Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 2

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View tauchte in der Menge ihrer Mates und Buddies unter und steuerte auf das Buffet zu, um sich mit einem SurpriseDrink auszustatten. Dieses von der EventFactory neu entwickelte Getränkekonzept beruhte darauf, dass der unbedarfte Flüssigkeitsliebhaber aus den unter­schiedlichsten Zutaten, die nicht im Detail, sondern nur in Form allgemeiner Geschmacksrich­tungen oder ihrer erwartbaren Wirkung ausgewiesen waren, sein ganz individuelles Getränk zusammenstellte. Das Areal der SurpriseDrinks nahm auf dem Buffettisch eine erstaunlich große Fläche ein.

In Fächern mit Beschriftungen wie süß, sauer, salzig, fruchtig, bitter, aromatisch, pfeffrig, klebrig, perlend oder belebend, beruhigend, aufwühlend, nachdenklich stim­mend, euphorisierend und vielen mehr lagen unscheinbare Aluwürfel, die lediglich die entsprechende Kategorie, eine Mengenangabe und – wenn vorhanden – den Alkoholgehalt oder den einer anderen Droge aufwiesen. Außerdem gab es da Korrelationen, die View bislang noch nie mit einem Getränk in Verbindung gebracht hatte: Pelzig-samtig, trocken-sandig, langsam-sackend, feurig-stürzend, quälend-ziehend, kurzlebig-wuchtig, nachhaltig-erstaun­lich etc. Angesichts der Jobanbahnungsgespräche, die sie hier noch führen würde, beschloss sie, um die Zutaten mit Prozentangaben einen weiten Bogen zu machen. Auch das Fach mit dem Hinweis „?!“ mied sie geflissentlich. Nachdem sie spontan etwa 10 Aluwür­fel mit der Beschriftung nach oben auf ein Tablett gelegt hatte, ordnete sie diese in 3 Gruppen an, legte einige Würfel zurück und ersetzte sie durch solche, die ihr passender erschienen. Mit ihrer Komposition zufrieden, schob sie die Aluwürfel nacheinander in die Aufnahmeöff­nung des Mixers und betätigte den Startknopf. Das Gerät heulte kurz auf und entließ dann eine schäumende Flüssigkeit undefinierbarer Farbe in das unter dem Ausguss stehende Glas. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

Uh, auf diese Geschmacksexplosion war sie nicht vorbereitet, fruchtig und dabei süß und pfeffrig zugleich. Gar nicht übel eigent­lich, nur sehr ungewohnt, aber vielleicht gerade deshalb interessant genug, um sich schwarz auf weiß ausdrucken zu lassen, welche Ingredienzien genau sie sich da in welchem Mischungsver­hältnis zusammengerührt hatte. So konnte sie die Mixtur bei einer späteren Gelegenheit exakt reproduzieren. Einen passenden Namen dafür hatte sie auch schon: SecureFuture. Ganz sicher mit dieser Benennung war sie sich allerdings nicht. Vielleicht erlebte sie ja bezüglich der Kategorie „nach­haltig-erstaunlich“ noch eine böse Überraschung, doch vorerst ging es ihr sehr gut.

Ihr Glas in der Hand stand View eine Weile unschlüssig herum und überlegte, in welches der Grüppchen sie sich einklinken sollte, als einer der Citizens, von denen sie vermutet hatte, dass er zur Agency gehörte, direkt auf sie zusteuerte.

„Kibele2k5?“

Aha, dachte View und nickte, tatsächlich die Agency.

„Sei gemittelt. Schöne Feier hier! Mein Name ist Sonol2ak von der Agency of SocialTechnology. Sicher hast du schon von uns gehört.“

„Natürlich ist mir die Agency ein Begriff.“

„Wir besuchen Initiationsfeiern wie diese hier aus gutem Grund, weil sich uns so eine Gelegenheit bietet, persönlich mit solch hoffnungsvollen Talenten wie dir, die frisch die UniqueSchool abgeschlossen haben, ins Gespräch zu kommen. Hast du Interesse?“

„Wie könnte ich kein Interesse haben? Die Agency ist einer der potenziellen Arbeitgeber, die mir das System mit hoher Wahrscheinlichkeit angetragen hat – aber das weißt du schon.“

„Sicher. Aufgrund deines Profils war das natürlich abzusehen. Aber Genaueres müssen wir hier auch gar nicht besprechen. Widme dich doch wieder deinen Gästen und komm morgen nach der BadPastLesson gegen Takt 54.000 bei uns vorbei. Dann besprechen wir alles Weitere. Den Lead zu meinem Profil und meinen LokalisationPoint habe ich dir bereits übermittelt. Ist das so Okay für dich?“

„Vielen Dank, ja, das werde ich tun“, bestätigte View. „Ich freue mich.“

„Dann also bis morgen“, nickte ihr der Agent noch einmal freundlich zu und verschwand wieder in der Menge.

