Kitabı oku: «Der ungeliebte Amadeus und andere Kriminalgeschichten»
Dietmar Hann – Bernd Lunghard
Der ungeliebte Amadeus
und andere Kriminalgeschichten
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei den Autoren
Layout und Einbandgestaltung: Dietmar Hann
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Kommissar Opa
Mindestens 38.000 Kilometer
Nomen est o …
Kassandras Rache
Der ungeliebte Amadeus
Kommissar Opa
„Der war‘s, der Dicke dahinten. Der ist der Mörder. Könnt ihr Gift drauf nehmen!“
Opa Werner stand schon eine Weile unbemerkt in der Tür. Ihm reichten wenige Szenen eines Krimis, um todsicher den Täter vorhersagen zu können. Da er seine Ermittlungsergebnisse nie für sich behielt, mündete fast jeder Krimiabend in einen handfesten Familienkrach.
„Werner!“, herrschte ihn Oma Helga an.
„Mensch Papa, du kannst einem wirklich jeden Krimispaß verderben. Setz dich draußen auf die Hollywoodschaukel, lies ein gutes Buch und lass uns in Ruhe den Film anschauen“, wies Tochter Rosalie den Vater ruhig, aber bestimmt zurecht.
Schwiegersohn Frank sagte nichts. Er goss sich ein Glas mit Wodka voll, trank es in einem Zug aus und verzog sich auf die Terrasse, um zu rauchen.
„Ja, hau bloß ab, Opa. Wir haben uns so auf den ‚Tatort‘ gefreut und du, du versaust uns wieder die ganze Spannung.“ Enkelin Eileen standen Tränen in den Augen.
„Ey, Alter, verpiss dich endlich!“, rief Enkel Maik.
„Aber Maiiik!“, entsetzten sich Oma Helga, Mutter Rosalie und Schwester Eileen.
Vater Frank zog grimmig an der Zigarette. Er hasste seinen Schwiegervater. Irgendwann, dachte er, wirst du für deine Bosheiten büßen.
Kriminalhauptkommissar a. D. Werner Gattermann ließ alles an sich abprallen. Vierzig Jahre lang hatte er kleine und große Gauner gejagt, musste viel Leid und Elend bei den Opfern erleben und war sogar zweimal angeschossen worden. Er wusste genau, dass der Job eines Kriminalkommissars kein Vergnügen war, sondern harte, entbehrungsreiche und mitunter sehr gefährliche Arbeit bedeutete. Und deshalb konnte er nicht begreifen, dass sich viele Menschen mit großem Vergnügen von Mord und Totschlag im Fernsehen unterhalten ließen. Leider auch seine Familie. Außerdem gingen ihm alle Fernsehkommissare total auf den Sack, weil sie seiner Meinung nach stümperhaft ermittelten, sich wie Wildsäue im Straßenverkehr verhielten und es auch sonst mit den Gesetzen nicht so genau nahmen.
„Na, ihr Lieben, jetzt wo ihr wisst, wer der Mörder ist, könnten wir doch eigentlich ‘ne Runde Skat kloppen …“
„Raaaus“, brüllten Oma Helga, Tochter Rosalie, Enkelin Eileen, Enkel Maik und sogar Schwiegersohn Frank auf der Terrasse.
„Na, wie sieht’s aus, Mädels“, unterbrach Rosalie das belanglose Geplapper beim Abendessen, „nachher Lust auf‘n Skat?“
„Was denn, heute? Heut ist Donnerstag, Rosalie. Donnerstags geh ich zum Handarbeitszirkel. Das weißt du doch!“
„Was‘n, jetze? Oooch, Mama!“, maulte Eileen, „Bock hab‘ ich ja, aber leider Null Zeit. Muss morgen ‘n Referat über Goethes Frauengeschichten halten. Und das hab ich noch nicht fertig.“
„Häh? Der olle Goethe hat Geschichten über die Frauen geschrieben?“, mischte sich Frank ein.
„Wat jibtet morgen Mittag eigentlich zu fressen“, wollte Maik wissen und handelte sich damit strafende Blicke seiner Verwandten ein.
„Maik, ‚essen‘ heißt das! In unserem Hause wird gegessen und nicht gefressen. Wenn das bei deinen Kumpels daheim anders sein sollte, ist das deren Angelegenheit. Aber keinesfalls unser Niveau. Merk dir das bitte!“
Maik verdrehte die Augen und grapschte sich das letzte Käsebrötchen vom Teller. Die ewigen Zurechtweisungen seiner Mutter hingen ihm zum Halse heraus.
