Kitabı oku: «In tiefsten Schichten»

Yazı tipi:

Bernd Niquet

In tiefsten Schichten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto human body © adimas (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Meinem Freund André Simonoviescz gewidmet, mit dem ich das Glück hatte, siebenunddreißig Jahre meines Lebens sehr eng zu tun zu haben, von 1971 bis 2008.

„Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen – nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen.“

Hermann Hesse, „Demian – Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“

„Is it me, for a moment?

The stars are falling.

The heat is rising.

The past is calling.”

Pete Townshend, The Who,

“Quadrophenia”

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

(Erster Abschnitt) Die große Schneekatastrophe 1978/79

(Zweiter Abschnitt) Wirbelsäulenmechanik

(Dritter Abschnitt) Unterhalb der Nachweisgrenze

(Vierter Abschnitt) Freud

(Erster Abschnitt)
Die große Schneekatastrophe 1978/​79

Die große Erleichterung kam in dem Moment, als ich merkte, dass tatsächlich niemand aus meinem Familienkreis oder von meinen Freunden und Bekannten meine Bücher liest. Zuerst war das natürlich eine Enttäuschung, doch plötzlich ergaben sich auf diese Weise Freiheiten, an die ich vorher niemals ernsthaft geglaubt hatte. Denn von nun an konnte ich tatsächlich endlich ungeniert und in unverstellter Form über all die Dinge schreiben, die mit ihnen und mir zu tun haben und die für mich große Bedeutung besitzen.

Heute traue ich mich daher in Gefilde, die ich vorher ausgespart habe. Denn es gibt ja ohnehin kein Zurück mehr. Wenn ich mein Ziel, das ich schon so lange verfolge, nämlich Entwicklungsprozesse einmal in Gänze und in allen Facetten darzustellen, tatsächlich realisieren möchte, darf mich jetzt nichts mehr aufhalten. Egal, wie sehr es schmerzt.

Das befeuert nun allerdings die ohnehin schon existierende Paradoxie, dass ich nämlich im Grunde genommen gar nicht will, dass das, was ich schreibe, einem allzu großen Leserkreis bekannt wird. Kurzzeitig bin ich deshalb sogar auf die Idee gekommen, mein neues Buch zwar drucken zu lassen, aber nicht zu veröffentlichen.

Urplötzlich hatte sich nämlich eine Erkenntnis in mir breit gemacht, die vorher schlichtweg undenkbar für mich gewesen ist. Sie lautet: Ich muss doch keine Bücher veröffentlichen! Nichts und niemand zwingt mich, das zu tun! Bisher habe ich zwar seit 1998 jedes Jahr ein neues Buch herausgebracht, aber das ist ja keine Pflicht.

Und ich fange an, durchaus Geschmack an dieser Überlegung zu finden. Ich denke, das würde mich in einer weiteren Weise erleichtern. Ich nehme mir das jetzt beim Schreiben einfach einmal vor, mal sehen, wie ich darüber denke, wenn ich fertig bin.

Mit meinem letzten Buch habe ich die Reihe „Wichtige und bisher liegengebliebene Themen und Fragestellungen“ begonnen und dort über die Instabilität meiner Zukunftserwartungen geschrieben. Wie ich in nahezu allen wichtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsthemen immer wieder zwischen Zuversicht und Pessimismus hin- und herschwanke.

Als ich mich jetzt an meine Erinnerungen und damit an die Vergangenheit heranmache, merke ich, dass es hier prinzipiell nicht viel anders aussieht. Auch die Einschätzungen der Vergangenheit sind einem stetigen Wechsel unterlegen. Versuche ich, diese Erkenntnis zu Ende zu denken, muss ich konstatieren, dass anscheinend die Vergangenheit nicht in eindeutiger Weise zu erschließen ist, so wie wir uns das eigentlich vorstellen. Sie ist vielmehr einem ähnlichen Wandel der Wahrnehmungen und Einschätzungen unterworfen, wie das hinsichtlich der Zukunft der Fall ist.

