Kitabı oku: «Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«»
Bernd-Jürgen Fischer
Handbuch zu Marcel Prousts
»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
Mit 36 Abbildungen, Stammtafeln und Karten
Reclam
2017, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Durchgesehene Ausgabe 2022
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: © iStock.com/naqiewei
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961794-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020659-1
Inhalt
I. Kurzbiographie
Biographien
Herkunft
Ausbildung und Beruf
Gesundheit
Liebschaften
Bekanntschaften
Curriculum vitae
II. Frühe Werke
III. Die »Suche nach der verlorenen Zeit«
Materialien
Vorveröffentlichungen
Die Erstausgabe
Zur Rezeption
Die Kritik zu Lebzeiten
Nachrufe und Kritik der postumen Bände
Proust und kein Ende
Proust über die »Suche nach der verlorenen Zeit«
Übersetzungen
Ins Deutsche
Ins Englische
Ins Spanische
Ins Russische
In weitere Sprachen
Umsetzungen in audio-visuelle Medien
Illustrierte Ausgaben
Graphic Novels (Bandes dessinées)
Hörbücher
Verfilmungen, Ballett, Vertonungen
Kino- und Fernsehfilme
Filmprojekte
Ballett
Vertonungen
Literatur zu »Proust und die Medien«
Zum Aufbau der »Suche«
Zur Makrostruktur
Zur inneren Struktur
Zur chronologischen Struktur
Die »Suche« und ihre Zeit
Technik
Wissenschaft
Kunst
Gesellschaftliche und politische Entwicklungen
Schwere Zeiten: Einstein und Bergson
IV. Korrespondenz
V. Bibliographien
VI. Marcel-Proust-Gesellschaften
VII. Die Geographie der »Suche«
Die Bucht von Balbec
Les Rues de Paris
VIII. Stammbäume
Stammbaum Marcel Proust
Stammbaum Reynaldo Hahn
Stammbaum der Guermantes
IX. Register zu den Bänden I–VII
Namenverzeichnis
Titelverzeichnis
Themenverzeichnis
Konkordanz
Abbildungsnachweis
I KURZBIOGRAPHIE
»Er hat etwas von einem verdorbenen Bernardin de Saint-Pierre und einem naiven Petronius an sich.« (Anatole France in seinem Vorwort zu Prousts Les Plaisirs et les Jours.)
Proust mit sechzehn und Lavallière.
Foto von Paul Nadar, März 1887.
Biographien
Das Leben Prousts wurde im Laufe der letzten fünfzig Jahre gründlich erforscht und in zahlreichen Biographien mehr oder weniger umfassend beschrieben. Ich beschränke mich deshalb hier auf die Kerndaten. Für umfangreichere Information sei der Leser vor allem auf die werkorientierte Biographie von Tadié (1996) verwiesen, die zwar etwas trocken ist, dafür aber auf ihren über 1000 Seiten kein Detail auslässt. Nicht minder sorgfältig recherchiert, mit einem Schwergewicht auf Prousts künstlerischen Kontakten, ist William C. Carters Biographie Marcel Proust. A Life (2000), die durch ihren diskursiven Stil besticht. Den gleichen Schwerpunkt gibt Mary Ann Caws ihrer überblicksartigen Biographie Marcel Proust von 2005. Angenehm lesbar, allerdings auch wenig zuverlässig, ist die autorenzentrierte Biographie von Painter (Bd. I: 1959; Bd. II: 1965), die noch von dem Verständnis der Suche als einer verklausulierten Biographie ausgeht und deshalb Prousts Leben gelegentlich aus seinem Werk zu rekonstruieren scheint, um dann das Werk aus seinem Leben heraus zu erhellen. Dieser bei Proust oft schwierigen Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion verleiht Adam Watt Gewicht in seiner Biographie Proust von 2013. Eine unterhaltsame und dabei sorgfältig recherchierte Biographie stammt von Ghislain de Diesbach (1991), die sich allerdings allzu sehr auf das gesellschaftliche Leben Prousts kapriziert; sie ist bislang nur auf Französisch und auf Spanisch erhältlich. Ronald Hayman bemüht sich in seiner Proust-Biographie (1990), vor allem anhand der Korrespondenz den inneren Zustand zu rekonstruieren, der für Proust überhaupt erst den Ansatz zur Suche ermöglichte. Dabei ist ihm der Aspekt der Homosexualität besonders wichtig, ohne dass er allerdings über die Ebene des Altbekannten nennenswert hinausgelangte; zudem verwechselt er gern, wie schon Painter, den Erzähler der Suche mit ihrem Autor. Die leicht lesbare Biographie von Edmund White (1999) betrachtet Prousts Leben ebenfalls unter dem homosexuellen Aspekt, ohne dabei jedoch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Henri Bonnets lesenswerter Essay von 1959, Marcel Proust de 1907 à 1914, der allerdings außerhalb Frankreichs wenig bekannt ist, stellt die Genese des Werkes in den Vordergrund.
