Kitabı oku: «Uwe Johnson», sayfa 13

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Die Regierung bedauert ihre Massnahmen. [...] Alle Schüler, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde von den Oberschulen gewiesen wurden, müssen wieder aufgenommen werden. Wegen Eintretens für solche Schüler entlassene Lehrer dürfen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. (Begleitumstände, S. 67)

Johnson war, als man ihm die Streichung der Streichung eröffnete, bereits entschlossen, an die Universität Leipzig zu gehen. Auch wird er aufschreiben, worüber er in Rostock nicht mehr reden konnte. So konsequent wie subtil unterstand der angehende Schriftsteller dabei dem Denken jenes Literaturtheoretikers, der Literatur stets als gesellschaftliche Veranstaltung begriffen hatte: Walter Benjamin.

So wird er zum Lehrling in diesem Beruf, den er sich selber beizubringen hat. Flugs erfindet er für sich noch einmal Walter Benjamins IV. These über die Technik des Schriftstellers:

Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist unerlässlich. (Begleitumstände, S. 69)

Johnson begann die Babendererde in der postum veröffentlichten Form zu verfassen.

HILDEGARD EMMEL – ERSTE LESERIN DER »BABENDERERDE«

Hildegard Emmel, Anfang der vierziger Jahre universitäre Lehrkraft, spätere Professorin für Deutsche Literatur, war die erste »berufene« Leserin der Ingrid Babendererde. Sie stand damals am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere, die in Rostock begann und die sie über Oslo, Ankara und die USA in die Schweiz führen würde. Das erste persönliche Zusammentreffen datiert auf das Jahr 1953, genauer auf einen Montagabend im September. Im Anschluß an Hildegard Emmels Spezialseminar Goethe als Rezensent findet sich der Student Johnson, es ist kurz nach acht Uhr abends, vor dem »Professoren-Zimmer« des Rostocker Germanistik-Seminars ein. Linkisch, aber auch bestimmt und mit bemüht tadellosen Formen, in merkwürdig immergleichem Rhythmus sprechend, steht ein sehr junger Dichter vor einer wenig älteren Literatur-Lehrerin:

Es war einmal ein 19jähriger Student. Er hatte eine Novelle geschrieben. Diese Novelle musste mit der Schreibmaschine geschrieben werden und zu diesem Zweck musste sie in eine andere Stadt geschickt werden.

Es handelte sich um einen schreibmaschinegeschriebenen Text, offenbar in Güstrow abgetippt, der dreißig bis vierzig Seiten umfaßte.

Der Student wünschte sich, von der Lehrkraft als Autor entdeckt, »erkannt« zu werden. Johnson drang geradezu auf die Beurteilung des Textes durch Hildegard Emmel: Wenige Wochen später erschien er, das Urteil einzufordern. Die erklärte, es sei unmöglich, zu sagen, ob aus dem Autor dieser Novelle einmal ein bedeutender Schriftsteller werden könnte, mochte dies andererseits aber auch nicht ausschließen. Johnson mag dennoch nicht unzufrieden gewesen sein. Zielte sein Interesse doch, wie von Hildegard Emmel selbst angenommen, in gleichem Maße auf die Person der Lehrerin wie auf deren literarische Beurteilung. Zudem muß Uwe Johnson damals ein weiteres literaturwissenschaftliches Arbeiten als mögliche Berufsperspektive erwogen haben. Hier konnte die Dozentin ihm womöglich hilfreich sein.