Alles hängt also an den jeweiligen Bewertungen, und Bewertungen sind prinzipiell variabel und immer subjektiv, egal, in welche zeitliche Richtung sie verlaufen. Und sie verändern sich mit den Veränderungen des Bewertenden selbst. Auf diese Weise ergeben sich dann teils wundersame Situationen, wie beispielsweise die Einschätzung, dass sich zwar nahezu alles im Leben komplett geändert hat, aber dennoch irgendwie gleichgeblieben ist. Oder, dass sich trotz weitgehender Konstanz der eigenen Welt oft genug heftige Veränderungen in ihr ereignen.

Eine Differenzierung ist dabei jedoch wichtig: Bei jeder Beobachtung der Gegenwart bin ich so sehr in sie eingespannt, dass es mir niemals gelingen kann, einen vollständigen Überblick über sie zu erlangen. Und für die Zukunft gilt diese grundsätzliche Begrenzung der Erkenntnisfähigkeit natürlich noch in stärkerem Sinne. Betrachte ich hingegen die Geschichte, dann ist dort die damalige Gegenwart bereits gelebt und liegt somit als feststehendes Erkenntnisobjekt vor. Die Frage ist nur, wie nahe wir diesem Objekt kommen können.

Trotz aller Schwierigkeiten, die dabei auf uns lauern, ändert das nichts an der Tatsache, dass aus diesem Grunde jegliche Art von Wahrheit wesentlich eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart aufgespürt werden kann.

Der Professor meines Wahlfaches Wirtschaftsgeschichte an der Universität hat mich damals mit einem Zitat des Historikers Kurt Borchardt bekannt gemacht, dass ich seitdem tief in mir abgespeichert habe. Es lautet: „Man lernt nicht nur aus der Geschichte für die Gegenwart. Man lernt immer auch aus der Gegenwart für die Sicht der Geschichte.“

Nach so langer Zeit grabe ich diese Sätze heute wieder aus. Und ich denke: Also los, mal sehen, ob das beides stimmt?!

*

Denke ich an meine Vergangenheit als Ganzes, rückt sofort ein Thema in den Mittelpunkt, das ich vorher überhaupt nicht gesehen habe und das mich plötzlich in unvermittelter Weise sehr aufwühlt. Denn es ist nicht nur so, dass ich niemals selbständig über meine eigene Familienplanung entschieden habe, ich habe früher sogar nicht einmal bemerkt, dass es so etwas gibt und dass es daher dringend geboten sein könnte, sich irgendwann darum zu kümmern.

Diese Entwicklung ist in Gänze an mir vorbeigelaufenen. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich die wichtigste Auswahl meines Lebens hätte treffen müssen, war ich also weder in der Lage dazu noch habe ich überhaupt gesehen, dass eine derartige Entscheidungssituation anstehen könnte. Das ist natürlich ein vernichtender Befund. Heute könnte ich darüber weinen. Gleichzeitig staune ich aber auch, dass ich trotzdem gelandet und nicht abgestürzt bin.

Es war nicht alles schlecht.

*

Mitten im Hochsommer des Jahres 2014 gerate ich in eine Fernsehdokumentation über den katastrophalen Wintereinbruch Ende Dezember des Jahres 1978 hinein. Damals sind, so der Film, in Norddeutschland Schneemengen heruntergekommen, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hatte.

Es sei die größte Naturkatastrophe in dieser Region in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gewesen. Große Teile Schleswig-Holsteins und Mecklenburg-Vorpommerns wurden von der Außenwelt abgeschnitten, Straßen waren unpassierbar, die Züge blieben stecken und der Strom fiel aus. Besonders der damals zur DDR gehörende Nordosten Deutschlands wurde stark getroffen.

Zu Beginn der Reportage liege ich kuschelig und ahnungslos in meinem Bett. Ich denke daran, dass bei der Hitze draußen so eine Kälte momentan natürlich etwas Wunderbares wäre, und ich überlege mir, was wir damals in Berlin davon eigentlich mitbekommen haben.

Doch es dauert nicht lange, dann ist alles von einem auf den anderen Moment komplett verwandelt, denn ganz abrupt begreife ich, dass es genau diese Wetterkatastrophe gewesen ist, die meinem Leben damals einen entscheidenden Schlag versetzt hat.