Doppelgauß, das ließ sich ja ganz wie erwartet an, resümierte View. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sie also bei der Agency anfangen!

Erst jetzt merkte sie, wie angespannt sie den ganzen Takt über gewesen war. Zwar hatte sie ein Recruitinggespräch in etwa dieser Richtung erwartet, aber eine Realität, die ihre Erwartungen auch tatsächlich eingelöst hatte, war immer beruhigender, als eine lediglich erwartbare Realität, selbst wenn sie eine relativ hohe Eintrittswahrscheinlichkeit hatte.

Views Blick blieb an einem der HoloScreens hängen, die die Szenen aus ihrem LifeStream zeigten. Hier musste sie etwa 12 MajorTakte alt gewesen sein. Sie stand mit der Gruppe ihrer Peers vor einem Gehege im AnimalDrom und bot sichtlich begeistert einem Waschbären, der sie durch seine von dunklem Fell umrandeten Augen zutraulich ansah, auf der flachen Hand eine Portion synthetischer Kerne an. Sie konnte sich noch daran erinnern, selbst auf die Gefahr hin, dass etwas von dem Waschbärnasch herunterfiel, den Hinweis ihres AnimalAdvisors genau befolgt zu haben, dabei die Handfläche keinesfalls zu wölben, damit das AnimalPet nicht auf die Idee kam, an ihren emporgerichteten Fingerspitzen zu knabbern.

View aktivierte den Timer ihres AeroFlats: Takt 3.487. Es war schon spät und sie merkte, dass ihre Energie um den Nullpunkt herumdümpelte. Sie drehte noch eine kurze Runde, um sich bei Freunden und Besuchern ihres Initiation­Events zu bedanken und zu verabschieden und machte sich dann zu ihrem Hexagon auf. Bevor sie das Bewerbungsgespräch mit dem Recruiter der Agency führte, wollte sie ihren Entspannungszyklus voll ausschöpfen. Die Wohnräume innerhalb der einzelnen Habitate waren konzentrisch um den MatchingCube angeordnet und so dauerte es nicht lange, bis sie die Tür ihres Hexagons hinter sich geschlossen hatte, das nur ein kleines Stück den CircuitWalk hinunter lag.

Auf dem großen Screen, der den Raum beherrschte, trat ihr eine mittelgroße Frau gegenüber, unter deren fließendem Gewand sich schlanke Glieder abzeichneten. Unter kaum wahrnehmbaren, wie fragend hochgezogenen Augenbrauen blickten sie leicht oval geschnittene blaue Augen an. Dieser Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie sich niemals damit begnügte, die Dinge nur oberflächlich wahrzunehmen, sondern überall genau hinsah, um Durchblick zu bekommen, hatten View auch ihren Nickname eingetragen. Sie fand, dass die filigranen Win­dungen ihrer kleinen, enganliegenden Ohren zu der fast perfekt symmetrisch geformten Wölbung ihres kahlen Kopfes einen wirkungsvollen Kontrast bildeten. Die relativ hoch angesetzten Wangenknochen gaben ihrem Lächeln etwas strahlend Offenes. Mit ihrer Nase dagegen war sie nicht ganz so einverstanden, der vielleicht eine Spur zu breite Sattel erschien ihr ein wenig unvorteilhaft. Auch ihre Lippen waren vielleicht etwas zu schmal, das Kinn vielleicht eine Spur zu weich definiert. Aber all das würde sich gegebenenfalls ändern lassen. Nach einer Phase ziemlich radikaler schönheitschirurgischer Eingriffe sah es aktuell allerdings fast so aus, als würde wie so oft der Trend ins Gegenteil umschlagen und sogenannte natürliche Gesichtszüge gauß werden. Momentan war View mit ihrem Aussehen aber ganz zufrieden. Es diente ihrer Selbstvergewisserung, wenn sie sich zusätzlich zu ihrem Konterfei auf dem Screen noch in den Spiegeln sah, mit denen 3 der 6 Wände des wabenförmig angelegten Raumes versehen waren.

