiert hatte er aber nur noch bis gestern.«
»Oh«, sagte Linda Barnes überrascht. »Das hatte er mir nicht gesagt.«
Baptista dachte kurz daran, dass die Anwesenheit von Linda Barnes vielleicht doch nicht sinnvoll war, verwarf den Gedanken aber wieder. Bernadetti öffnete das Zimmer, das diskret versiegelt war.
»Natürlich haben wir bisher nicht gereinigt, auch wenn die Spurensicherung nicht ganz zimperlich war.«
Bernadetti sah mit einem eigenartigen Blick zu Gianluca, der sofort schuldbewusst wegsah. Baptista registrierte den Blickaustauch, hatte aber nicht die geringste Vorstellung, was damit gemeint sein könnte.
»Verzeihen Sie den Anblick«, entschuldigte sich Bernadetti erneut.
Das Zimmer sah aus Baptistas Sicht kaum benutzt aus, lediglich die Bettdecke lag unordentlich. Aber es roch eigenartig. Baptista versuchte den Geruch einzuordnen. Es könnte ein wenig Lavendel sein, überlegte er, aber auch etwas Medizinisches, wie beim Zahnarzt. Jao Baptista versuchte, sich den Körper von Jefferson aus der Leichenhalle in dem Hotelzimmer vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Das irritierte ihn. Er wusste, dass dieser erste Eindruck, den er hatte, wahrscheinlich der wichtigste war, aber es gelang ihm nicht, seine Empfindung zu schärfen. Etwas verstörte ihn an dem Zimmer, ohne dass er es hätte beschreiben können.
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