Die Meteorologen sind sich einig, eine Schneekatastrophe in Norddeutschland ist ein äußerst seltenes und ungewöhnliches Ereignis. Und in dem damaligen Ausmaß ist sie tatsächlich zu dem geworden, was die Statistiker einen „Schwarzen Schwan“ nennen, nämlich ein Ereignis, das eigentlich nicht eintritt.

Und ich kenne auch etwas, was es nicht hätte geben sollen, und was ohne dieses Ereignis auch nicht passiert wäre.

Ende Dezember 1978 herrschten in Europa außergewöhnliche Temperaturunterschiede. Milde und extrem feuchte Luft vom Atlantik traf auf aus Skandinavien und Russland kommende Kaltluft. In Schweden gab es Temperaturen von mehr als minus 40 Grad, wohingegen in Süddeutschland kurzzeitig der Frühling ausgebrochen war und bei plus 15 Grad viele Skigebiete mitten in der Hochsaison wegen Schneemangel ihren Betrieb einstellen mussten.

Im Laufe des 28. Dezember begann es dann auf einer Linie von Schleswig-Holstein bis zur Insel Rügen zu schneien, während südlich davon noch Regen fiel. In der Nacht kam heftiger Wind auf, und aus dem dichten Schneefall wurde ein Schneesturm, der fünf Tage lang mit Windstärke zehn über das Land fegte.

Viele Orte waren jetzt überhaupt nicht mehr erreichbar. Meterhohe Schneeverwehungen blockierten sämtliche Straßen und Schienenwege. Selbst Hubschrauber konnten bei diesem Wetter nicht mehr fliegen. Überall wurde die Armee eingesetzt, im Westen kämpfte sich die Bundeswehr und in der DDR die NVA und die Sowjetarmee mit Panzern zu den Abgeschnittenen durch. In der DDR erwies sich die Katastrophe als ungleich größer, weil durch das Lahmlegen der Braunkohletransporte im Lausitzer Bergbaurevier, nahezu im gesamten Land die Strom- und Fernwärmeversorgung zusammen brach.

Und bei uns in Berlin? Was ist bei uns gewesen?

Bei uns hat der Schneefall meiner Erinnerung nach in der Neujahrsnacht begonnen. Da ist dann auch bei mir der erste Unfall passiert. Der zweite ließ sich hingegen noch etwas Zeit, erwies sich im Endeffekt jedoch als weit gravierender. Dazu bedurfte es allerdings noch der zweiten Schneewelle zum Anfang Februar dieses verhängnisvollen Winters 1978/​79.

Damit war dann das Szenario gesetzt. Und die Folgen werden auch noch über meinen Tod hinaus Wirkung zeigen.

*

Das Silvesterfest des Jahres 1978 habe ich zum ersten Mal nicht in privatem Umfeld gefeiert, sondern bin mit einer Truppe von Freunden in einem Lokal in Dahlem gewesen, wo wir auch ansonsten oft hingegangen sind. Ich glaube allerdings, das war damals eine Notlösung, weil wir ansonsten nichts Vernünftiges wussten.

An diesen Abend besitze ich keine speziellen Erinnerungen und weiß nur, dass es ziemlich spät geworden ist, ich sehr betrunken war und trotz des Schneefalls mit dem Auto nach Hause gefahren bin. Und ich weiß, dass mir diese Geschichte jetzt nicht unbedingt schmeichelt. Über sie habe ich denn auch vorher noch mit niemandem geredet, außer mit einem damals sehr guten Freund. Selbst meinem Vater, mit dem ich ansonsten alles besprochen habe, habe ich das niemals erzählt.

Damals war ich zweiundzwanzig und bereits sehr geübt darin, betrunken Auto zu fahren. Irgendwie gab es da bei mir keine Hemmschwelle, ich habe den Ernst meiner Entscheidung nie gespürt. Es war ja auch immer gut gegangen. Und selbst wenn ich so viel getrunken hatte, dass ich doppelt sah, wusste ich, dass ich dann nur das linke Auge schließen musste, denn das rechte war es, das die Wirklichkeit korrekt abbildete.

In der Kurve kurz nach dem U-Bahnhof ist es dann trotzdem passiert. Ich war zu leichtsinnig, es hat mich aus der Kurve getragen, der Wagen kam ins Schleudern, drehte sich einmal und ist in einen parkenden Wagen hineingerutscht.