In eine eigene Klasse von Biographien gehören sicherlich die Erinnerungen von Céleste Albaret, die als ehemalige Haushälterin Prousts und zugleich die Françoise des Romans von einer ganz eigenen Warte auf das Leben und Werk Prousts blickt. Der weit entfernte Zeitpunkt (1974), von dem aus sie zurückblickt, lässt freilich gelegentlich Zweifel aufkommen, ob nicht auch früher Gehörtes zu später Erinnertem geworden ist. Eher als Kuriosum seien hier auch die Erinnerungen Avec Marcel Proust (1966) von Marcel Plantevignes (1889–1966) erwähnt, den Proust 1908 in Cabourg kennen- und allem Anschein nach auch lieben lernte. In seinem Buch stellt er sich mehr oder weniger als Prousts Ideenlieferant für die Suche dar; wohl nicht ohne Grund nannte Proust ihn »Le Chevalier Fantaisie«.
Für eine rasche Orientierung bildet Michel-Thiriets Marcel Proust Lexikon (1987, erw. 1992) ein nützliches Hilfsmittel. Einen enzyklopädisch aufgebauten Zugang zu Leben und Werk Prousts bietet der Dictionnaire Marcel Proust von Bouillaguet und Rogers (2004), der bei der Übersetzung aus dem Französischen durch Luzius Keller und Melanie Walz unter dem Titel Marcel Proust Enzyklopädie (2009) obendrein einige wesentliche Erweiterungen erfahren hat. Für ganz Eilige sei schließlich noch auf den kompakten Überblick über Leben und Werk von K. Biermann (2005) hingewiesen sowie auf die CD Suchers Leidenschaften. Marcel Proust. Eine Einführung in Leben und Werk, gelesen von Gerd Wameling und C. Bernd Sucher (Argon, 2012).
Eine Sammlung von 14 Essays über die Freunde und Bekannten Prousts erschien 2010 bei Gallimard. Eine Biographie von Prousts Vater erschien 2003 unter dem Titel Le Dr Adrien Proust, eine Biographie seiner Mutter 2004 unter dem Titel Madame Proust. Einem besonderen Aspekt des Lebens Prousts geht 2014 Rubén Gallo nach, der überraschend viele Lateinamerikaner in Prousts Umfeld entdeckt.
1943 Ramon Fernandez: À la gloire de Marcel Proust. Paris: Éditions de la Nouvelle Revue Critique, 1943. [Mit Faksimiles und Fotografien Prousts, seiner Familie und seines Umfeldes.]
1949 André Maurois: À la recherche de Marcel Proust. Paris: Hachette, 1949. [Dt.: Auf den Spuren von Marcel Proust. Übers. von Ruth Uecker-Lutz. Hamburg: Claassen, 1956. Neuausg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971.]
1949 Léon Tauman: Marcel Proust. Une vie et une synthèse. Paris: Librairie Armand Colin, 1949.
1953 Claude Mauriac (Hrsg.): Marcel Proust par lui-même. Paris: Éditions du Seuil, 1953. [Dt.: Marcel Proust in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Übers. von Eva Rechel-Mertens. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1958.]
1959 Henri Bonnet: Marcel Proust de 1907 à 1914. Essai de biographie critique. Avec un supplément bibliographique. Paris: Nizet, 1959.
1959 George Painter: Marcel Proust. A Biography. London: Chatto & Windus, 1959.
1984 Pierre-Louis Rey: Marcel Proust. Sa vie, son œuvre. Paris: Birr, 1984. [Dt.: Marcel Proust – Eine Bildbiographie. München: Heyne, 1990.]
1987 Philippe Michel-Thiriet: Quid de Marcel Proust. Paris: Laffont, 1987. [Dt.: Das Marcel Proust Lexikon. Übers. von Rolf Wintermeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.]