„Und nun zu dir, mein lieber Gatte. Selbstverständlich hat Johann Wolfgang von Goethe auch über Frauen geschrieben. Eileen muss aber ein Referat über die Liebesverhältnisse des Geheimrats halten. Und das ist ja wohl ein Unterschied, nicht wahr? Aber nichtsdestotrotz ein sehr interessantes Thema.“
Frank schob eine Zigarette zwischen die Lippen und machte sich auf den Weg zur Terrasse. Er hasste es, wenn seine Frau zu Hause und vor allem ihm gegenüber die Oberlehrerin herauskehrte. Natürlich wusste er, was ein Liebesverhältnis ist. Darüber musste ihn niemand belehren, schon gar nicht seine Frau. Er kannte sich sogar mit Verhältnissen aus, die ohne den Zusatz „Liebe“ auskamen und dennoch oder vielleicht gerade deshalb wunderbar funktionierten.
„Zerbrich dir nicht dein schönes Köpfchen, Kind, das Referat kriegen wir schon hin. Muss ja auch mal von Vorteil sein, eine Lehrerin als Mutter zu haben. Dazu noch ‘ne Deutschlehrerin! Der reinste Glücksfall, nicht wahr? Mein Deutschkurs ist bereits durch mit dem Goethestoff. Katharina Fuchs hat ein super Referat zum gleichen Thema gehalten. Ihre Ausarbeitungen liegen auf meinem Schreibtisch. Kannst ja mal reinschauen. Ausnahmsweise.“ Rosalie zwinkerte ihrer Tochter zu und die zwinkerte zurück.
„Und, Mama, wen kümmert es, wenn du mal an einem Zirkelabend fehlst? Davon geht die Welt nicht unter. So eine Schnellstrickerin wie du hat doch im Handumdrehen die Rückstände wieder aufgeholt, nicht wahr? Zur Not auch zu Hause, als Hausaufgabe sozusagen.“ Rosalie lächelte, Eileen kicherte, Maik vergaß einen Augenblick zu kauen und Oma Helga schaute ihre Tochter grimmig an.
„Ach, Mama, guck doch nicht so böse. Sei ehrlich, du hast nur Angst, den neuesten Klatsch und Tratsch zu verpassen und mal nicht auf dem Laufenden zu sein. Aber man muss auch Opfer bringen können. Schließlich ist es für einen guten Zweck. Papa braucht unsere Zuwendung. Und du weißt, dass wir ihm keine größere Freude bereiten können, als mit ihm Skat zu spielen.“
Werner nickte und strahlte. Schließlich nickte auch Helga, allerdings ohne zu strahlen. Rosalie hatte ja Recht, ab und zu mussten Opfer gebracht werden, damit der Familiensegen nicht in Schieflage geriet. Ab und zu! Doch seit seiner Pensionierung musste sie dauernd auf Werners Macken Rücksicht nehmen. Und dadurch fühlte sie sich selbst beinahe wie ein Opfer.
„Meinetwegen. Aber damit das klar ist: Eine Stunde und keine Sekunde länger. Und dann sofort!“
Werner nickte wieder und strahlte noch ein bisschen mehr. Eine Stunde war immerhin besser als gar kein Skat. Und so, wie er seine Helga kannte, würde sie ihre Drohung sowieso nicht wahrmachen, dafür spielte sie selbst viel zu gern Karten.
Dass Rosalie vor wenigen Minuten lediglich die „Mädels“ zum Skatspielen animiert hatte, wunderte niemanden in der Familie. Werner musste nicht gefragt werden, der hätte Tag und Nacht „Skat kloppen“ können. Maik würde niemand fragen, denn schon vor Jahren hatte es die Familie genervt aufgegeben, ihm die Skatregeln beizubringen. Und Frank wollte niemand fragen. Der spielte derart miserabel, dass ein Skatabend mit ihm für alle zur Qual wurde und stets in Zank und Streit endete. Zum Glück hatte sich Eileen sehr gelehrig gezeigt. Noch ehe bei ihr die Pubertät einsetzte, beherrschte sie die Kunst des Reizens beim Skat aus dem Effeff. Und das, so meinte Opa Werner, wäre für‘s Leben allemal wichtiger, als Kerle mit hautengen Jeans, tief ausgeschnittenen Shirts und angetuschten Wimpern zu reizen.