Plötzlich war es dann total still. Ich steige aus und blicke mich um. In den naheliegenden Häusern bleibt alles dunkel. Auf der Straße kommt kein Auto an mir vorbei und nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. Der Schaden scheint nicht so schlimm zu sein. Bei meinem Auto hat sich die vordere Stoßstange verzogen, und bei dem VW-Käfer, mit dem ich kollidiert bin, ist der Kotflügel eingedrückt.

Schnell steige ich wieder ins Auto ein und fahre weiter. Zwei Querstraßen weiter halte ich an, stelle das Auto ab, laufe zurück und schaue mich noch einmal um. Jetzt sehe ich, dass ein paar abgerissene Gummiteile meiner Stoßstange auf der Straße liegen. Ich sammele sie ein und nehme sie mit.

Immer noch ist weder irgendwo Licht zu sehen noch ein Mensch oder ein vorbeifahrendes Auto.

In diesem Moment denke ich, da habe ich wohl noch einmal Glück gehabt.

Wenn ich jetzt die Polizei rufen würde, überlege ich, würden die natürlich sofort merken, dass ich zu viel getrunken habe. Das kostet mich dann auf lange Zeit meinen Führerschein. Hinzu käme, dass ich jetzt ja bereits Fahrerflucht begangen habe.

Meine Güte, denke ich heute. Doch es ist mir damals sogar noch geglückt, unerkannt, ohne erwischt zu werden, mein Auto nach Hause zu bringen. Dort parke ich das Auto so, dass man die kaputte vordere Stoßstange nicht sehen kann. Trotzdem werde ich am nächsten Tag von einem Hausbewohner darauf angesprochen. Doch er scheint zu verstehen und insistiert nicht.

Der Neujahrsabend ist dann einer der schrecklichsten Abende, den ich je erlebt habe. Normalerweise genieße ich es sehr, mich am Abend nach einer ausgiebigen Feier bereits früh im Bett zu verkriechen und genüsslich fernzusehen, besonders wenn es draußen schneit und drinnen richtig kuschelig ist.

Doch an diesem Abend finde ich keine Ruhe. Ich stehe unter Hochspannung, kann mich weder auf die Nachrichten noch auf den anschließenden Film konzentrieren, und erwarte eigentlich minütlich das Klingeln der Polizei an meiner Haustür, die mir offerieren wird, mich ertappt zu haben.

Doch es passiert nichts. Nur in mir, da turbuliert es. Und mich quält ein verflucht schlechtes Gewissen, denn ich habe jemandem Unrecht getan, ihn Geld gekostet und ihm Mühe bereitet. Ich habe sein Auto beschädigt und bin einfach abgehauen, nur um mich selbst zu retten. Und so etwas macht man einfach nicht.

Ich spiele mit dem Gedanken, noch einmal zum Unfallort zurückzukehren und ein paar Geldscheine an den beschädigten Wagen zu klemmen. Doch wie soll das funktionieren? Die fallen doch wieder ab oder werden von jemand anderem genommen. Und was ist, wenn man mich dabei beobachtet? Mein Gewissen lastet auf mir und ich fühle mich absolut nicht wohl in meiner Haut. Doch irgendwie überstehe ich den Abend dann doch.

Der nächste Tag, der 2. Januar 1979, ist ein Dienstag. Zum Glück sind da die Läden und Werkstätten wieder offen. Ich treffe mich schon früh mit meinem Freund und parke mein Auto unerkannt bei seinen Eltern in der Garage. Anschließend fahren wir zusammen mit seinem Wagen zu einer Vertragswerkstatt für mein Auto, um dort eine neue Stoßstange und ein Blinkerglas zu kaufen. Mehr ist zum Glück nicht kaputt gegangen. Und das sollten wir wohl allein reparieren können.

Meinen Wagen in eine Werkstatt zu geben, kommt natürlich keinesfalls in Frage. Die Polizei, so überlege ich, wird diesen Fall mittlerweile bestimmt bereits aufgenommen haben und wahrscheinlich routinemäßig bei allen Fahrerfluchten Hinweise auf das Verursacherfahrzeug und seine möglichen Beschädigungen an alle Werkstätten durchgeben.