1991 Alain Buisine: Proust. Une journée particulière. Samedi 27 novembre 1909. Paris: Lattès, 1991. [Coll. Une journée particulière.]
1991 Ghislain de Diesbach: Proust. Paris: Perrin, 1991.
1992 Renate Wiggershaus: Marcel Proust. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt a. M. / Leipzig: Insel-Verlag, 1992.
1994 Roger Duchêne: L’Impossible Marcel Proust. Paris: Laffont, 1994.
1994 Michel Erman: Marcel Proust. Paris: Fayard, 1994.
1996 Jean-Yves Tadié: Marcel Proust. Paris: Gallimard, 1996. [Dt.: Marcel Proust. Übers. von Max Looser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.]
1999 Edmund White: Marcel Proust. New York: Viking Press, 1999. (Penguin Lives Series.). [Dt.: Proust. Übers. von Monika Noll. Hildesheim: Claassen, 2001]
2000 William C. Carter: Marcel Proust. A Life. New Haven / London: Yale University Press, 2000.
2001 Ronald Hayman: Proust. A Biography. London: Heinemann, 1990. [Dt.: Marcel Proust. Die Geschichte seines Lebens. Übers. von Max Looser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001.]
2003 Mary Ann Caws: Marcel Proust. Woodstock [u. a.]: Overlook Press, 2003.
2003 Daniel Panzac: Le Dr Adrien Proust, père méconnu, précurseur oublié. Paris: L’Harmattan, 2003.
2004 Évelyne Bloch-Dano: Madame Proust. Paris: Grasset & Fasquelle, 2004. [Dt.: Madame Proust. Übers. von Eliane Hagedorn und Barbara Reitz. Berlin: Classen, 2006.]
2004 Annick Bouillaguet / Brian G. Rogers (Hrsg.): Dictionnaire Marcel Proust. Paris: Champion, 2004. [Dt.: Luzius Keller (Hrsg.): Marcel Proust Enzyklopädie. Übers. von Luzius Keller und Melanie Walz. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009.]
2005 Karlheinrich Biermann: Marcel Proust. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 2005.
2010 Jean-Yves Tadié (Hrsg.): Proust et ses amis. Paris: Gallimard, 2010.
2013 Adam Watt: Marcel Proust. London: Reaktion Books, 2013.
2014 Rubén Gallo: Proust’s Latin Americans. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press, 2014.
2017 Andreas Isenschmid: Marcel Proust (Leben in Bildern). Berlin/München: Deutscher Kunstverlag, 2017.
Erinnerungen
1923 Robert de Montesquiou: Les Pas effacés. Mémoires. Paris: Émile-Paul, 1923.
1925 Élisabeth de Clermont-Tonnerre: Robert de Montesquiou et Marcel Proust. Paris: Flammarion, 1925.
1925 Louis de Robert: s. Briefe.
1926 Robert Dreyfus: Souvenirs sur Marcel Proust (accompagnés de lettres inédites). Paris: Grasset, 1926.
1928 La Princesse [Marthe] Bibesco: Au bal avec Marcel Proust. Paris: Gallimard, 1928. (Les Cahiers Marcel Proust. 4.) [Dt.: Begegnungen mit Marcel Proust. Übers. von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972.]
1928 Jacques-Émile Blanche: Mes modèles. Paris: Stock, 1928.
1929 Lucien Daudet: s. Briefe.
1929 Élisabeth de Gramont: Les marronniers en fleurs. Mémoires II. Paris: Grasset, 1929.
1930 Robert de Billy: s. Briefe.
1932 Daniel Halévy: Pays parisiens. Paris: Grasset, 1932.
1933 Reynaldo Hahn: Notes. Journal d’un musicien. Paris: Plon, 1933.
1934 Gustave Schlumberger: Mes souvenirs, 1844–1928. Paris: Plon, 1934.
1935 Jean Cocteau: Portraits-souvenirs 1900–1914. Paris: Grasset, 1935.
1935 Marie Scheikévitch: Souvenirs d’un temps disparue. Paris: Plon, 1935.
1937 Reynaldo Hahn: L’Oreille au guet. Paris: Gallimard, 1937.
1939 Maurice Sachs: Au temps du Bœuf sur le Toit. Paris: Grasset, 1939
1946/48/49 Maurice Sachs: Le Sabbat. Souvenir d’une jeunesse orageuse. Paris: Corréa, 1946. – Chronique joyeuse et scandaleuse. Ebd. 1948. – La chasse à courre. Ebd. 1949. [Dt.: Der Sabbat. Eine Chronique scandaleuse. Übers. von Herbert Schlüter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1970.]