„Ach Mädels, ihr seid so lieb!“ Werner tat, als wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Meinetwegen müsst ihr aber keine Opfer bringen. Wir brauchen doch nur drei Spieler. Meine Wenigkeit und Rosalie, das sind schon zwei. Eileen, du setzt dich erst mal an dein Referat, derweil ist Oma unser dritter Mann. Und Helga, wenn du zu deinem Strickverein gehst, wird Eileen ja fertig sein und kann dich ablösen. So ist uns allen gedient, oder?“ Werner strahlte, als wäre er eine Reklamefigur der Leuchtmittelindustrie.
Rosalie schmunzelte. Sie hatte ihren Vater durchschaut. Mit seinem Kompromissvorschlag ließ sich die von Mama strikt begrenzte Spielzeit mindestens verdoppeln. Mir soll‘s recht sein, dachte sie, ich habe Zeit. Ausnahmsweise mal. Die Unterrichtsstunden für morgen sind vorbereitet und Arbeiten muss ich auch keine korrigieren.
Helga und Eileen begannen, den Tisch abzuräumen.
„Na los, pack schon mit an!“, forderte Rosalie ihren Sohn auf.
„Kann nicht, muss kacken!“ Maik verzog das Gesicht zur Grimasse und eilte in Richtung Klo. Das fehlte noch, dass er die Finger für „Weiberarbeit“ krumm machte.
Als Werner einen Moment mit seiner Tochter allein war, tätschelte er ihr den Unterarm und küsste sie auf die Stirn. „Danke, mein Kind, das war sehr lieb von dir.“
Im Stillen feixte er. Ach Rosalie, du bist durchschaut. Mit deinen pädagogischen Mätzchen kannst du vielleicht kleine Schulmonster beeindrucken, mich ausgebufften Exbullen nicht. Wär‘ schön, wenn dich Vaterliebe zu dieser Idee inspiriert hätte. Glaub ich dir aber nicht. Deine Fürsorglichkeit zielt doch nur darauf ab, euch ungestörten Wochenendkrimispaß zu sichern. Gib’s zu, Tochter, das ist dein wahres Motiv. Na gut, dann wird Hauptkommissar Opa mal gnädig sein und euch die Täter allein ermitteln lassen.
Für einen Moment kam Werner Anke in den Sinn. Seine ältere Tochter hatte zwar keinen so wohlklingenden Namen wie die jüngere, war aber anmutiger und herzlicher als diese.
Anke hätte aus purer Liebe zum Vater Skatabende organisiert. Auch am Wochenende, denn mit Krimis hatte sie genau wie er nichts am Hut. Allein schon deshalb war sie seine Lieblingstochter.
Anke hatte im Studium einen netten Mann kennengelernt, ihn mit 23 Jahren geheiratet, ihm mit 24 und 26 jeweils eine Tochter geboren und mit 27 feststellen müssen, dass er doch nicht ganz so nett war, denn er hatte ihre zehn Jahre jüngere Schwester geschwängert. Andreas beteuerte unter Tränen und Rotzblasen, dass er nur ein einziges Mal schwach geworden wäre. Und auch nur, weil sich Rosalie ihm halbnackt an den Hals geworfen hätte und er, beschwipst wie er war, den Reizen ihrer jugendlich festen Brüste nicht widerstehen konnte. Rosalie dagegen schwor Stein und Bein, dass Andreas sie schon bedrängt hätte, als sie noch 16 war und sie sich nur deshalb ein Jahr später mit ihm eingelassen habe, weil er immer häufiger gedroht hätte, sie auch mit Gewalt zu nehmen, wenn sie nicht endlich willig wäre. Tatsächlich war sie es aber leid gewesen, ständig von den Freundinnen gehänselt zu werden, weil sie mit 17 immer noch Jungfrau war. Das allerdings hatte sie bis heute niemandem gebeichtet. Helga glaubte ihrer Lieblingstochter aufs Wort. Daraufhin glaubte Anke ihrem Mann ebenfalls aufs Wort. Nicht zuletzt, weil sie ihre Schwester nur zu gut kannte. Werner, der aus berufsbedingter Routine heraus nur Fakten Glauben schenkte, hielt sich zurück. Der einzige offensichtliche Fakt war nämlich Rosalies zunehmender Bauchumfang.
Dieser Familienkonflikt wollte sich partout nicht im Guten lösen lassen. Deshalb wurde nach der einen Version auf Helgas Betreiben hin Anke samt Familie des Hauses verwiesen. Nach der anderen hat sie von sich aus das Elternhaus verlassen und alle Kontakte abgebrochen.