Johnson legte die Zwischenprüfung bei Hildegard Emmel ab. Vor die freie Figurenwahl in Goethes Wilhelm Meister gestellt, entschied er sich bei dieser Gelegenheit für die »schöne Seele«, das Fräulein von Klettenberg. Ganze Passagen der Wahlverwandtschaften wußte er auswendig herzusagen. Auf die Vorbereitung zu dieser Prüfung geht denn auch seine habituelle Vertrautheit mit dem Goetheschen Text zurück, dessen Ottilie er mehrfach noch in seinem späteren Werk herbeizitieren wird. Auch mit Eduard Mörikes Texten, dessen Orplid-Lied die Mutmassungen anklingen lassen, wurde der Student womöglich bei Hildegard Emmel bekannt, die sich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit dem schwäbischen Dichter beschäftigt hatte. Nach abgelegtem Examen in Leipzig, 1956 dann, hat Uwe Johnson die Lehrerin eindringlich und durchaus in der Hoffnung auf eine Zusammenarbeit nach den Möglichkeiten einer Assistenz befragt. Doch Hildegard Emmel hatte sich bereits für einen anderen Kandidaten entschieden. Der Leipziger Praktikant und Student Johnson hatte seiner Professorin im Sommer und Herbst 1954 eine Flut persönlicher Briefe geschrieben. Hildegard Emmel sah diese Briefe als Liebesbriefe an und ließ sie unbeantwortet, hat sie später in einem Akt der Diskretion vernichtet. Beachtlich erscheint immerhin, daß seine Beziehung zum »Waldgesicht« den Studenten keineswegs daran hinderte, diese Briefe zu verfassen. Solche gelegentliche bohemienhafte Lockerkeit ist bemerkenswert an einem Mann, der später die Ausschließlichkeit der Zweierbeziehung in geradezu fundamentalistischer Unbedingtheit proklamieren sollte.

Hildegard Emmel und Uwe Johnson sind einander später nicht mehr begegnet. Zwar nahm Uwe Johnson in den Jahren 1967/68, als beide sich zufällig in den USA aufhielten, den Kontakt wieder auf. Ein Treffen scheiterte jedoch an der allzu zeitraubenden Postzustellung. Hildegard Emmel meint mit Bestimmtheit, daß Johnson in Rostock von der Staatssicherheit überwacht wurde. Beide seien sie bei ihren Spaziergängen in der Nähe der Rostocker Universität von der »Firma« beobachtet worden. Außerdem saßen, wie bereits erwähnt, auch im Germanistik-Seminar zwei, die man der Spitzeltätigkeit verdächtigte. In diesem Sinn erweisen sich »Mesewinkel« und »Fabian«, so nennt sich der Hauptmann des SSD Rohlfs in den Mutmassungen zuweilen, als Rostocker Autochthone.

DER STUDENT ALS MARXIST.

ZWISCHENPRÜFUNG IN LEIPZIG

Auch die zweite Zwischenprüfung vom 21. September 1954, der Student stand unmittelbar vor seinem Wechsel nach Leipzig, wurde mit Bravour bewältigt. Johnson schloß sein zweites Studienjahr mit einem »Sehr Gut« in fast allen Fächern ab. Lediglich was die Hpt.-Probleme der dtsch. Wortbildungs- und Satzlehre betraf, reichte es nur zum »Gut«.

Im letzten Rostocker Semester hatte der Kommilitone Johnson eine Seminargruppe ausgerechnet zu Stalins Text Neue Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR geleitet. Am 15. April 1954 schließlich schrieb er seine – erhaltene und in Entwöhnung von einem Arbeitsplatz publizierte – Zwischenprüfungs-Klausur in Marxismus-Leninismus: Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Diese Klausur liegt, und das ist wert, bedacht zu werden, zeitlich nach Johnsons spektakulärem Auftritt anläßlich der Verfolgung von Mitgliedern der »Jungen Gemeinde«. Allenfalls indirekt ist der dabei markierte Bruch. Der Student spielte vielmehr »business as usual«. Ging mit hoher interpretatorischer Intelligenz seinen Gegenstand an. Und sprachlich, in der Souveränität der teilweise exquisiten Formulierungen, auf beinahe schon schriftstellerischem Niveau. Hier schrieb einer, dessen ideologische Linie, gemessen an der rechten Lehre der damaligen DDR, fast als »linksradikal« begriffen werden könnte. Johnson forderte nämlich, und das galt seit dem Stalinschen »Sieg des Sozialismus in einem Land« als große Trotzkistische Abweichung, die Internationalität der Revolution. Zudem die Bewaffnung des ganzen Volkes, die utopisch gedachte Überführung des Staates in einen Verwalter bloß noch von Sachen und Produktionsprozessen. Johnsons Konzept in dieser Klausur zielte, so scheint es, auf alles andere als die Einführung des Sozialismus auf Filzsohlen ab, wie sie seit dem 17. Juni von der verunsicherten Führung der DDR propagiert wurde. Hier schrieb bereits der Autor der Babendererde, der die Republik verbessern wollte.