1947 Fernand Gregh: L’Âge d’or. Souvenirs d’enfance et de jeunesse. Paris: Grasset, 1947.
1947 François Mauriac: Du côté de chez Proust. Paris: La Table Ronde, 1947.
1949 Paul Morand: s. Briefe.
1953 Edmond Jaloux: Avec Marcel Proust. Suivi de 17 lettres inédites. Paris: La Palatine, 1953.
1958 Fernand Gregh: s. Briefe.
1966 Marcel Plantevignes: Avec Marcel Proust. Causeries-Souvenirs sur Cabourg et le Boulevard Haussmann. Avec une préface du Maître Gustave Pimienta. Paris: Nizet, 1966.
1972 Maurice Duplay: Mon ami Marcel Proust. Souvenirs intimes. Paris: Gallimard, 1972. (Cahiers Marcel Proust. 5.)
1974 Céleste Albaret: Monsieur Proust. Souvenirs recueillis par Georges Belmont. Paris: Laffont, 1973. [Dt.: Monsieur Proust. Übers. von Margret Carroux. München: Kindler, 1974.]
1992 Léon Daudet: Souvenirs et polémiques. Hrsg. von Bernard Oudin. Paris: Laffont, 1992.
1992 Daniel Halévy: s. Briefe.
Herkunft
Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust wurde am 10. Juli 1871 als erster Sohn des Arztes Adrien Proust und dessen Gattin Jeanne, geb. Weil, in dem noblen Pariser Viertel Auteuil (Teil des 16. Arrondissements) geboren, im Haus seines Großonkels mütterlicherseits, Louis Weil.
Die Seite von Illiers Die Familie Proust stammte aus der etwa 100 km südwestlich von Paris gelegenen Kleinstadt Illiers (ca. 3000 Einwohner, Dép. Eure-et-Loir), wo der Großvater Marcels, Valentin Proust, ein Lebensmittel- und Kurzwarengeschäft am Marktplatz betrieb; dieser Großvater starb bereits 1855, vor Marcels Geburt. Die Großmutter, Virginie, geb. Torcheux, betrieb das Geschäft weiter und wohnte bis zu ihrem Tod 1889 an Urämie in Illiers.
Bei ihren Besuchen in Illiers stiegen die Prousts jedoch nicht bei Marcels Großmutter ab, sondern bei der Schwester Élisabeth seines Vaters, die mit dem Besitzer des größten Modegeschäfts am Ort, Jules Amiot, verheiratet war und in der Rue du Saint-Esprit wohnte; Élisabeth dürfte in vielen Hinsichten ein Vorbild für die Tante Léonie in Combray geliefert haben, auch wenn sich die Verwandtschaftsverhältnisse etwas verschoben haben: Die Mutter von Léonie tritt als Großtante Marcels auf, nicht als seine Großmutter.
Die Amiots beschäftigten eine Haushälterin, Ernestine Gallou, ein Vorbild zumindest für die Françoise in Combray. Jules Amiot pflanzte als hingebungsvoller Botanik-Liebhaber in Illiers nach dem Vorbild des Bois de Boulogne den öffentlich zugänglichen englischen Garten »Pré Catelan«, der sicherlich für Swanns Parkgrundstück Pate gestanden hat.
Der Vater Prousts, Adrien, hatte sich als Arzt auf Seuchenbekämpfung spezialisiert und erwarb sich in dieser Funktion weltweite Anerkennung. So beriet er den Schah von Persien und den Großwesir des Osmanischen Reiches in Fragen der Volkshygiene und insbesondere bei der Bekämpfung der Cholera.