Sie klatschte in die Hände:

„Licht: 500 Lux, flächendeckend, cremeweiß; Geruch: Anis; Musik: Brain-

Smoother von den Averagers.“

Da sie Ordnung, Überschaubarkeit und Klarheit über alles schätze, verfügte Views Hexagon über eine Ausleuchtung, die keine Schattenareale entstehen ließ. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der Duft von Anis sie in kürzester Zeit herunterbrachte und die Klänge von Brain­Smoother taten ihr Übriges. View bevorzugte klare Linien und matte, helle Farben und so hatte sie ihren Raum in den LivingStyles „elementar“, „funktional“, „sachlich“ und „puristisch“ ausgestattet; Kategorien, in denen sie jeweils die höchste von 5 möglichen Merkmalsausprägungen gewählt hatte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie sich Sonoki3ab, eine ihrer FirstMates, in Styles wie „verschwurbelt“, „versponnen“ und „verschattet“ wohlfühlen konnte. Deren Hexagon war eine von schwach rötlichem Licht erfüllte Höhle, in der nichts an dem Platz zu sein schein, an den es gehörte und allein die Anzeigen auf dem Screen verlässliche Orientierung ermöglichten. Da View und Sonoki aber 95 Prozent ihrer Mat­chingPoints teilten und so in fast allen anderen Kategorien übereinstimmten, verstanden sie sich trotz dieser unterschied­lichen Auffassung von Wohnen blendend. Das zeigte wieder einmal, welch differenzierte Analyse das System leistete, wenn es Citizens antrug, sich zu matchen.

View teilte ihr Hexagon mit einer MonsteraDeliciosa, deren große Photosyntheseflächen nachgewiesenermaßen halfen, das Wohnklima zu verbessern. Da sie gern die Kontrolle über die Dinge behielt, bereitete ihr ungehemmtes und chaotisches Wachstum Unbehagen und sie versuchte, die Triebe ihres floralen Elementes in eine möglichst zylindrische Form zu binden. Überstehende Photosyntheseflächen stutzte sie regelmäßig zurück, wobei sie darauf achtete, die Luftwurzeln nicht zu beschädigen, da diese der Versorgung dienten.

Für eine MatchingSession war sie jetzt zu müde und wollte gleich auf ihr RestBoard. Sie war sich ziemlich sicher, dass heute nichts vorgefallen war, das gematched werden musste und auch das Screening und Classifying der Rankings, die ihre Peers den Tag über vorgenommen hatten, konnte bis morgen Abend warten. Aber eine möglichst pralle Zirkulationsdusche musste einfach sein. Sie zog sich aus, schlüpfte in die Nasszelle und stellte die 8 Brauseköpfe auf höchste Intensität. Nachdem sie sich von den konzentrierten Wasserstrahlen 2 Intervalle hatte durchprickeln lassen, schaltete sie auf Trocknen und ließ sich von der warmen Luft umschmeicheln. Wie immer nach einem Tag, der ihre Erwartungen mehr oder weniger zuverlässig eingelöst hatte, beschloss die Dusche Views Aktivitätsphase und sie fühlte sich physiologisch optimal auf ihre Regenerationsphase von 7 MacroTakten vorbereitet. Sie fuhr das RestBoard aus der Wand und wählte als Einschlafmodus „sanfte Dünung“. Die Ruhepneumatik versetzte das Board in die entsprechende Bewegung und innerhalb des Medians ihrer Einschlafzeit von 5 MinorTakten sank View in ihren traumlosen Schlaf. Sobald die Sensoren ihres MatchingEyes registrierten, dass ihr Körper in den Ruhezustand übergegangen war, aktivierte sich das in das dritte Auge integrierte Morpheus­tron, dessen Strahlung dafür sorgte, dass die Citizens ihre Ruhephase optimal nutzten und nicht durch Traumerinnerungen aufgewühlt erwachten.

Sommersaat; dritter Umlauf im fünfhundertachtundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

Das Rund des Kreises gebiert Sicherheit und Gelingen. Wer sich ihm in Demut und Besonnenheit anheimgibt, des Werk wird glücken und seine Seele wird gesunden.