Ich bin meinem Freund extrem dankbar für seine aufopferungsvolle Hilfe, doch ich habe ihm selbst auch schon oft geholfen, als er in Kalamitäten steckte. Wir brauchen allerdings tatsächlich zwei Tage und rackern hart, denn Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, verbietet sich ja. Die kaputte Stoßstange sitzt so fest und ist so blöde verzogen, dass wir beinahe schon aufgegeben hätten. Am Ende glückt es dann aber doch. Und hinterher sieht man wirklich nichts mehr.

Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben habe ich mich deshalb sogar bei meinem Arbeitgeber krank gemeldet, ohne es wirklich zu sein. Ich bin riesig froh, tatsächlich so glimpflich aus der Sache herausgekommen zu sein. Das schlechte Gewissen bleibt jedoch bestehen.

Heute überlege ich, ob es nicht vielleicht auch dieses Ereignis gewesen ist, dass zu den diffusen Ängsten geführt hat, an denen ich jahrzehntelang geknabbert habe? Dass mich jemand unangemeldet aufsucht oder ich in dem, was mir wichtig ist, gestört werde.

Ich weiß natürlich gut genug, dass vergleichbar unspektakuläre Dinge, die trotzdem lange nachwirken, eigentlich in der frühen Kindheit liegen müssten. Es wird also nicht viel an diesen Überlegungen dran sein. Ich könnte mir jedoch gut vorstellen, dass dadurch alte Ängste in mir verstärkt oder wiederbelebt wurden, die schon weit länger in mir schlummerten.

Das wirklich traumatische Erlebnis lag damals allerdings noch vor mir. Dagegen verblasst die Unfallgeschichte vollkommen. Und ich merke, wie es richtig weh tut, da jetzt heranzugehen.

*

Der ganze Schlamassel begann mit einem abgesagten Fußballspiel. Das bildete den Anfangspunkt und gewissermaßen den Auslöser für alles Weitere. Es war nicht direkt die Ursache, bildete aber den Ursprung. Denn ohne diese Spielabsage wäre das alles nicht passiert.

An diesem Tag hatte ich noch stärkere Lust aufs Fußballspielen als sonst. Denn es gibt in der Tat nichts Besseres, als auf Schneeboden Fußball zu spielen. Doch dann kamen wir am Platz an und sahen sofort, dass das Flutlicht nicht eingeschaltet war. Ich weiß nicht mehr, was der Platzwart gesagt hat, doch ich bin mit einigen Mitspielern aufs Spielfeld gegangen, und das war zwar zum großen Teil mit festem Schnee bedeckt, doch am Rand gab es ein paar nasse Stellen und Eisschollen.

Am Samstag davor bin ich wie an jedem Samstag bei meiner Freizeittruppe gewesen, da waren die Bedingungen weit schlechter, doch wir haben natürlich trotzdem gespielt, wie immer. In den gesamten fünfunddreißig Jahren, die ich dort mitgemacht habe, kann ich mich nicht erinnern, dass wir auch nur ein einziges Mal nicht gekickt hätten. Einmal gab es sogar gefrorenen Boden, auf dem riesige Pfützen mit Eiswasser standen. Na und? Da waren wir dann wohl auch nur vier Leute und haben zwei gegen zwei auf kleine Tore gespielt, aber immerhin haben wir uns überhaupt bewegt und abgekämpft.

Doch hier, im organisierten Spielbetrieb des Berliner Fußballverbandes, galten andere Gesetze. Und diesen hatten wir uns mit der Betriebssport-Mannschaft meiner Bank natürlich unterzuordnen. An diesem Tag wollte, wenn ich mich richtig erinnere, der Schiedsrichter nicht anpfeifen, weil er den Boden für gefährlich hielt. Und das war es dann. Wir mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.

In diesem Moment fühlte ich mich unsagbar schlecht. Wie ein Tier im Käfig, das seinen Auslauf nicht bekommen hatte. Die Absage hat mich hart getroffen, weil ich mich ganz besonders auf dieses Schneespiel gefreut hatte. Meine Mitspieler und der Gegner haben es dagegen vergleichsweise leicht genommen. Bei denen hieß es sogleich: Dann gehen wir eben in die Kneipe!