Die Seite von Auteuil Der Großvater väterlicherseits von Marcels Mutter Jeanne, Baruch Weil, war vor 1800 aus dem Elsass (Niedernai) in das damals außerhalb der Stadt gelegene Dorf Auteuil bei Paris gezogen und hatte dort eine Porzellanmanufaktur gegründet, die die Grundlage für das nicht unerhebliche Vermögen der Weils bildete, das der Vater von Jeanne, Nathé Weil, als Börsenmakler noch zu mehren verstand. Marcel machte von dieser Seite her erhebliche Erbschaften, die ihm nicht nur in seinem Roman ein Leben auf großem Fuß ermöglichten. Nathés Bruder Lazard, genannt Louis, war ebenfalls ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann; seine Knopffabrik beschäftigte zeitweilig 5000 Arbeiter. Er kaufte sich in Auteuil das Haus, in dem Proust später geboren wurde, und lebte dort ein vergnügtes Leben, das in seiner Familie durchaus Missfallen erregte, insbesondere sein Zusammenleben mit der als Kurtisane beschriebenen Laure Hayman, die Proust bei seinem Onkel kennenlernte und die wie Odette in der Rue La Pérouse wohnte. Proust erbte von Onkel Louis eine Sammlung von Schauspielerinnen-Fotografien, über deren genaueren Charakter sich nur Vermutungen anstellen lassen – Elstirs Porträt der androgynen Miss Sacripant soll jedoch eine Fotografie der amerikanischen Sängerin Marie van Zandt zugrunde liegen, die diese Prousts Vater zueignete.
Der Großvater mütterlicherseits von Jeanne, Nathanael Bernkastel, war ebenfalls um Anfang des 19. Jahrhunderts aus Trier nach Paris gezogen und hatte sich dort als Kaufmann einen ansehnlichen Wohlstand erworben. In der Familie Bernkastel wurde noch viel Deutsch gesprochen, das insbesondere Jeannes Mutter, Adèle Bernkastel, noch beherrschte; so gibt es einen Brief von Proust an diese Großmutter, in dem er gar nicht mal schlecht auf Deutsch und in deutscher Schreibschrift seine Glückwünsche zu ihrem Geburtstag übermittelt (Abb. S. 286). Auch sein Brief an Ernst Robert Curtius vom 7./8. März 1922 lässt vermuten, dass seine Deutschkenntnisse genügten, um sich zumindest einen Eindruck von Curtius’ Aufsatz über Proust im Neuen Merkur verschaffen zu können, den er am 28. Februar erhalten hatte. Bei seiner Prüfung im März 1895 für die »Licence ès lettres« (etwa: Magisterprüfung) galt zudem Deutsch als Prousts zweite Sprache.
Adèle, die in mehreren literarischen Salons verkehrte, hat zweifellos ihre Vorlieben für Madame de Sévigné, Saint-Simon und George Sand an ihre Tochter weitergegeben, die eine gründliche humanistische Erziehung genießen durfte. Marcel konnte so in einem liberalen, gleichermaßen natur- wie geisteswissenschaftlich interessierten und anregenden Haushalt aufwachsen.
Der katholische Adrien Proust und die jüdische Jeanne Weil heirateten am 3. September 1870 standesamtlich. Der Ehe entspross noch ein zweiter Sohn, Robert (1873–1935), der wie sein Vater Arzt wurde. Beide Kinder wurden katholisch getauft. Nach Marcels Tod kümmerte sich Robert um die hinterlassenen Manuskripte und edierte zusammen mit Jacques Rivière die letzten drei Bände der Recherche.
Die Tochter von Robert Proust mit Marthe Dubois-Amiot, Adrienne, gen. Suzy, verh. Mante, war eine glühende Verehrerin ihres Onkels Marcel und seines literarischen Werkes; sie erbte nach dem Tod ihres Vaters ein umfangreiches Konvolut an Manuskripten und Briefen, das sie sorgfältig hütete und von dem große Teile, wie insbesondere das sog. Mauriac-Typoskript (vgl. S. 278 f.), eine Überarbeitung von Albertine disparue, erst nach ihrem Tod 1986 ans Tageslicht kamen. Nicht zuletzt diese Entdeckungen ließen die Neuausgabe der Recherche durch Jean-Yves Tadié wünschenwert erscheinen.