Der geraden Linie aber folgen Unsicherheit und Misslingen. Wer sie hochmütig und vorwärtsdrängend beschreitet, des Werk wird scheitern und seine Seele wird zuschanden werden.“

Archontin Ayiah

„Schonet die Schöpfung“ schallte weithin der Weckruf über das mondbeschienene Rund der Klave und befreite Brachvogel aus seinem, seit einiger Zeit immer wiederkehrenden Alb­traum. In seiner Butze war es so finster wie im Bauch der Schafe, die die Freien Männer schlach­teten, wenn einer der ihren die Prüfung bestand, die aus einem Mannling einen Mann machte. Gewöhnlich zuckten Schatten über ihm, die das Feuer an die Decke warf, das die ganze Nacht in einem Eisenkorb an der Ecke der Gasse unterhalten wurde. Aber seit Archontin Ayiah, die vor einem Umlaufzwölft zur Regentin bestellt worden war, dem Kreis der Weisen Frauen vorsaß, wurden nächtens nur die unbedingt zur Verteidigung oder Orientierung erforderlichen Feuer und Fackeln in den Gassen entzündet, damit Luna das volle Ausmaß ihrer Kraft über die Erde ergießen konnte, ohne dass übermäßiger Feuerschein ihre Strahlen schwächte. Das galt besonders für eine Nacht wie diese, in der die Mondin fast ihr volles Rund erreicht hatte.

Es hatte Brachvogel wieder einmal geträumt, so tief im abgründigen Rund des Brunnens im Hort der Empfängnis zu stecken, dass er selbst am lauteren Tage am Ende der sich steil über ihm reckenden endlos langen Brunnenröhre die Gestirne sehen konnte. Aus dem eiskalten Brackwasser, in dem er bis zum Nabel stand, wanden sich langsam die schuppigen und schleimigen Leiber von Schlangen und Mollusken an ihm hoch, bis er in den Windungen von Muskelpaketen und den Schlingen von warzenbedeckten Tentakeln zu ersticken drohte. Als ihm in dem verzweifelten Versuch, sich an den schlüpfrigen Quadern des Brunnenrundes in die Wärme Sols empor zu ziehen, die Fingernägel blutig brachen, drängten die Steine des Schachtes immer enger auf ihn ein und ihr tonnenschwerer Druck zerpresste ihm die Rippen.

„Schonet die Schöpfung“ ertönte es abermals und Brachvogel kletterte, erleichtert, dass der Albdruck des Traums allmählich von ihm abfiel, noch ganz benommen von seinem Lager und rüstete sich, sein Mondwerk zu beginnen. Auch in den anderen Butzen regte und reckte es sich nun und die Mannlinge, mit denen Brachvogel hauste, verließen ebenfalls ihre Bettstatt.

Die Weisen Frauen hatten ihn zum Springling bestimmt und also gehörte er zu denen, die keine feste Berufung hatten, wie diejenigen Mannlinge, die als Gehilflinge in der Großmeisterinschaft der Köhlerin, der Schmiedin, der Kesslerin, der Wagnerin, der Küferin, der Korbmacherin, der Töpferin, der Glasbläserin, der Metzgerin, der Käserin, der Müllerin, der Imkerin, der Kürschnerin, der Gerberin, der Weberin, der Schneiderin, der Schusterin oder im Gewerk der Berg- oder Holzfrau ihr Tag- oder Mondwerk verrichteten. Die Springlinge dagegen versahen die immer wieder­keh­renden Obliegenheiten des Alltags, die im Haushalt einer Frauschaft anfielen, als da waren, mit den anderen Mannlingen am Fluss Wasser zu holen, das Essen zu bereiten, Feuerholz zu spalten, den Herd zu warten, die Wäsche zu versorgen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, das Vieh zu tränken, zu füttern und auf die Weide zu führen, der Kühe und Ziegen Milch zu melken, der Schafe Wolle zu sche­ren, der Hühner Eier zu sammeln, des Ackers runde Furchen zu treiben und der Erde Gaben zu ernten, die Ebsel auf dem Treidelpfad zu lenken, die Esse in der Schmiede zu versorgen und den Brennofen in der Töpferei zu warten oder sich mit den anderen Springlingen zu vereinen, um in einem gemeinsamen Kraftakt einen im Schlamm versunkenen Karren wieder auf die Räder zu stellen oder mit dem Flaschenzug eine besonders schwere Last auf einen der Speicher am Hafen zu hieven.