Auch wenn sich der Student am Ende salvatorisch auf den Realpolitiker Lenin beruft, so erscheint sein Konzept doch als eines, das wesentlich utopisch-sozialistisch ausgerichtet war. (Johnsons Kritik des »Revisionismus«, man kann diese so auch bei Brecht finden, mit eingeschlossen.) Der »marxistische« Student Johnson kritisierte im übrigen die Bürokratie in der Sprache des jungen Marx, der sich ja noch an junghegelianischer Religionskritik orientierte. So, wenn er die »isolierte Heiligkeit« der Bürokratie als »Scheinheiligkeit« und weiterhin durch die Feststellung entlarvte, daß der »Verwaltungsaufwand in seinen Löhnen das Niveau der Produktionsarbeit« durchaus überschreiten würde. Schließlich gipfelt die Kritik des Staates als eines bürokratischen Leviathan in der Utopie vom menschlichen Staat, der darin, daß er nur noch Produktionsprozesse und Sachen verwalte, zum überhaupt ersten Mal in der Geschichte den Namen »Gemeinwesen« sich verdienen könne.

Damit nicht genug. Zum ersten Mal unternimmt der Schriftsteller als Student es auch, das als »Parteilichkeit« Geforderte zu konterkarieren. Daß Johnson sich in diesen Jahren seine Spielart sozialistischer Utopie bewahrt hatte (im kommenden Semester würde er Ernst Bloch hören), bedeutete keinesfalls, daß er im selben Maße noch Verständnis für die »Kulturförderung« seines Staates gehabt hätte. Die DDR-spezifische Existenz des »Amtes für Literatur« wird nicht toleriert. Mit sprachlicher List artikuliert der Prüfling Widerspruch, schlitzohrig prägt er die Formel vom Preis des »über das ganze Land verzweigten sensiblen und zähen Verwaltungsmechanismus«, die am Ende denn auch ein Fragezeichen des Korrektors provoziert. Johnson schreibt von »kulturell-erzieherischer Funktion«. Diese »hat sich zu beschäftigen mit bourgeoisen Rückständen an Individualismus und Begriffsstutzigkeit sowie mit der Angleichung des Bewusstseins an sozialistische Verhältnisse«. Ein Opfer solcher »Angleichung« war er durch die »Junge Gemeinde«-Affäre selbst bereits geworden. Dort wie in der Klausur hatte er öffentlich gemacht, was die im verborgenen arbeitende Anpassung forderte.

Der Beifall, der den Studenten für seine Arbeit erwartete, erwies sich als pflichtgemäße Anerkennung bewiesener Belesenheit. Bemängelt wurde vom Marxismus-Lehrer Scheithauer am Schluß der Arbeit, daß »praktische Beispiele aus SU und DDR« fehlten. Die Klausur wurde dennoch mit »1–2« bewertet.

Diese Entwicklung ist um so beachtlicher, wenn man bedenkt, daß Uwe Johnson als ein doch recht überzeugter FDJ-Funktionär nach Rostock gekommen war. Jetzt steht er als leicht donquichottesker Herold der Umgestaltung vor uns. Noch immer charakterisiert durch sein rotblondes, abstehendes Haar, sein schüchtern-hölzernes Auftreten und den leichten Silberblick hinter Billigbrillen, die bei Regen schon einmal Rostspuren im Gesicht hinterließen, gekleidet in Jacketts, deren Ärmel auf halber Unterarmlänge auszulaufen pflegten, ist er den Rostocker Kommilitoninnen, neben dem »Waldgesicht« auch Christa Trenschel und Getrude Harlaß, durchaus im Gedächtnis geblieben. Ein wenig ansprechendes Äußeres sollte kompensiert werden durch betonte geistige Überlegenheit. Momente gleichsam der Epiphanie schienen sich ereignet zu haben: wenn dieser junge Mann in den Lehrveranstaltungen das Wort ergriff – mit rhetorischer Brillanz und der Ironie englischen Understatements ausgestattet.