Die Tochter Louise Neuberger der Cousine Laure Lazarus von Prousts Mutter Jeanne (Tochter der Schwester Adèle von Jeannes Vater Nathé) heiratete 1892 den französischen Philosophen Henri Bergson, bei dessen Hochzeit Proust den Trauzeugen abgab. Proust und Bergson hatten sich bereits 1890 kennengelernt, waren aber allem Anschein nach an einem Gedankenaustausch nicht weiter interessiert, wenn auch Bergson 1904 Prousts Übersetzung von Ruskins Bible of Amiens der Académie in äußerst lobenden Tönen vorstellte. Die Mutter seiner Großmutter Adèle Weil war zudem eine Schwester der Großmutter von Valentine Peigné-Crémieux (1855–76), die mit dem erfolgreichen orientalistischen Gleyre- und Gérôme-Schüler Jean-Jules Lecomte du Nouÿ (1842–1923) verheiratet war, allerdings noch im Jahr der Eheschließung starb. Von du Nouÿ stammt das bekannte Porträt von Marcels Vater Adrien, das wohl nur dieser Verwandtschaft, die der Maler weiterhin pflegte, zu verdanken sein dürfte, denn ansonsten sind von ihm an Porträts nur solche seiner zweiten Frau Caroline Evrard (1851–92) bekannt. Über die Familie Weil war Proust zudem auch mit Karl Marx verschwägert, jedoch nur so weitläufig, dass er es selbst nicht wusste: eine der Ururgroßmütter von Prousts Großvater Nathé Weil war eine Schwester einer Ururgroßmutter von Karl Marx. Die Eltern der beiden Schwestern und damit die letzten gemeinsamen Vorfahren von Marcel Proust (sieben Generationen zurück) und Karl Marx (fünf Generationen zurück) waren Aaron Moïse Ezechiel Lwow (in deutschen Urkunden häufig »Lemberg« oder »Lemberger«, in französischen Urkunden meist »Levouf«; 1660–1712) und Bat Samuel Cohen (gest. 1700). Zu weiteren Details s. den Stammbaum in Kap. VIII.
Ausbildung und Beruf
Proust besuchte zusammen mit Jacques Bizet, dem Sohn des Komponisten Georges Bizet, die Grundschule und anschließend das renommierte Lycée Condorcet im 9. Arrondissement, wo die beiden zusammen mit Daniel Halévy, dem Sohn des Librettisten Ludovic Halévy, und Robert Dreyfus einen engen Freundeskreis bildeten. Sein Lehrer Alphonse Darlu, der in der Oberstufe des Condorcet Philosophie unterrichtete und einen spiritualistischen Rationalismus vertrat, wurde von Proust außerordentlich geschätzt und dürfte einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt haben. Am Condorcet lernte Proust neben dem obligatorischen Latein auch Altgriechisch immerhin so weit, dass er Übersetzungen aus dem Französischen ins Altgriechische anfertigen konnte.
Geneviève Straus, die Mutter von Jacques Bizet und Tochter des Komponisten Fromental Halévy, öffnet Proust ihren berühmten Salon und gibt ihm so Gelegenheit, bedeutende Künstler seiner Zeit zu treffen, wie ihm auch das Condorcet Gelegenheit gab, viele Sprösslinge bedeutender Familien kennenzulernen. Am Condorcet lernte Proust auch Horace Finaly kennen, der wie sein Vater, der äußerst vermögende Bankier Hugo Finaly, Finanzfachmann wurde und Proust bei seinen Geldanlagen beriet.
In seinen späteren Schuljahren engagierte Proust sich zusammen mit seinen Freunden für verschiedene hektographierte Schülerzeitschriften mit literarischem Anspruch – Le Lundi, La Revue de seconde, La Revue lilas, La Revue verte –, die es zwar jeweils nur auf wenige Nummern brachten, aber die literarischen Interessen des Freundeskreises formten, der sich in der Folgezeit immer wieder mit ähnlichen Projekten befasste.
Um der Wehrpflicht zu entgehen, die fünf Jahre betrug, meldete sich Proust 1889 freiwillig für ein Jahr zum Militär. Er leistete seinen Dienst in Orléans ab, nahm sich ein Zimmer und lebte nur pro forma in der Kaserne. Aufgrund seiner schwachen Gesundheit wurde er vom Morgenappell und den anstrengendsten Übungen freigestellt, wie auch später von Wehrübungen. Prousts militärische Laufbahn war vielleicht kein Gewinn für Frankreich, aber sicherlich für Proust selbst, der bei einem Diner des Präfekten des Dép. Loiret den späteren Diplomaten Robert de Billy (1869–1953) kennenlernte, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, die sich in einem umfangreichen Briefwechsel niederschlug.