Bei all dem war Brachvogels Zirkel eng beschränkt und immer hatte er auf das Genaueste den Anweisungen und Befehlen seiner Weisungsfrau Folge zu leisten. Und so kehrte, putzte, scheuerte, feudelte, wusch, sammelte, schabte, pulte, zupfte, klaubte, sortierte, harkte, hackte, hob, schleppte, jätete, ackerte, rackerte und fronte er, dass es eine Art hatte, bis er spätabends oder frühmorgens – wenn der Arbeitstag wie jetzt ein Mondtag war – todmüde in seine Butze sank. In sein Tagwerk eingespannt war er wie in ein Fass gesperrt, das in rasendem Lauf einen steilen Abhang herunterrollte und ihn am Ende eines jeden Tages im Felsengrund zerberstend wieder aus der Zwinge entließ, ohne dass er etwas Lebenswertes gefühlt oder geschaffen hätte.

Er neidete den Jagdfrauen ihr Tun, die nie­mandem Rechenschaft abzulegen hatten und un­gebunden weit auf den Ebenen umherschweiften, um das gebogene Wurfholz nach Vögeln und die Bola nach größerem Wild kreisen zu lassen.

Gerne wäre er auch wie sein Freund Agror Gehilfling der Schmiedin Ferruma, Eisenfrau genannt. Zwar wich wahrscheinlich auch Ferruma unter dem ehernen Gebot der Einhaltung der Tradition keine Spanne von dem seit Frauengedenken ausgetretenen Pfad und ließ ihre Gehilflinge unter dem ewigen Gleichklang von Hammer und Amboss tagein und tagaus die ewig immer gleichen Dinge anfertigen. Aber immerhin schuf sie etwas, das nützlich und von Dauer war, und erschöpfte sich nicht in sich täglich wiederholender Fron, aus der nichts Bleibendes erstand. Sie konnte ihn gut leiden und verwehrte es ihm nicht, seine Zeit in der Schmiede zu verbringen, wann immer es ihm möglich war. Er liebte das unergründliche Glühen der Essen, das helle Klingen der Hämmer auf den Ambossen, den leicht bissigen Geruch von Holzkohle, der über allem lag, das tiefe Seufzen der Blasebälge, die die Essen mit Luft versorgten und das scharfe Zischen des weißglühenden Metalls, wenn es zum Abkühlen ins Wasser getaucht wurde. Er durfte zwar nichts anfassen, saugte aber alles, was er sah, begierig in sich auf. So hatte er beobachtet, wie die Eisenfrau und ihre Gehilflinge prüften, ob ein Werk­stück heiß genug war, um bearbeitet zu werden: Sie spuckten darauf. Wenn der Speichel sofort zischend verdampfte, war das Metall noch nicht bereit. Wenn der Sputum sich aber zu kleinen Tröpf­chen zusammenballte, die, bevor sie ver­gingen, auf dem Metall herumsprangen, wie die fla­chen Steine, die Brachvogel über die Wasseroberfläche der Gleiß schnellen ließ, war es richtig.

Wenn er es irgend ermöglichen konnte, ließ Brachvogel nach der Fron des Tages oder der Nacht den Wall der Klave hinter sich, um am Ufer des Flusses oder unter den Bäumen des Waldes seinen Gedanken und Fantasien nachzuhängen. Es war dies die Zeit des Untergangs oder Aufgangs der großen Gestirne, die Stunde der Dämmerung, die er so sehr liebte. Luna oder Sol hatten ihre Bahn vollendet und das jeweils andere Gestirn das Firmament noch nicht erobert. Die Konturen verschwammen geheimnisvoll im Graublau, die Dinge schienen zu schweben und legten ihre Bestimmung noch nicht offen, nichts war festgeschrieben, es herrschte weder gestern noch morgen, war weder Mond- noch Sonntag und alles schien möglich. Seit er denken konnte, lebte Brachvogel im Dazwischen, fühlte sich nirgends zugehörig, mochte sich nicht festlegen, liebte den offenen Horizont der Möglichkeiten, in dessen endlosen Weiten er sich verlieren konnte. Hier im Dazwischen war er wirkmächtig, wob sein Gespinnst von Ideen und empfand, was immer es zu empfinden gab.

Vielleicht würde es ihm ja heute Nacht gelingen, etwas ins Leben zu rufen, dass die Geschicke der Klave in neue Bahnen lenken konnte.