Ach, meine Große, es will mir das Herz zerreißen, dass wir uns nicht wieder vertragen haben. Dass ihr nach Australien ausgewandert seid ebenso. Und nicht mal deine Kinder wollen mit ihren Großeltern und ihrer Halbschwester etwas zu tun haben. Welch ein Jammer.
„Papaha, was ist lohos? Etwa Angst, dass du heute gegen deine Mädels keinen Stich siehst?“ Rosalie kam mit einem Tablett voll mit Gläsern, Flaschen und mehreren Tüten Knabberkram aus der Küche. Gerda folgte ihr mit Spielkarten, Notizblock und Kugelschreiber. „Auf, auf, Werner, es ist nicht mehr ganz so heiß, wir können auf der Terrasse spielen!“
„Frank! Das ist doch bestimmt schon die dritte Zigarette hintereinander, nicht wahr?“, schimpfte Rosalie, als sie ihren Mann draußen hinter einer dicken Qualmwolke entdeckte. „Ab sofort ist die Terrasse Nichtraucherzone. Geh runter zum Teich und setz dich mit deinem Aschenbecher auf die Hollywoodschaukel. Da könnt ihr beide ungestört vor euch hin stinken. Hier jedenfalls wird jetzt ein gepflegter Skat gespielt.“
„Gedroschen, Rosalie“, rief Werner, der gerade aus dem Wohnzimmer kam, „hier wird jetzt Skat gedroschen, dass die Heide wackelt. Und das ist nur was für Kenner und Könner und nix für Luschen und Nullen. Also, Schwiegersohn, ab nach Hollywood.“
„Ach, leckt mich doch alle …“, Frank zeigte den Stinkefinger, nahm den Aschenbecher, schnappte sich die Flasche Bier vom Tisch, die eigentlich für Werner bestimmt war, und schlenderte betont lässig zum Teich hinunter. Schon wenig später vernahm er aus Richtung Terrasse all die Wortfetzen und Geräusche, die ihm schon seit Jahren das Leben im Hause Gattermann vergällten: Hat sich schon mal einer totgemischt! – 18? – Immer! – 20? – Na, aber! – Zwo? – Weg! – Sagt einer mehr? – Wie soll er heißen? – Pikus, der Waldspecht! – Wer kommt raus? – Immer der, der so doof fragt!
Bereits nach der dritten Runde erschien Eileen am Spieltisch und wurde mit Gejohle begrüßt. Sie hatte die Ausarbeitungen der Schülerin aus dem Parallelkurs einfach kopiert, fertig war die Laube!
Und schon schallte es durch den Garten: Beim Grand spielt man Ässe … – … und wer keene hat … – … der hält die Fresse! – Hineingewichst … – … und nicht gezittert! – Hosen runter! – … von jedem Dorf ’n Köter! – Kontra! – Re – Schneider, schwarz, angesagt …
Wenn die Spieler tatsächlich für einen Moment etwas leiser wurden, war aus Maiks Zimmer dröhnendes Geballer zu vernehmen. Er glaubte wohl, mal wieder die Welt vor dem Bösen retten zu müssen und brachte dazu die Spielekonsole zum Glühen.
Als wäre das alles nicht nervend genug, tauchte Werner immer, wenn er aussetzen musste, bei Frank auf, schubste die Schaukel an und prahlte: „War das’n Grand Ouvert, Mannomann! Wie er im Buche steht!“ Oder: „Oioioi, die hab ich sowas von Schneider und schwarz gespielt!“ Oder: „Den ‚Null‘ hätten die gewinnen müssen. Aber gegen Werner Gattermann haben sie’s nicht können, hahaha!“ Und jedes Mal, wenn er wieder an den Spieltisch zurückmusste, verabschiedete er sich mit den Worten: „Aber wozu erzähl ich dir das eigentlich, du hast doch davon sowieso keine Ahnung!“
Frank tat meist so, als würde er Werner gar nicht sehen und die Sticheleien nicht hören. Innerlich jedoch wühlten sie ihn auf. Außerdem beschäftigte ihn zurzeit etwas gänzlich anderes. Und von dem hatte Werner keine Ahnung. Und der Rest der Familie zum Glück auch nicht. Dazu kam noch, dass er vor drei Monaten seine Arbeit verloren hatte. Das war in einem Beamtenhaushalt zwar kein finanzieller Beinbruch, wirkte sich aber auf seine Stellung innerhalb der Familie aus. Dass er als Nichtbeamter in Werners Augen von vornherein als Versager galt, der es zu nichts bringen würde, daran hatte er sich fast gewöhnt, doch mit der Zeit hatte dessen Meinung auch auf Rosalie, Helga und Eileen abgefärbt. Sogar auf Maik. Und das wurmte ihn besonders. Bei Eileen konnte er das noch verschmerzen, er mochte sie sehr, aber sie war nun mal nicht seine leibliche Tochter. Sein Sohn hingegen war ihm nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten; er war ihm auch vom Charakter her ähnlich, sofern man von seinen pubertären Entgleisungen absah. Manchmal konnte er sich mit ihm fast schon wie von Mann zu Mann unterhalten.