Ich fühlte mich in einem Maße unausgelastet, dass es fast wehtat. Ich brauchte das einfach, mich zwei Mal in der Woche bis zum Letzten auszupumpen. Ich brauchte das für mein Gleichgewicht. In dieser Hinsicht bin ich komplett anders gewesen als die anderen. Die haben ja auch im tollsten Spiel oft nur das Nötigste gemacht. Ich hingegen musste immer so viel rennen, dass ich anschließend total erschöpft war. Erst dann habe ich mich richtig zufrieden und glücklich gefühlt.

Doch es half nichts, ich hatte mich den Realitäten zu fügen und bin schließlich mit ein paar anderen in diese Kneipe am Stuttgarter Platz mitgefahren.

Wann ist das genau gewesen? Ich suche dazu meine Fußball-Unterlagen heraus, die seit der damaligen Zeit unberührt in meinem Erinnerungsschrank lagern und an die ich immer schon einmal herangehen wollte, aber nie die richtige Gelegenheit dazu gefunden habe. Jetzt aber ist diese plötzlich da.

Ich finde zwei dicke Schnellhefter, in denen ich alles zu den Spielen unserer Betriebssportmannschaft gesammelt habe. Im April 1976 hatte ich meine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen und kurz danach den Kontakt zur Fußballmannschaft aufgenommen. Als ich dann im Herbst 1978 mit der Ausbildung fertig war, habe ich die gesamte Organisation des Spielbetriebs übernommen, was auch erklärt, warum sich so viele Unterlagen angesammelt haben.

Doch es sind nicht nur die Schreiben mit den Spielansetzungen, die ich aufgehoben habe, ich hatte mir damals auch einen Bogen entworfen, auf dem ich bei jedem Spiel den Gegner, das Datum, unsere Aufstellung, das Ergebnis, unser Punkt- und Torverhältnis, die Torschützen und sogar noch eine Bewertung aller eingesetzten Spieler notiert habe. Und zwar für den gesamten Zeitraum von 1978 bis zum Jahr 1982, als ich bereits an der Universität war und deshalb mit den Betriebsfußball aufgehört habe.

Ausgefallene Spiele habe ich allerdings nicht vermerkt. Doch das macht nichts, denn ich verfüge noch über einen weiteren Schatz, den ich aus diesem Anlass ebenfalls zu heben gedenke. Seit dem Jahr 1974 führe ich nämlich Terminkalender, in denen ich alle meine Verabredungen eingetragen und zudem die wichtigsten Unternehmungen notiert habe. Vierzig Kalender sind das jetzt. Und da werde ich bestimmt fündig werden.

Doch bevor ich mich dem Schrecklichen widme, schaue ich erst einmal in Ruhe die Fußballunterlagen durch. Wir haben damals, im Jahr 1979, in der Staffel B der 4. Klasse der Berliner Betriebsfußball-Liga gespielt. Und wir verfügten wirklich über perfekte Bedingungen, denn uns stand an jedem Montag zu der genialen Zeit von 18 : 40 Uhr auf dem Hubertussportplatz in Berlin-Grunewald ein wunderbarer Kunstrasenplatz mit Flutlicht zur Verfügung. Und die Bank hatte uns einen ganzen Satz phantastischer Trikots gesponsert, in leuchtendem Orange und Blau.

Erstaunlich finde ich heute, dass wir trotz des vielen Schnees zum Jahresanfang 1979 anscheinend alle Januar-Spiele problemlos austragen konnten. Am 15., 22. und 29. Januar haben wir erfolgreich drei Freundschaftsspiele absolviert, denn die Liga hatte Winterpause. Erst anschließend kommt dann die Unterbrechung durch die Witterungsverhältnisse, und das nächste Spiel, das dann wieder stattfand, folgt erst am 19. März.

In den Wetterprotokollen im Internet heißt es dazu: Am 13. Februar 1979 kam es, obwohl die Schneemassen der Wochen davor noch nicht abgetaut waren, erneut zu starken Schneefällen und Schneeverwehungen mit ähnlich gravierenden Auswirkungen. Und dieser zweiten Schneewelle habe sich dann sogar noch eine dritte angeschlossen, Mitte März 1979.