Doch noch war Brachvogel weder Herr seiner Zeit, noch Jagdfrau, noch der Schmiedin Gehilfling, sondern nur ein unbedeutendes, fest im Gewerk der Klave verzahntes Rädchen, das unausweichlich und unbarmherzig angetrieben wurde. Schnell schöpfte er in der Wölbung der zusammengelegten Hände Wasser aus der Schüssel, warf es sich ins Gesicht und rieb sich den Schlaf aus den Augen, säuberte sich die Zähne mit dem ausgefaserten Ende eines Buchenreises, das er vorher mit etwas Pottasche bestreut hatte, band sein Schamtuch um, zog seinen Kittel an und schlüpfte in seine Sandalen.

Nachdem die Oberfläche des Wassers in der Schüssel nun wieder glatt wie ein Spiegel war, strich er sich seine braunen, schulterlangen Haare hinter die Ohren und beugte sich über das Gefäß, um sich die Stoppeln seiner Gesichtsbehaarung abzuschaben. Ein hageres Gesicht, mit weit auseinander liegenden grünen Augen, dichten Brauen, einer leicht schief stehenden Nase, einem schmalen Mund und einem energischen Kinn blickte ihn an. Vorsichtig begann er sich mit einer Tonscherbe, deren Kante er an einem Wetzstein geschärft hatte, über die Wangen zu fahren. Brachvogel hasste diese mühsame Prozedur, aber hierzu ein Messer zu benutzen, war ihm, wie allen anderen Mannlingen, die unter Haarwuchs im Gesicht litten, verwehrt. Da sein Gesichtshaar sehr schnell spross, hätte er es gern einfach wachsen lassen, doch das war verpönt und selbst die Stoppeln erregten den Anstoß der Frauen.

Als er mit seinen Genossen aus der Hütte trat, gewahrte er in einem Winkel der Gasse eine kleine Gestalt, die sie ganz unverhohlen neugierig anstarrte. Sicher ein frisch aus der Stätte der Aufzucht entlassenes Milchkind, ein Knabling, der an den Anblick von Mannlingen noch nicht gewöhnt war. Wie alle unter dem Rund von Luna geborenen Mannlinge war auch Brachvogel in der Stätte der Auf­zucht ausschließlich im Kreise der Mütter aufgewachsen und bis zum Alter von sieben Umlaufzwölfen von wechselnden Brüsten genährt worden.

Seit vielen Lunaumläufen schon waren immer weniger Menschen zur Welt gekommen und jedes neue Leben war zu kostbar und unterlag unüberschaubaren Einwirkungen, als dass die Mütter es von Geburt an dem alltäglichen Leben in der Klave aussetzten. Stattdessen wurden die neugeborenen Knablinge als Milchkinder in der Stätte der Aufzucht von den Müttern umhegt und von allen schädlichen Einflüssen ferngehal­ten, bis sie die Milch der Friedfertigkeit untereinander, der Behutsamkeit im Umgang mit der Schöpfung und der Demut gegenüber Luna zur Gänze in sich aufgesogen hatten und in die­sem Geiste gefestigt und erstarkt schließlich in das Leben in der Klave entlassen werden konnten. Die Kleinen Frauen dagegen, so munkelte man, wurden unter nicht offenbaren Umständen an einem Ort namens Hort der Weisung auf ihre Lenkungsaufgaben den Mannlingen und ihre Verantwortung der Schöpfung gegenüber vorbereitet. Es war schon seltsam, dachte Brachvogel, Mannlinge waren zwar für die Zeugung nötig, schienen aber sonst einen eher schädlichen Einfluss auf die Milchkinder auszuüben, sonst würden sie nicht so strikt von ihnen ferngehalten.

Kein Wölkchen zog am Nachthimmel dahin und die volle Luna stand schon hoch über der Klave, die von schmalen Gassen durchzogen an den Steilhang eines Berges geschmiegt am Ufer eines großen Stromes lag, den ein breiter Fahrweg säumte. Diese wenigen Nächte in den Frühjahres- und Herbstmonaten, in denen Luna gegen Ende des zweiten Viertels ihres Um­laufs fast ihre volle Gestalt erreicht hatte, bis sie in ganzer Rundung erstrahlte und dann im dritten Viertel ihres Umlaufs wieder langsam an Fülle abnahm, waren dem Pflügen der Felder und dem Säen gewidmet. So war es Brauch seit alters her und die Worte der Archontin und der Weisen Frauen bestätigten ohne Unterlass, dass diesen überlebensnotwendigen Verrichtun­gen, die den Ernteertrag der Klave sichern sollten, nur unter dem Lichte des Nachtgestirns ein gutes Gelingen beschieden war. Unausweichlich würde auch in dieser Nacht der vollen Mon­din die Archontin die Bewohner der Klave wieder mit einer Rede voller Salbung überzie­hen, um die nächtlichen Arbeiten weihevoll einzuleiten.