Nach dem Militärdienst schrieb sich Proust an der juristischen Fakultät und an der École libre des sciences politiques ein, wo er zwar ausgewählte Vorlesungen mit Interesse anhörte, das Studium jedoch niemals ernstlich aufnahm: »Etwas Grauenvolleres als den Anwaltsberuf habe ich mir selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung nicht vorstellen können« (Brief vom 28. 9. 1893 an den Vater, Corr. I, S. 238). Immerhin besuchte er in der juristischen Fakultät die Vorlesungen von Paul Desjardins (1859–1940), der ihn auf Ruskin aufmerksam machte, und an der École libre lernte er den symbolistischen Dichter Gabriel Trarieux (1870–1940) kennen, der ihm die Bekanntschaft mit André Gide vermittelte. 1892 erwarb er sein Diplom als Lizentiat in Jura. 1894/95 hörte Proust verschiedene philosophische Vorlesungen an der Sorbonne, insbes. die von Victor Egger und von Charles Secrétan, und bestand im März 1895 seine Prüfung zum Lizentiat in Philosophie.
Neben seinem lustlosen Studium beschäftigt sich Proust vor allem mit der Zeitschrift Le Banquet, die Ferdinand Gregh 1892 gegründet hatte und an der seine alten Schulkameraden Bizet, Halévy, Dreyfus und Robert de Flers sowie Gabriel Trarieux beteiligt waren; sie erschien ein Jahr lang, mit 8 Heften insgesamt, in denen sich jedoch bereits Studien Prousts befinden, die dann später in mehr oder weniger veränderter Form in Les Plaisirs et les Jours Eingang fanden und schon die Hand des zukünftigen Meisters spüren lassen. Dennoch fühlte sich die Redaktion bemüßigt, sich in einem Hinweis von Prousts wohlwollendem Blick auf das mondäne Leben zu distanzieren – was einigermaßen überflüssig war, denn nach dem nächsten Heft war die Kasse leer. Während dieser Zeit entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen Proust und dem Marquis Robert de Flers (1872–1927), der in der Folgezeit Karriere als Journalist und Bühnenautor machte.
Nach vielen unrealistischen Überlegungen hinsichtlich einer diplomatischen Laufbahn oder einer Verwaltungslaufbahn nahm Proust schließlich im Juni 1895 eine Stelle als Bibliothekar bei der bedeutenden Bibliothèque Mazarine an, sieht aber diese Stelle offenbar als eine Fortsetzung seines Studiums: »Er war der am wenigsten ›mitarbeitende‹ Mitarbeiter von allen und nahm einen Urlaub nach dem anderen« (André Maurois, À la recherche de Marcel Proust, S. 82); schließlich wurde ihm im Dezember desselben Jahres ein einjähriger Urlaub bewilligt. 1900 wurde überraschenderweise sein Fehlen bemerkt und sein Dienst beendet.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 rückten die deutschen Truppen binnen weniger Wochen bis auf wenige Kilometer an Paris heran. Proust wurde Zeuge der Bombardierung der Stadt durch Zeppeline und des Abwehrkampfes am nächtlichen Himmel. Anfang September brachte er sich dann aber doch, wie viele seiner Freunde zuvor, nach Cabourg an der normannischen Küste in Sicherheit, wo er sich an der Betreuung von Verwundeten in Hospitälern beteiligte. Dass er selbst trotz Kampfeswillen nicht kriegsverwendungsfähig war, war ihm klar, jedoch nicht der Militärbürokratie, die den dreiundvierzigjährigen Asthmatiker einziehen wollte – bis ihn 1915 zwei Militärärzte besuchten und »musterten«. Sein Bruder Robert arbeitete in Feldlazaretts, mehrere seiner engsten Freunde wie Reynaldo Hahn kämpften als Freiwillige an der Front, und die täglichen Gefallenenlisten in den Zeitungen berührten ihn unmittelbar: »durch die schreckliche Gewöhnung an die tägliche Angst hat der Krieg uns eine neue Fähigkeit verliehen, nämlich die, uns für Unbekannte leiden lassen zu können« (Brief an die Prinzessin Soutzo vom 29./30. 10. 