Was für ein verrückter Jahresanfang. Anschließend haben wir jedoch anscheinend eine richtig gute Punktspiel-Saison abgeliefert und sind zum Ende der Spielzeit 1978/​79 Fünfter in unserer Liga geworden, mit 27 - 17 Punkten und 93 : 64 Toren, zu denen ich als Mittelfeldspieler in 22 Spielen elf Tore beigetragen habe. In der Überbrückungsrunde und den Freundschaftsspielen ist es allerdings noch weit besser gelaufen für mich, da habe ich in zehn Spielen zehn Tore respektive in 31 Spielen 20 Tore geschossen.

Anscheinend bin ich also immer dann am besten, wenn es in der Hauptsache um nichts als die Freude am Spielen geht.

Interessant ist auch, dass ich von den 64 Spielen dieser verlängerten Saison mit 59 die meisten Einsätze aller Spieler unserer Mannschaft gehabt habe und zudem bei 47 Spielen als Mannschaftskapitän aufgelaufen bin. Objektiv gesehen sind das alles läppische und lächerliche Tatbestände, doch mich erfüllen sie in dem Moment, in dem ich sie jetzt nach 35 Jahren ausgrabe und zusammentrage, mit großem inneren Glück.

Als meinen Schicksalstag kann ich jetzt ganz definitiv Montag, den 5. Februar 1979 identifizieren. Und wenn ich an so etwas wie Vorherbestimmungen glauben würde, könnte ich sagen: Es ist fast exakt fünf Jahre nach dem Selbstmord meiner Mutter gewesen. Doch ich glaube an solche Zahlenspiele nicht. Dennoch hat sich das damals ganz ähnlich angefühlt, so, wie es wahrscheinlich einem Boxer gehen würde, der nach einem fatalen Niederschlag gerade wieder aufgestanden ist und sofort erneut einen Volltreffer einstecken muss.

An meinem Schicksalstag stand ein Spiel gegen die Engelhardt-Brauerei an. Es war ein Pokalspiel, die erste Runde im ÖTV-Pokal, und Engelhardt spielte einige Klassen über uns, was sicherlich zusätzlich erklärt, warum ich so heiß gewesen bin auf dieses Spiel. Ausgetragen wurde diese Begegnung schließlich am 9. April, und wir haben sie 1 : 3 verloren.

Ich denke bei diesem Spiel und diesem Gegner immer an die alte Schnurre über das Engelhardt-Bier: Wenn einem beim Sport die Nase lief und man sich ohne Taschentuch schnäuzte, nannte man das damals „Charlottenburger“. Warum? Weil es so schmeckt wie das Bier, das „Charlottenburger Pilsener“ von Engelhardt.

Noch einmal tauche ich jetzt in Gänze in den Montag, den 5. Februar 1979 ein. Die Kneipe, in die wir gefahren sind, hieß „Mohrchen“. Ich fand es schrecklich dort. Das war eine auf Gemütlichkeit getrimmte Kneipe, mit schummrigem Licht, vielen Teppiche, vielleicht sogar welche an den Wänden und auf den Tischen, wohingegen ich damals ganz auf die weißgetünchten, hellen und nüchtern eingerichteten Lokale stand.

Wer an diesem Abend alles dabei gewesen ist, weiß ich nicht mehr, ich glaube jedoch ziemlich sicher an meinen damals besten Freund, der eigentlich im Verein spielte, manchmal jedoch unter falschem Namen bei uns aushalf. Denn der Kontakt, der sich an diesem Abend für mich ergeben hat, steht in Beziehung zu einer Freundin von ihm. Sie kannte nämlich die beiden besten Freunde des Mädchens, oder soll ich jetzt sagen: Frau?, um die es im Folgenden gehen wird.

Ich fand sie/​es damals nicht einmal hübsch. Ich habe jedoch mitbekommen, dass sie sich mir anbot. Es war schnell zu merken, dass es nicht schwer sein würde, mit ihr ins Bett zu gehen. Und das war doch wenigstens etwas, werde ich wohl gedacht haben, wenn es schon nicht möglich gewesen ist, Fußball zu spielen.