Während die anderen Mannlinge von dergestalt Sprüchen offensichtlich angerührt und beflügelt wurden, war Brachvogel ihrer allmählich überdrüssig, konnte er doch zwischen dem, was die Archontin deklarierte und prophezeite und dem, was sich dann tatsächlich begab, niemals einen wie auch immer gearte­ten Zusammenhang ausmachen. Das, was sich tatsächlich ereignete, schien gänzlich von dem unabhängig zu sein, was die Archontin oder eine der Weisen Frauen stets so würdevoll ver­kündeten. Alle Zeremonien und Rituale konnten augenscheinlich weder Heil hervorrufen noch Unheil bannen. So hatten während der letzten Pflanzperiode in den dem Pflügen und Säen geweihten Nächten dichte Wolken den Himmel bedeckt, so dass Lunas Strahlen die Erde nicht erreichen konnten, darob die Klave gezwungen war, die Erde am Tage aufzubrechen und den Samen im Lichte der Sonne in sie zu legen. Obwohl dies natürlich als sehr bedroh­liches Omen galt, war die Ernte so gut oder so schlecht ausgefallen wie ehedem. Und obwohl die Weisung der Schamaninnen immer wieder lautete, dass die Zeichen für die Empfängnis neuen Lebens gut stünden, waren in den zurück­liegenden Umlaufzwölfen der Klave immer weniger Nachkömmlinge gewährt worden.

Heute Nacht nun strahlte das Licht der Mondin so hell, dass Brachvogel vom Hüttenkranz seiner Frauschaft aus die gesamte Klave bis hinunter zur Lunagleiß überblicken konnte, auf deren Wassern eine breite Bahn schimmernden Glanzes lag, die dem Strom wahrlich alle Ehre machte. Der Tag war sehr warm gewesen und der würzige Geruch von Rosmarin lag in der Luft, der sich im Sonnenglast von dem Kraut gelöst und durch den Tau der Dämme­rung noch verstärkt hatte. Hinter Brachvogel ragte die Flanke des Fernwarte geheißenen Ber­ges in die Höhe. Im Süden links neben ihm verlief zwischen Steilhang und Ufer einer der beiden Wälle, die die Klave zum offenen Land hin sicherten. Rechts neben sich erspähte er in nord­östlicher Richtung in der Ferne den gegenüberliegenden Wall. Die Klave erstreckte sich etwa zweitausend Doppelschritte in der Biegung des Flusses und mochte wohl an die dreißigtausend Häupter zählen.

Überall waren jetzt die Mannlinge zu den Versammlungsstätten unterwegs und auch Brachvogel und seine Genossen mussten flussaufwärts zum in der Mitte der Klave gelegenen großen Rund der Kündung und Ver­sammlung. Als sie sich auf den Weg machten, sah er neben sich seinen Schatten und die der anderen schreiten. Statt sich dem Gewirr der engen Gassen zwischen den Hütten der einzelnen Frauschaften auszusetzen, die sich an der Flanke des Berges hinzogen, nahmen sie den kürzesten Weg hinunter zur Lunagleiß und folgten dann dem breiten Fahrweg am Ufer.

Die Gleiß war die Lebensader der Klave. Ihre Wasser erlaubten den Transport schwerer Lasten aus dem stromaufwärts gelegenen Umland. Die leeren Lastschuten wurden von Ebseln, die die Wildheit und Stärke des Ebers mit der Fügsamkeit und Ausdauer des Esels vereinten, weite Strecken stromauf gezogen und trieben beladen mit Getreide, Kartoffeln und Rüben, tonhaltiger Erde, Bauholz und Steinen, die zur Errichtung festerer Bauten als der üblichen Hütten benötigt wurden, wieder stromab und landeten am unmittelbar unterhalb des flussaufwärtigen Walles gelegenen Hafen an, wo sie entlastet wurden.