Werner, dieser Ruhestandsheini, hatte gut reden; seine Pension war gesichert. Auf Lebenszeit. Dass er, Frank, regelmäßig zum Amt latschen und ebenso regelmäßig ohne Arbeitsvermittlung wieder abziehen musste, verflucht noch mal, das war mehr als demütigend. Dabei waren qualifizierte Automechaniker auf dem Arbeitsmarkt Mangelware. Nur blöderweise an seinem Wohnort und in der näheren Umgebung nicht. Dass er sich bereits selbst um Aushilfsjobs bemühte und schwarz die Karren von Freunden und Bekannten reparierte, hielt er vor der Familie geheim. Musste er geheim halten; der hauseigene Bulle a. D. hätte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, verpfiffen. Sicherlich sogar mit Lust. Aber das herauszufinden, hatte Frank keine Lust.
„Na, Schwiegersöhnchen, noch immer am Brüten? Hockst hier wie ‘ne Glucke auf den Eiern!“ Werner hatte sich unbemerkt genähert und die Schaukel angestoßen. Mein Gott, wie schnell spielen die denn heute, dachte Frank.
„Könntest dich ja mal auf der Terrasse blicken lassen, alter Quarzer. Aber ohne Kippe, wenn ich bitten darf. Dann zeigt dir dein lieber Schwiegerpapa, was‘n richtiger Siegertyp draufhaben sollte. Hab allerdings meine Zweifel, ob dir das noch was nützt. Einmal Niete, immer Niete. Arme Rosalie!“
Hau ab, ehe ich mich vergesse, dachte Frank, und als Werner fröhlich pfeifend zum Spieltisch zurückschlenderte, ballte er sogar die Fäuste. Pass bloß auf, alte Großschnauze, dass du nicht eines Nachts „versehentlich“ kopfüber im Teich landest und ersäufst.
Und wieso eigentlich „arme Rosalie“? Wer ist denn hier bedauernswert, häh? Bin doch eindeutig ich.
Wie zur Bestätigung ballte Frank erneut die Fäuste. Abgesehen von Werners ewigen Pöbeleien war er mit dessen Tochter gestraft genug. Ständig versuchte Rosalie an ihm herumzuerziehen: Frank, tu dies nicht, Frank, tu das nicht. – Komm mal hier und kuck mal da. – Weißt gar nicht, was du an mir hast. – Ich meine es doch nur gut mit dir, nicht wahr? – Nichtwahrnichtwahrnichtwahr! Als ob er einer ihrer doofen Schüler wäre … Dabei ging er allmählich auf die fünfzig zu. In diesem Alter ist man längst immun gegen alle Pädagogikkacke. Bereits seine Großmutter wusste das. Ihr Spruch „Mit fünfzig kannste niemanden mehr umficken“ klang ihm noch heute in den Ohren, und vor Augen hatte er, wie sie verschmitzt lächelte, wenn sie diese Weisheit kundtat. Rosalie schien leider nichts vom Erfahrungsschatz seiner Großmutter zu halten, denn sie hörte nicht auf, ihn mit ihren Belehrungen zu schikanieren. Was bei dem Vater kein Wunder war.
Wozu, verdammt noch mal, sollte er sich überhaupt ändern? Rosalie wusste doch selbst nicht, wie sie ihn haben wollte. Heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders, selbst wenn dies im krassen Widerspruch zu ihren vorhergehenden Wünschen stand. Längst hatte er durchschaut, dass es Rosalie nicht wirklich um Erziehungsergebnisse ging, allein das pädagogische Getue verschaffte ihr Befriedigung. Es war schon ein Kreuz mit seiner Frau. Zum Glück gab es im Bett keine Probleme. Deshalb hatte Frank ihre Macken bisher mehr oder weniger geduldig ertragen. Ansonsten hätte er sich viel öfter in Affären geflüchtet oder längst das Weite gesucht.