Und ich habe wohl geahnt, dass sie zumindest eine sehr gute Figur haben würde. Das zumindest sollte dann auch stimmen. Ansonsten war es jedoch durchgängig schrecklich bei ihr, die Wohnung extrem bieder und überall standen lauter kitschige Figuren herum. Ich war allerdings weit Schlimmeres gewohnt bei meinen nächtlichen Zügen, total heruntergekommene und verschlampte Wohnungen.

Doch ich bin da generell nicht wählerisch gewesen, denn letztlich war das ja egal, ich wollte dort ja nicht leben und nicht einmal übernachten. Und meine eigene Wohnung war schön und sauber und aufgeräumt, und nur das zählte.

An diesem Abend dort glaube ich jedoch, mich direkt beklemmt gefühlt zu haben. Obwohl ich weder wissen noch ahnen konnte, was daraus werden würde, hätte dieses Gefühl durchaus gepasst. Noch heute kann ich es nicht recht begreifen, denn ich bin tatsächlich übervorsichtig gewesen. Und trotzdem ist es passiert. Das ist einem Maße ungerecht, dass ich es nur schwer akzeptieren kann. Meine Freunde hätten in so einer Situation einfach reingehalten. Ich hingegen habe viel Verantwortung gezeigt, fand ich. Doch gerade mich hat es erwischt, die anderen hingegen niemals.

Wie immer in derartigen Situationen habe ich vorher gefragt, ob sie die Pille nimmt. Sie bejahte und fügte noch hinzu, dass ich mir keine Sorgen machen solle, es könne nichts passieren. Trotzdem habe ich zusätzlich noch ein Präservativ benutzt. Ich weiß nicht, ob ich misstrauisch war, ich denke, ich fühlte mich in Doppeldeckung einfach wohler. Doch vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht habe ich ja tief in mir gespürt, dass dieses Mal irgendetwas entscheidend anders ist.

Spürbar ist dies auf jedem Fall im Moment des Höhepunkts gewesen. Da habe ich intuitiv gespürt, dass etwas geschehen war. Ich konnte das in diesem Moment jedoch nicht benennen.

Sofort gemerkt habe ich jedoch, dass mein Präservativ gerissen war. Doch sie meinte weiterhin: „Es kann absolut nichts passiert sein.“ Okay, habe ich gedacht. Gut.

Trotzdem habe ich mir ihre Telefonnummer geben lassen. Auf dem Nachhauseweg hatte ich, glaube ich ein ziemlich blödes Gefühl. Wenige Tage später habe ich dann angerufen und erneut gehört: „Nein, du kannst ganz beruhigt sein, es ist völlig ausgeschlossen, dass etwas passiert ist.“

Im Anschluss daran gab es keinen Kontakt mehr. Es stand auch niemals zur Debatte, dass wir uns noch ein zweites Mal treffen könnten. Ich glaube, wir haben gar nicht darüber gesprochen. Irgendwie war klar, dass das nichts ist. Ich habe sie nicht mehr angerufen und sie hat sich auch nicht mehr bei mir gemeldet. Vorerst jedenfalls.

*

Ziemlich genau fünf Monate später stehe ich dann im gleißenden Sonnenlicht unten vor dem Haus, in dem ich wohne, und halte die Post in der Hand, die ich gerade aus dem Briefkasten geholt habe. Gleich werde ich zum Auto gehen und losfahren. Vorher schaue ich nur kurz die Briefe durch. Als ich dabei den handgeschriebenen Absender auf einem der Umschläge sehe, ahne ich bereits, was los ist. Und das trifft leider auch voll ins Schwarze.

Ich habe den Brief nicht aufbewahrt, doch ich erinnere mich noch ziemlich genau an dessen zentrale Formulierung. Sie lautete in etwa so: „Ich habe mich vorher nicht getraut, mich bei dir zu melden.“ Und dann kündigt sie mir an, noch in diesem Jahr Vater zu werden.

Den Augenblick, als ich das gelesen habe, habe ich noch sehr genau im Gedächtnis. Es war wie ein Schlag. Draußen heller Sonnenschein, doch ich wusste, dass mein Leben sich jetzt verdunkeln würde und von einer Sekunde auf die andere nicht mehr so weitergehen würde wie vorher. Die Welt war urplötzlich eine andere geworden.

₺190,26