Stets sei von ihm, erinnert sich das »Waldgesicht«, die »vollkommene Antwort« zu erwarten gewesen. Was übrigens auch für die sprachwissenschaftlichen Disziplinen galt. Johnson sprach allerdings erst, wenn andere offenbar nichts mehr zu sagen wußten, und dann oft erst auf Aufforderung des Dozenten. Ein Primus also ohne die Allüren eines solchen. In just diesem Herbstsemester 1953 hielt in Rostock Professor Sielaff in den Hörsälen 1 und 12 seine Vorlesung Literatur des demokratischen Deutschland Vier Stunden wöchentlich. Sich an sein Auditorium wendend, in dem sich auch Johnson und seine Freundin befanden, fragte Professor Sielaff einmal nach der Meinung seiner Hörer. Große Stille. Dann die gaumige Stimme des Güstrowers, die nichts als einen Namen sagte: »Pablo Neruda«. Was meinte dieser Student damit? Sielaff galt als Genosse. Seine Ausführungen, schon deren Titel weist daraufhin, müssen den Geist der Linientreue geatmet haben. Der Spanisch Schreibende hatte gewiß wenig verloren in einer Vorlesung zur Literatur des demokratischen Deutschland Doch hatte er das entscheidende Problem gelöst, das für Johnson die gesamten Ausführungen des Professors überschattet haben mußte: das Dilemma nämlich, wie man poetisch schreiben und dennoch ein guter Kommunist sein konnte. Der Autor der Babendererde mag sich daher selber als einer verstanden haben, der sich als Ziel die Synthese aus Politik und Poesie gesetzt hat. Seine lakonische Opposition indes ging noch einher mit eher einverstandenen Elementen. Denn im Vorjahr 1952 hatte Neruda in seine chilenische Heimat heimkehren können, was man in der DDR durchaus gewürdigt hatte.

Wie auch immer: Johnsons Antwort war geeignet, Aufmerksamkeit auf den Sprecher zu ziehen. Ähnliches galt auch andernorts. So für die Anwesenheit Johnsons auf Universitätspartys, zu denen die Lehrkräfte den offenbar ebenso begabten wie merkwürdigen Studenten einluden. Auch im englischen Konversationskurs hatte er Aufmerksamkeit erweckt, indem er einmal den Hamlet-Monolog »losließ«. Der Erinnerung einer Kommilitonin zufolge sprach Johnson laut und artikuliert, ohne akustische Deckung hinter verschliffener Aussprache zu suchen.

Auf einer Party bei Vietinghoff spielte der lange Blonde dann durch, wie sich einer verhalten müßte, der wie sein Schulfreund Lehmbäcker und später wie Rohlfs in den Mutmassungen ein steifes Bein hatte. Uwe Johnson hinkte den gesamten Abend und gab, befragt, an, er wolle in Erfahrung bringen, wie sich das Leben für einen mit steifem Bein gestalte. Tagelang ging Johnson danach hinkend durch das akademische Revier in Rostock. Im Bewußtsein der Rostocker Mitstudenten damals als einer, der

regelmässig Verabredungen im ehemaligen ›Volkshaus‹ [hat] schräg gegenüber der Universität, am Stalinplatz, da residiert der Staatssicherheitsdienst und führt Buch über die Äusserungen der Studenten. (Begleitumstände, S. 71)

Wenn Johnson bereits 1953 in der Rostocker Stasi-Dienststelle das Urbild des Stasi-Mannes Rohlfs aus den Mutmassungen kennengelernt hat, dann hat dieser in der Realität ebenso gehumpelt wie später im Roman. In den Begleitumständen heißt es weiter, die staatliche Überwachung machte

reiselustig: wenn die Kommilitonen in Rostock fremd tun, wird einer für das nächste Studienjahr welche aussuchen in Leipzig, die haben keine Ursache, ihn zu kennen. (Begleitumstände, S. 71)

Seine beiden Freundinnen, das »Waldgesicht« und die Ahrenshooperin Ella Löber, gingen zusammen mit Johnson nach Leipzig. Am 17. August 1954 hatte er die Erlaubnis zum Studienplatzwechsel erhalten, am 6. September wurde er in Rostock exmatrikuliert. Mit seinen persönlichen Dingen und mit einer Truhe voll Bücher, die er zum Schreiben benötigte, reiste der Student nach Leipzig. Mit der Reichsbahn wechselte er in das Gebiet der »unklaren südlich singenden Sprache« über.