Es war ein immerwährender Kampf – der natürlich stets auch der beschwörenden Worte der Archon­tin bedurfte – den Treidelpfad, der am Ufer dahinführte, nach den Überschwem­mun­gen im Frühjahr und Herbst wieder gangbar zu machen. Es war keine geringe Kunst, die Zugleinen so auszurichten und zu halten, dass die Leinenreiter die Schuten gut lenken konnten und die kostbare Ladung weder der Gewalt des Stromes anheimfiel und abgetrieben wurde, noch am Ufer auflief und zum Stillstand kam. Aber war die Fahrt einmal in Gang gekommen, bedurfte es nur noch geringer Anstrengung, die Schute auf Kurs zu halten. Im Gegensatz zu den vielen anderen Aufgaben, die er zu versehen hatte, liebte Brachvogel die langen und trägen Tage, an denen er von seiner Weisungsfrau zum Leinenreiter bestellt wurde. Unter sich das dampfende Tier, neben sich den behäbig murmelnden Fluss, zog er dann gemächlich dahin und musste lediglich darauf achten, dass die Leine, die vom Geschirr seines Ebsels zur Schute führte, immer straff ge­spannt blieb, und so gesichert war, dass sich die Zuglast gleich­mäßig auf die anderen Leinen­reiter verteilte und konnte ansonsten seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Die Kraft der Lunagleiß trieb auch die Mechaniken mannigfaltiger Gewerke an, die zu diesem Behufe zwischen dem Fahrweg und in gebüh­rendem Abstand zum Ufer gelegen waren, um gegen die Überschwemmungen gefeit zu sein. Schon von weitem vernahm Brachvogel das dumpfe, rhyth­mische Wummern der ersten Gruppe der drei mal drei gewaltigen Wasserräder, die durch den Druck der Fluten auf ihren Schaufeln um ihre Achsen gewuchtet wurden. Wie urtümliche Wasserwesen, die sich anschickten, ans Ufer zu steigen, erhoben sich nach einiger Zeit die Umrisse der Wasserräder aus ihren Gräben, die vom Wasser der Gleiß gespeist wurden. Ihre Naben verlängerten sich zu Wellen, an denen breite Treibrie­men anlagen, die viele kleine Bewegungs­werke antrieben. Ein ausgeklügeltes System von Umlenkrollen und Zahnrädern ermöglichte es, die Energien des Wassers in die jeweils er­wünschte Richtung zu lenken und so zu drosseln, dass sich die Mechanik am anderen Ende genau mit der erforderlichen Kraft und Geschwindigkeit bewegte. So pumpte der Blasebalg, der die Esse der Schmiede mit Sauerstoff versorgte, in einem zwar kräftigen aber eher gemächlichen Takt, während die Wetzsteine der Messer- und Sensenschleiferei in rasender Drehung um ihre Mitte tanzten.

Neben Brachvogels Gruppe strebten jetzt auch viele andere Mannlinge dem zentralen Rund der Ver­kündung zu und der Fahrweg füllte sich allmählich mit eilig vorwärtsstrebenden Gestalten. In der Menge erblickte Brachvogel seinen Freund Agror, der als Gehilfling in der Schmiede der Eisenfrau arbeitete. Wie die meisten seiner Art war er hochgewachsen, überragte Brachvogel um Haupteslänge und neigte schon in jungen Jahren etwas zur Fülle.

„Schone die Schöpfung, Agror.“

„Ah, Brachvogel, schone die Schöpfung“, begrüßte ihn der Freund mit der seinesgleichen eigenen hohen Stimme. Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinanderher.

„Diese Nacht scheint Luna uns gütig gesonnen“, meinte dann schließlich Agror, in den sternenklaren Himmel blickend.

„Wie du wohl weißt“, entgegnete Brachvogel, „kann ich einfach nicht glauben, dass der Stand oder die Fülle der Mondin während des Pflügens und Säens sich später auf den Ertrag der Ernte auswirkt. Dass dem vielmehr nicht so ist, haben, finde ich, die Widerfahrnisse der letzten Umläufe ja auch sattsam bewiesen. Weitaus bedeutender scheint es mir da schon zu sein, ob die Vögel die Saat aufpicken oder uns das Ungeziefer die Ähren vom Halm frisst und wie viel es in der Zeit des Wachstums regnet. Also“, und hier senkte er die Stimme, „sollte die Archontin statt weihe­volle Sprüche zu sprechen und es den Strahlen Lunas zu überlassen, wo die Erde zum Säen aufgebrochen werden darf, zum Exempel lieber sämtliche Felder knapp außerhalb der Hochwasserzone an den Ufern der Gleiß anlegen und Bewässerungsgräben ziehen lassen, damit wir gegen Trockenzeiten gefeit sind.“

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1242 s. 4 illüstrasyon
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9783750210097
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