Frank zündete sich erneut eine Zigarette an. In den letzten Wochen war ihm immer deutlicher klar geworden, dass er dieses Familienleben nicht mehr lange mitmachen würde. Auf keinen Fall. Vor der letzten Konsequenz scheute er aber noch zurück, weil eine Scheidung ein verdammt kostspieliges „Vergnügen“ war. Das wusste er von zwei Kumpels, die das ganze Theater bereits hinter sich hatten und sich seitdem jeglichen Kneipenbesuch verkneifen mussten.
Ich brauche endlich wieder einen festen Job, überlegte er. Egal, ob in meinem erlernten Beruf oder nicht. Meinetwegen auch Kaufhausspion, Wachmann, Bodyguard … Hauptsache bezahlt. Und weit weg von zu Hause.
Frank warf den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und sah zur Terrasse hinüber, wo sich Helga und Rosalie laut stritten. Und wie nicht anders zu erwarten war, kam Werner schon angelatscht. Fünf Meter vor der Schaukel winkte er ihm fröhlich zu und rief: „He, willste Hilfspolizist werden?“
Frank stutzte. Konnte der selbsternannte Alleskönner etwa Gedanken lesen? Er sprang auf, ging einen Schritt auf den Schwiegervater zu. „Was? Im Ernst? Wie meinst‘n das?“
Werner trat näher und verzog den Mund zu einem triumphierenden Grinsen: „Naja, sieht aus, als ob du bereits für die Aufnahmeprüfung übst: Stundenlang in die Ferne stieren, ohne an was zu denken. Hahaha!“
Frank ließ sich wieder auf die Schaukel fallen. „Du musst es ja wissen, du Kriminaloberhauptsuperkommissar“, murmelte er und tastete nach der Zigarettenschachtel. Verdammt noch mal, ich werde mich doch scheiden lassen, dachte er, hundertprozentig! Und so bald wie möglich. Schon deinetwegen, du elender Drecksack!
Aber, aber … dazu brauchte er halt Geld. Zu dieser klugen Erkenntnis war er heute bereits mehrmals gekommen. Zum Teufel noch mal, er drehte sich im Kreis. Und alles andere drehte sich immer wieder um das Scheißgeld. Und Rosalie saß auf dem Geld. Wie die Glucke auf den Eiern.
Er stutzte. Wie die Gluck… Hatte er doch eben erst gehört.
Dass es ihm in seiner neuen Situation dreckig ging, hatte sie bisher nicht bemerkt. Oder absichtlich übersehen. Er dagegen sollte ihr immer alle Wünsche von der Nasenspitze ablesen. Und das fand er ziemlich ungerecht. Gerecht wäre es, sie mal so richtig zur Kasse zu bitten, dachte er. Oder den alten Kotzbrocken. Geld hat der jedenfalls genug.
„Na, kluckst ja immer noch hier. Nicht einsam? Könntest ruhig mal an deine Liebste denken. Die hat gerade haushoch einen todsicheren Grand ohne Vieren verloren. Bloß gut, dass wir zu Hause nicht um Geld spielen, sonst wäre ich jetzt arm wie eine Kirchenmaus.“
Als Frank unbeeindruckt weiter vor sich hin stierte, schaute Rosalie missbilligend auf ihn herab. „Aber wie es aussieht, interessieren dich die Sorgen deiner Frau nicht sonderlich. Solange der Herr Gatte ohne Sorgen in den Tag hinein leben kann, ist alles in Butter, nicht wahr? Vergiss bitte nicht, wer hier das meiste Geld nach Hause bringt!“ Und schon halb im Gehen begriffen: „Sag mal, die wievielte Zigarette ist das eigentlich? Frank, ich habe dir schon so oft gesagt: Gewöhn dir das Rauchen ab. So dicke haben wir es deinetwegen ja nicht mehr. Außerdem bekommt man vom Rauchen eine graue Haut.“
Frank verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn seine Frau ohne Punkt und Komma auf ihn einredete und gar keine Antwort erwartete. Und immer wieder diese Unterstellungen und Belehrungen.
Er seufzte. Wenn Rosalie wüsste … Natürlich dachte er an seine Liebste. Tag und Nacht sogar. Aber eben nicht an Rosalie, denn seine Liebste hieß Melanie.