DRITTES KAPITEL
INGRID BABENDERERDE. ÜBERLEGUNGEN ZUM BIOGRAPHISCHEN HINTERGRUND

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EIN SCHULROMAN UND EINE TRADITIONSREICHE SCHULE

Beginnend im Herbst des Jahres 1953, wird Johnson jene Fassungen der Ingrid Babendererde zu Papier bringen, die heute im Frankfurter Archiv lagern. Deren letzte, 1956 fertiggestellte, liegt seit 1985 im Druck vor. Die ersten Textfassungen entstanden freilich vor Johnsons Leipziger Zeit. Das Studium des Mecklenburgers in der sächsischen Metropole zählt wesentlich zur Entstehungsgeschichte der Mutmassungen, während die Babendererde Johnsons mecklenburgische Jahre, sein Aufwachsen und seinen Ausbildungsgang in Recknitz, Güstrow und Rostock, abschließt.

Vom September 1948 bis zum Juli 1952 war Uwe Johnson, wie bereits angesprochen, Schüler der John-Brinckman-Schule in Güstrow. Sie prägte ihm das Leben wie das Werk, lieferte ihm den Stoff für die Babendererde ebenso wie für den Abschlußband der Jahrestage. Wer will, kann in der zentralen Stellung der Schule in Johnsons Werk eine Verbindungslinie zu den Brüdern Mann erblicken, zu Thomas Mann vor allem, den Uwe Johnson spätestens seit 1951 leidenschaftlich las, beginnend mit dem Tonio Kröger. Solche Verbindung stellt die Babendererde in die spezifisch deutsche Tradition des »Schulromans«, die mit Jean Paul (dessen Werk den Diplomgermanisten Johnson im Jahr 1958 intensiv beschäftigen wird) beginnt und in den zahlreichen Schuldarstellungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur endet. Der »Schulroman« als eigenes, ein spezifisch deutsches Genre? Von den Schulmeisterfiguren Jean Pauls über die »Gesellschaft vom Turm« bis zu den Schulszenen der Buddenbrooks und der Babendererde erscheinen die literarischen Darstellungen des Schicksals deutscher Menschen auffallend häufig im Spiegel auch einer Kritik an ihrer schulischen Erziehung. Uwe Johnson selbst hat 1956 anläßlich des Leipziger Diplomexamens im Fach Germanistik seinen Erstling ausdrücklich in diesen Zusammenhang gestellt.

VON MELANCHTHONS REFORMATION ZU STALINS »NEUER SCHULE«

Die Schule, die in Johnsons Werk stets neben einem roten Backsteindom zu stehen kommt, unweit von Stadtmauer und Stadtgraben, heißt in der Güstrower Realität John-Brinckman-Schule, in der Babendererde dann »Gustav Adolf-Oberschule«, im letzten Band der Jahrestage schließlich »Fritz Reuter-Oberschule«: Namen mit durchgehend mecklenburgischnorddeutscher bzw. schwedischer Konnotation. John Brinckman und Fritz Reuter: zwei Dichter der mecklenburgischen Mundart. Eine »Gustav-Adolf-Straße« findet sich unweit der Güstrower Schule. Selbstverständlich war Uwe Johnson über die Geschichte seiner Schule orientiert: In deren Flur erinnert eine Tafel an den Namensgeber (neuerdings übrigens auch eine an Uwe Johnson).

Gegründet von Luthers Gefährten Melanchthon geht die Brinckman-Schule zurück auf den protestantischen Humanismus, gedacht als Pflanzstätte der reinen protestantischen Lehre. Freilich als eine, die ihrerseits auf exzellenter Kenntnis der griechisch-römischen Literatur basierte. Die »Schule am Wall«: auch in der Wirklichkeit ein stattliches Gebäude mit »drei Fensterreihen übereinander und zwei leeren Fahnenstangen vor einem grossen Eingang«. (Babendererde, S. 16) Unter dem Namen der Schule die große hölzerne Eingangstür mit der Glasrosette. Der Name selbst befindet sich, ganz so wie im Buch, von einem Streifen von rötlichem Sandstein umrahmt. Insgesamt ein Backsteinbau mit kostbaraltmodischen Holzgeländern, mit Glasfenstern voller Jugendstilmotive, die großflächig das Licht auf die Flure fallen lassen und im Gegenschein der Sonne himmlisch erglänzen können.