1917; Corr. XVI, S. 272). Der Tod des nahen Freundes Robert d’Humières 1915, der ihm bei der Ruskin-Übersetzung assistiert hatte, und vor allem des angebeteten Freundes Bertrand de Fénelon schon in den ersten Kriegsmonaten, im Dezember 1914, stürzte Proust in eine tiefe Depression, die unübersehbar Ausdruck in seiner Behandlung der Weltkriegserfahrung in Le Temps retrouvé gefunden hat. Die Zusammenführung des Obszönen und des Erhabenen, die Koinzidenz von Prostitution und Heldentum in dem Orden, den Saint-Loup im Bordell verliert, das Abgleiten der Erotik in die »Darkrooms« der Métroschächte bei Fliegerangriffen zeigen, in welch hohem Maße Proust die »Grande Guerre« als die Perversion der christlichen Zivilisation wahrgenommen hat: der Feuersturm von Sodom wird parodistisch zum Brutofen für Homosexualität verkehrt, die Selbstzerstörung des Abendlandes – wie der Erste Weltkrieg jedenfalls von Prousts Zeitgenossen wahrgenommen wurde, die vom zweiten noch nichts wussten – findet ihren metaphorischen Ausdruck in der masochistischen Flagellation Charlus’ in Jupiens Bordell.1
Proust war bereits 1913 mit dem ersten Band der Recherche für den äußerst renommierten und elitären Prix Goncourt vorgeschlagen worden, der jedoch an Marc Elder für Le Peuple de la mer ging. Mit dem zweiten Band dann war Proust erfolgreicher: bei der Nominierung für 1919 stimmten sechs Mitglieder der Jury für sein Werk, die anderen vier dagegen für Roland Dorgelès’ (d. i. Roland Lécavelé, 1885–1973) Les Croix de bois (dt. Die hölzernen Kreuze, Übers. Tony Kellen und Erhard Wittek, Horw-Luzern/Stuttgart/Leipzig: Montana-Verlag, 1930; von Tucholsky euphorisch besprochen). Die Entscheidung der Académie Goncourt wurde in der Presse scharf angegriffen, zum Teil mit absurden Argumenten (»ein Talent von jenseits des Grabes«), im wesentlichen aber mit der Begründung, dass in einer Zeit, die noch immer ihre Toten zähle, eine Auseinandersetzung mit der gesamteuropäischen Katastrophe des Weltkrieges angemessener und notwendiger sei als die mit den Problemen halbseidener Damen der Belle Époque oder spätpubertärer Jugendlicher im Luxusurlaub: »Diese Collage ruheloser Grübeleien … steht im Missklang mit dem neuerwachten klassischen Geist, den die Partei der Intelligenz für allein verträglich mit der Größe unserer siegreichen Nation erachtet« (beide Zitate von dem bis dahin mit Proust befreundeten Jean de Pierrefeu am 12. 12. 1919 immerhin im Journal des débats, einem liberal-konservativen Wochenmagazin, das hohes Ansehen nicht nur bei dem »Parti de l’Intelligence«2 genoss); Proust geißelt dann übrigens dieses verengte Verständnis von Literatur in einer Passage der Recherche (WZ, S. 268–271 und 278 f.) ausgiebig. Auf kurze Sicht jedoch gab das Publikum den Nörglern recht: Die Croix de bois erzielten bis Mitte 1920 eine viermal so hohe Auflage wie die Jeunes filles en fleurs (79 779 gegenüber 19 600). Auf lange Sicht haben sich die Verhältnisse bekanntlich umgekehrt, jedoch wird auch Dorgelès’ Buch noch immer aufgelegt, so 2014 bei Magnard, und 1988 erschien eine Überarbeitung der deutschen Übersetzung von 1930 bei Kiepenheuer.
Gesundheit
Der Eukalyptus-Zerstäuber, den Proust mit in die Bibliothèque Mazarine nahm, weil ihn der Staub irritierte, hat ihn sicherlich einige Sympathien seiner Kollegen gekostet, lässt aber auch seine bürgerliche Laufbahn in einem milderen Licht erscheinen; Proust war wirklich von schwacher Konstitution. Schon als Zehnjähriger litt er an Asthmaanfällen, die ihn zunehmend in seinem gesellschaftlichen Leben beschränkten, aus dem er sich ab 1906 dann auch weitgehend zurückzog. Um die durch Atemnot bedingte Schlaflosigkeit zu bekämpfen, experimentierte er mit allen möglichen Arzneien und Drogen herum, die ihm womöglich kreative Träume bescherten, die sich dann auch in der Suche wiederfinden, aber seine Konstitution nur weiter untergraben haben dürften. Berühmt-berüchtigt sind seine »fumigations« mit Legras-Pulver geworden, bei denen er sein Schlafzimmer mit Dämpfen zunebelte, die ihm Luft verschaffen sollten.