Melanie war ganz anders gestrickt als seine Frau. Die störte es nicht, dass er rauchte, sie war selbst Raucher. Oder sagte man ‚Raucherin‘? Egal! Frank zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Wenn die Biester bloß nicht so verflucht teuer wären! Und immer teurer würden!
Melanie nahm keinen Anstoß, wenn seine Fingernägel nicht ganz sauber waren oder wenn er nach Benzin und Öl roch. Melanie brauchte kein Sportcoupé, die fuhr leidenschaftlich gern Motorrad. Und von Motorrädern und Autos verstand er ‘ne Menge. Da machte ihm so leicht keiner was vor. Und da, verdammt noch mal, konnte er im Gegensatz zu daheim jederzeit mitreden. Nein, Melanie kam ihm nicht mit offenen Ratschlägen, geheimen Räten oder mit Goethe und Konsorten. Sie war genau wie er ein durch und durch praktisch veranlagter Mensch. Und sie sah verdammt gut aus. Obwohl sie rauchte. Von wegen grauer Haut!
Die beiden hatten sich vor zwei Monaten auf der Arbeitsagentur kennengelernt. Sie verstanden sich auf Anhieb, sodass sie anschließend noch zwei Stunden auf der Parkbank weiterplauderten. Für den Abend hatten sie sich in der Kneipe verabredet, gingen aber schon nach dem ersten Bier zu ihr auf die Bude, weil sie sich mehr nach Taten als nach Worten sehnten. Frank hatte kein Problem damit, dass sie vom Alter her seine Tochter hätte sein können. Und Melanie störte es nicht, dass es noch eine Rosalie und zwei Kinder gab. Sie hatte auch nichts dagegen, dass er weiterhin mit seiner Frau schlief. Schon allein, damit diese nicht misstrauisch wurde.
Sie trafen sich von da an mehrmals in der Woche gleich vormittags nach dem Agenturbesuch. Und zwar bei ihr zu Hause. Wenn sie schon keine Arbeit hatten, wollten sie wenigstens Spaß haben. Darin waren sich beide einig.
Frank hatte immer das ungute Gefühl, er könnte sich mit seinem häufigen Fernbleiben zu Hause verdächtig machen. Tatsächlich hatte Werner schon die eine oder andere Spitze losgelassen, wenn Frank vormittags das Haus verließ. „Brav Schwiegersohn. Wer sucht, der findet auch. Muss ja nicht unbedingt Arbeit sein …“ Oder: „Helga, der Streber rennt schon wieder zur Agentur. Wenn der mal nicht Agent werden will. Fränk Null-Null-Null, das klingt doch mächtig gewaltig, hahaha!“
Die Sticheleien nervten Frank. „Ach Melanie“, seufzte er, „warum ist nicht alles so herrlich easy wie mit dir?“
„Feierabend!“ Frank war unbemerkt an den Spieltisch getreten. „Morgen ist Freitag. Eileen, Rosalie, ihr müsst früh raus zur Schule! Etwa vergessen?“ Beide schauten entsetzt auf die Uhr, es ging tatsächlich bereits auf Mitternacht zu. Eileen sprintete ins Bad.
Frank packte seine Frau derb am Oberarm: „Los, ab ins Bett!“ Rosalie ließ die Karten fallen und ließ sich willig in Richtung Wohnung schieben. Kurz bevor sie hinter der Tür verschwand, kniff sie ihrem Mann in den Po.
Werner schüttelte den Kopf. „Was die bloß an dem findet, möcht ich wissen. Haste ihre Augen leuchten sehn, Mutter? Und gleich geht das Geschreie, Gejammere und Gestöhne wieder los. Und wetten? Morgen früh hat sie überall blaue Flecke. Ich kapier das nicht, sonst durch und durch autoritär, aber im Bett ’ne gefügige Sklavin. Wo hat Rosalie das bloß her?“
Helga sagte nichts. Sie hatte gerade die Punkte auf dem Notizblock addiert und grämte sich, die Verliererin des Abends zu sein. Wäre sie doch bloß zum Handarbeitszirkel gegangen.
Das Telefon hörte nicht auf zu bimmeln.
„Bist du taub, Helga? Geh endlich ran, ist doch sowieso für dich!“, brüllte Werner in Richtung Flur, ohne das Blättern in seinen alten Fachzeitschriften zu unterbrechen. Es war nicht zu fassen, schon zum dritten Mal durchforstete er die Inhaltsverzeichnisse, konnte aber nicht finden, wonach er suchte. Irgendwo musste doch dieser … dämliche Artikel … sein!