Im Jahr 1953 feierte die Brinckman-Schule ihr 400jähriges Bestehen. Zu diesem Anlaß erschien eine Festschrift, der die folgenden Informationen zu Schulgeschichte, Lehrerwechsel und ideologischer Ausrichtung der Anstalt nach 1945 entnommen sind. Bereits in der Zeit des Humanismus »blühte die junge Schule schnell auf und wurde bald als die beste Schule im Lande gerühmt«. Man kann durchaus sagen, daß es die humanistische Tradition dieser Anstalt war, die Johnson in ihre Mauern führte. Es traf zu, was in der Festschrift von Johnsons ehemaligem Lateinlehrer und Klassenleiter beim Abitur, Dr. Wilhelm Gernentz, niedergeschrieben wurde:

Die Schule erfreute sich in der Stadt und auch in der näheren und weiteren Umgebung großen Ansehens und wurde auch schon von vielen Bauern- und Handwerkersöhnen besucht.

Die Güstrower Domschule stellte Mecklenburgs ältestes Schulgebäude dar. Sie existierte seit 1553. War dann im Jahr 1840 mit dem neugegründeten Realgymnasium für den technisch-wissenschaftlichen Unterricht zur späteren Brinckman-Schule vereinigt worden. Die humanistische Tradition der John Brinckman-Schule reicht auf diese Weise zurück bis ins Mittelalter. Unter dem Einfluß wirtschaftlicher Schwierigkeiten und dem Anstürmen der Gegenreformation litt auch Güstrows Domschule. Doch noch während des dreißigjährigen Religionskrieges, der Deutschland und sein Bürgertum in die nationale Verspätung schickte, erholte sich die Schule. Der 1629 von Wallenstein eingesetzte (übrigens evangelische) Rektor Georg Schedius bewerkstelligte den Wiederaufstieg. Nach Beendigung des verheerenden Kriegs wurde das Schulgebäude erweitert. Die Schülerzahl stieg. In der 1662 erlassenen neuen Schulordnung trat das Lateinische zurück, wurde nun erst von der dritten Klasse an zur Unterrichtssprache. Neben die verstärkte Behandlung der Mathematik treten die Physik und die Geschichte. Die »heidnischen« Klassiker der römischen und griechischen Antike werden jetzt durch spätantike christliche Schriftsteller ersetzt. Melanchthons humanistisches pädagogisches Ideal: durch Kenntnis der alten Sprachen in die Welt der antiken Kulturen einzuführen, wurde verwässert.

Mit der Französischen Revolution setzte die Neuzeit im umfassenden Sinn sich durch. Nun hielt auch das spezifisch moderne Prinzip der Spezialisierung seinen Einzug in der Domschule. In den verschiedenen Fächern unterrichteten nun Fachlehrer. Lediglich der Rektor behielt das Prinzip bei, die Prima in allen ihren Fächern zu unterweisen. Jetzt wurde auch der Deutschen Literatur im Unterricht ein immer breiterer Raum eingeräumt, ebenso den naturwissenschaftlichen Fächern. Elemente der später als eigene Anstalt institutionalisierten Realschule zeichneten sich ab.

Vom Jahr 1810 an dominierten in der Person des neuen Direktors Doktor Friedrich Besser die Ideen der Humboldtschen Universitätsreform mit ihrem Akzent auf dem griechischen Neuhumanismus. In seiner Amtszeit stieg der Bestand der Schulbibliothek von zunächst 400 auf 14 000, dann sogar auf erstaunliche 40 000 Bände. Güstrows Domschule verfügte damit über die mit Abstand größte Schulbücherei des gesamten Landes. Ab 1859 existierte die Domschule als neunklassiges Normalgymnasium, bei steigender Schülerzahl. Im Austausch für das alte Schulgebäude am Domplatz, der späteren »Kerstingschule«, stellte die Stadt einen größeren Bauplatz an der Hansenstraße zur Verfügung. Hier wurde 1868/69 ein Schulneubau samt dem Direktorwohnhaus errichtet. 1906 entstand das noch heute existierende Gebäude am Dom.

Schon vorher, nämlich zwischen 1849 und 1870, arbeitete der niederdeutsche Dichter John Brinckman als Lehrer in Güstrow. John Brinckman lebte von 1814 bis 1870. Er wurde in Rostock als ein Kaufmanns- und Reedersohn (mit einer schwedischen Mutter) geboren und starb dann in Güstrow. Brinckman, ein politisch Verfolgter, der eine Zeitlang als Exilant in New York lebte, gilt als bedeutender Vertreter mecklenburgischer Literatur. Gedichte und Romane, Erzählungen aus dem Leben der Kaufleute und Seeleute machen sein Werk aus, dessen ebenfalls vorhandener hochdeutscher Teil unbedeutend erscheint Johnson hat Leben und Werk des Namenspatrons seiner Schule wahrscheinlich nicht näher gekannt. In seinem Werk jedenfalls spielt er keine bedeutende Rolle, außer einer kurzen Erwähnung in der nachgelassenen Erzählung Versuch, einen Vater zu finden.

Wie sehr Uwe Johnson als Schüler in der Tradition dieser Anstalt stand, mag überraschen. Nicht nur, daß sein Latein sehr gut war. Johnson hat vor allem den Chor der Brinckman-Schule über Jahre hinweg organisatorisch betreut, mit jener absoluten, fast verzückten Hingabe, die auf Photos vom Gesicht des die Chorauftritte ansagenden Schülers abgelesen werden kann. In den Belangen des Chors erschien Johnson außerordentlich engagiert. Sein zeitweiliger Spitzname »Spitta«, den Heinz Lehmbäcker auf einen »Pfarrer in der Literatur« zurückführt, kann sich nur auf Karl Johann Philipp Spitta beziehen. Also auf einen evangelischen Theologen, dessen geistliche Lieder (Psalter und Harfe, 1833–1843, 2 Bände) in die evangelischen Gesangbücher übernommen wurden.

DIE »NEUE SCHULE«: LEHRERFIGUREN

Auch an Güstrows Schulen spielten sich nach 1945 einschneidende Veränderungen im »Lehrkörper« ab. Uwe Johnson kam am 1. September 1948 auf eine Schule, die sich in tiefgreifender Umgestaltung befand. 72 Prozent der Lehrer waren von der Sowjetischen Militäradministration wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit entlassen worden. An ihre Stelle traten die »Junglehrer«: Arbeiter, Angestellte, teilweise Hausfrauen, denen man ideologisches Vertrauen schenkte und die in Neunmonatskursen auf ihre neue Berufsrolle vorbereitet wurden. Der Schüler Johnson erlebte diesen Wechsel in der für seine Schulzeit insgesamt bezeichnenden Double-bind-Situation. So wie er, vor allem in Latein und Englisch, einerseits die soliden Fachkenntnisse der alten »belasteten« Lehrkräfte schätzte, so verstand er andererseits doch, jedenfalls anfänglich, die Bemühungen der neuen Machthaber um eine durchgreifende Entnazifizierung. Überzeugte Junglehrer des beschriebenen Typs stellen im Text der Babendererde in erster Linie der Direktor »Pius« Siebmann und die Deutschlehrerin dar. Ihnen steht vor allem der alte Englischlehrer Sedenbohm gegenüber, der spätere Kliefoth der Jahrestage.

Sie alle besaßen ihre realen Vorbilder an Güstrows Oberschule. In diesem Zusammenhang ist zunächst der Geographielehrer »Ahnst« Kollmorgen zu nennen. Sein »Vorbild« in der Realität dürfte jener Dr. Erwin Voss gewesen sein, der Anfang der fünfziger Jahre in der Tat über den Wolga-Don-Kanal als über ein »Grossbauwerk des Kommunismus« unterrichten mußte. Voss erteilte in Johnsons Klasse Unterricht als Fachlehrer für Geographie und Deutsch. In den Sedenbohm- und Kliefoth-Figuren spiegeln sich die Lehrer Wilhelm Müller und, allerdings weit weniger einschlägig, Dr. Wilhelm Gernentz. Beide respektierte der Schüler. Der »böse Blick« dessen, der unter ihrer ideologischen Intransigenz und unzureichenden fachlichen Qualifikation zu leiden hatte, brachte eine Genauigkeit hervor, die den Betrachter realer Photos dieser ehemaligen Junglehrer förmlich erschauern läßt.

Der junge, sportliche und beruflich ambitionierte Direktor »Pius« und das damals ebenfalls noch junge »Blonde Gift«: Pädagogen, die mit Verve jene staatliche Umgestaltung betrieben, die letztlich auch dazu führte, daß Zehntausende anderer Lehrer freiwillig ihren Dienst quittierten. Wie es die Realität Güstrows kennzeichnete, so spiegelt es sich in der Babendererde wider. In Gestalt von Ingrids Mutter, die vor dem Einzug des »Blonden Gifts« die Schule räumt und lieber Briefmarken verkauft.