Das Telefon verstummte. Werner atmete auf, grinste breit und trällerte vor sich hin: „Nix-Ge-duld, sel-ber-schuld! Nix-Ge-duld …“
Schließlich warf er die Zeitschrift wütend auf den Tisch. Bei diesem Dauergebimmel war ihm nun auch die Geduld vergangen. Und dass er bei dem herrlichen Wetter draußen hier drinnen Fachliteratur wälzen musste, daran war er sogar noch selbst schuld. Warum hatte er sich beim letzten Skatabend mit den Exkollegen bloß breitschlagen lassen, ein Seminar zur Verbrechensverhütung abzuhalten. Dazu noch für Senioren. Er als Ruheständler? Wie blöd muss man eigentlich sein! Wahrscheinlich hatte er schon ein Bier zu viel intus, als er seinem ehemaligen Chef großspurig zusagte. Und nun hatte er den Salat, musste suchen und konnte nicht finden.
Das Telefon bimmelte wieder.
„Helll-gaaa!“, schrie Werner durchs Haus, aber nichts rührte sich. Jetzt erst merkte er, dass außer ihm niemand daheim war. Er schlug sich die flache Hand vor die Stirn: Mensch, stimmte ja, Helga hatte einen Termin beim Zahnarzt, Rosalie und die Kinder waren in der Lernfabrik und sein Schwiegersohn, dieser Arbeits-Loser, machte sich mal wieder einen schönen Tag auf der Jobagentur.
„Jajajaaa, ich komm ja schon!“ Werner hatte sich aufgerappelt und schleppte sich in Richtung Flur.
„Ich höre!“, knurrte er unwirsch in die Sprechmuschel und lauschte, während er langsam ins Wohnzimmer zurückschlurfte.
„Oh, hello, ich sprechen wiss Mister Wörnör Gät-te-männ in Dschörmännie?“
„Nein, Sie sprechen mit Wer-ner Gat-ter-mann. Ünd wör sünd Sü?“
„Oh, säts wanderfull. Aim so häppi. Pließ raten mal, wer hier sprechen?“
Werner runzelte die Stirn. Sollte das etwa eine Telefonverarsche werden? Hoffentlich keine vom regionalen Rundfunksender! Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass morgen die halbe Stadt über ihn lachte.
„Hör’n Sie, ich habe keine Lust auf Ratespiele. Und falls das ein Trick sein sollte, alte Leute umfragewillig zu quatschen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Werner Gattermann lässt sich nicht aushorchen! Und Wein will er auch nicht kaufen und Finanzberatung braucht er keine, schon gar nicht aus‘m Ausland. Nehmen Sie’s nicht persönlich, baibai!“
„Stopp, stopp, nicht auflegen. Hier spricht deine Enkelin …“
„Eileeen? Was soll der Quatsch! Lernt man neuerdings in der Penne, seinen Großvater zu verarschen, oder was ist los?“
„No, no, nooo! Aim not Eileen, hier is Austrälia … hello Grändfaaser, no, no, wie sagt man in dschörmän, oh jess: hallo Opa!”
Werner schluckte, kratzte sich den Kopf und räusperte sich.
Australien? Enkelin? Dann müsste das ja … theoretisch … eine Tochter von … Anke …
„Hör’n Sie! Machen Sie mit einem alten Mann nicht solche Scherze. Woher wissen Sie überhaupt, dass ich Verwandte in Australi…“ Er räusperte sich. „Die haben noch nie angerufen, warum …“
„Ach Ooopa, mai dier, dier dschörmän Opi, hier is …, na … na? Hu is hier?“
Werner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das konnte nicht wahr sein, ein erster Kontakt nach so vielen Jahren?
„Ähm, … Marie?“
„No, no, nooo, aim not Märrie?“
„Dann bist du Kathrin?”
„No, no, nooo, aim not Kaaathrin!“
Werner runzelte die Stirn. Weder Marie noch Kathrin? Wer dann? Er hatte nur die zwei Enkeltöchter in Australien. Also doch eine Verarsche! Oder Schlimmeres? Aber wer weiß, vielleicht hatte Anke inzwischen noch eine Toch…
„Hör’n Sie, wenn Sie nicht Marie heißen und nicht Kathrin, können Sie auch nicht meine Enkeltochter sein. Wir machen am besten Schluss, das wird mir jetzt zu dämlich mit Ihnen.“