»R[obert] Pfahl, Direktor« hat 1953, da war Johnson bereits Student, die Festschrift der Brinckman-Schule herausgegeben. Eine solche Figur tritt als der Direktor Robert Siebmann, »Pius« genannt, auch in der Babendererde auf.

Niemand wusste warum Pius Pius hiess. Päpste haben so geheissen, und in der Tat stand Pius der Schule vor und ihrer Parteiorganisation mit solcher Autorität [...] »Pius« ist lateinisch und bedeutet »Der Fromme« [...]. (Babendererde, S. 86)

Pius hieß auch der Papst, der 1872 die Unfehlbarkeit der Päpste durchgesetzt hat. Robert Siebmann als realsozialistischer Papst der John Brinckman-Schule – Uwe Johnson hat ihn in der ihm eigenen Art und Weise porträtiert:

Inzwischen hatte Pius sich hinter seine Akten gesetzt und seinen Vortrag begonnen. Dies und alles tat er auf eine würdige Weise, und solche Würde war lustig anzusehen. Er war ein grosser junger Mann mit breiten Schultern, über denen er sein jungenhaftes rotes Gesicht gemessen hin und her wandte, und seine Haare waren gescheitelt wie die Klausens. [...] In seinem Äusseren wirkte Vertrauen erweckende frische Jugendlichkeit, die bedauerlich eingeengt war durch viel Wichtigkeit und Anspruch des Auftretens [...]

Die Redeweise des Pius war besonders. Öfters unterlief seinem Vortrag ein ganz unvermuteter Abbruch, und von dieser Pause her erhob sich seine Erzählung jedes Mal zu hochgespannten Triumph-Bögen. [...] unterdessen begann er zu reden von neuem: beiläufig zunächst, immer bedeutsamer dann, erregend in wachsendem Masse, bis er angelangt war bei heftigem Abhacken der Satzteile, die nahezu singend hintereinanderklappten: Das heisst. Das heisst die religiös-ideologischen. Interessen des Bürgertums –. Waren immer! Be-män-te-lungen. Der Profitgier! Vor ihm sassen sie über ihre Hefte gebeugt und schrieben seine Worte andeutend (oder Spasses halber ausführlich) ein. [...] Das Endgültige vollzog sich in männlich aufrüttelndem, widerfuhr in von verhaltener Begeisterung taumelndem Ton: Und was damals. Historisch! Historisch notwendig war –: istheuteineinStadiumdesVerfaulensundAbsterbens getreten!! (Babendererde, S. 87 f.)

Dieser sprachlichen Charakteristik des Direktors Siebmann (er »siebt« bedenkenlos alle ideologischen Abweichler aus) muß kaum noch etwas hinzugefügt werden. Der Text entwickelt eine auf ihre Art epochale Figur: einen sozialistischen Professor Unrat. (Als solcher wird »Pius« dann auch versuchen, sich anläßlich eines Schülerfestes Ingrid erotisch zu nähern.) Dabei stimmten Text und Wirklichkeit eng überein. Ganz kongruent mit den Angaben der Babendererde wurde der Lehrer für Geschichte/Gegenwartskunde/Sport Pius Siebmann alias Robert Pfahl im Frühjahr 1951 zum Direktor ernannt. Er wird, wie man es in den Jahrestagen lesen kann, nach dem von Johnson als »Sir Ernest« verehrten Englischlehrer Wilhelm Müller Direktor. In der Festschrift lesen wir:

Die Leitung der Oberschule übernahm zuerst Herr Müller, dann Herr Dr. Mau und nach dessen Tod wieder Herr Müller bis zum Jahr 1946, als Herr Dr. Schröder Schulleiter wurde. Es folgte [sic!] ihm vom 16. Oktober 1950 bis zum 31. März 1951 als kommissarische Leiterin Fräulein von Strube, vom 1. April bis zum 30. November 1951 Herr Rahn und von diesem Tage ab Herr Pfahl, der auch im Jubiläumsjahr als Direktor der John Brinckman-Oberschule amtiert.

Herr Rahn hat übrigens noch Johnsons letztes Vorabiturzeugnis als Schulleiter unterzeichnet. Auf diese Weise läßt sich der größte Teil der Schul- und Lehrerbeschreibung, wie er sich in der Babendererde findet, auf die realen Verhältnisse an der Güstrower Brinckman-Schule in den Jahren zwischen 1949 und 1952 zurückrechnen.

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