Kitabı oku: «Dürnsteiner Würfelspiel»

Yazı tipi:


Bernhard Görg:

Dürnsteiner Würfelspiel

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-90320-012-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

2. April, 17:20 Uhr

Das war wieder so ein Moment, in dem er die Wände hätte hochklettern können. Es war später Nachmittag, und seine Frau war noch immer im Schlafrock. Und das an einem Sonntag.

Felix Frisch saß in seinem Fernsehsessel und versuchte mit seinem Daumennagel, die Reste des Mittagessens von seiner Adidas-Trainingshose zu kratzen, deren Farbe in den Kniekehlen blauer war als an den Oberschenkeln. Eine Hose, von der er sich geschworen hatte, sie in Ehren und damit in Schuss zu halten. Nur Blödsinn im Fernsehen!

Seit ihrer Hochzeit vor neunzehn Jahren hatte seine Elfriede fünfzehn Kilo zugenommen und stetig an Attraktivität verloren. Da konnte er ja gar nicht anders, als sich selbst gehen zu lassen.

Was für einen Anreiz hätte ein Ehemann haben sollen, auf sein Gewicht zu achten, wenn die Ehefrau keinen Funken Ehrgeiz zeigte, ihr Hochzeitsgewicht zu halten. Er musste an seinen Kollegen denken, der erst unlängst im Wachzimmer von seiner Frau geschwärmt hatte. Sie würde noch immer ins Verlobungsdirndl passen, hatte er gesagt. Kein Wunder, dass der schon seit drei Jahren Gruppeninspektor war, obwohl er nur ein Dienstjahr mehr vorzuweisen hatte. In der Industrie wurden nicht nur die Chefs, sondern auch die Ehefrauen genau unter die Lupe genommen. Hatte Felix zumindest einmal gelesen. Vielleicht machten sie das bei der Polizei jetzt auch so. Natürlich geheim, weil bei der Polizei wurde immer alles geheim gemacht, Datenschutz und so, da waren jetzt alle ganz versessen darauf. Wenn dem so war, dann konnte er noch lang auf seinen dritten Stern warten.

Er blickte aus dem Fenster. Scheißaussicht. Und das in Krems. Auf dem Balkon keine zehn Meter gegenüber gleich drei Leinen voll mit Unterwäsche. Was hatte er verbrochen, dass er nicht am Wachtberg oder wenigstens am Rosenhügel wohnen konnte?

Beim Gedanken an den mittäglichen Schweinsbraten wurde die Stimmung des Revierinspektors wieder milder. Eines musste er seiner Frau lassen: Beim Kochen machte ihr keine etwas vor. Und beim Fleisch folgte sie genau seinen Anweisungen. Da war er penibel.

Vor zwölf Jahren hatte sie einmal einen Schopfbraten nach Hause gebracht. Kein schlechter Geschmack, aber diese graubraune Farbe! Scheußlich. Möglich, dass die Farbe eines Bratens manche Esser nicht störte. Hauptsache fünf Euro billiger. Aber nicht mit ihm. Er hatte immer auch mit den Augen gegessen. Seit diesem Tag hatte es nur mehr Schweinskarree gegeben. Er bestand auf Fleisch, das beinahe schon weiß war. Nicht eines von der trockenen Sorte, das sie einem in den Supermärkten immer andrehten.

Nein, von einem der wenigen Fleischhauer, die es noch in Krems gab. Das Schwein lieferte exklusiv ein Bauer nördlich von Gföhl. Und das Karree wurde selbstverständlich mit echten Waldviertler Knödeln serviert, mit eigenhändig geriebenen, rohen Erdäpfeln dazu. Nicht diese halb rohe, halb gekochte industrielle Massenware. Die Knödel waren so fantastisch, dass er sich in jungen Ehejahren sogar einmal erbötig gemacht hatte, seiner Elfriede beim Reiben der Erdäpfel zu helfen. Aber der Saft der rohen Erdäpfel hatte der Haut an seinen Händen nicht gutgetan.

Schon nach fünf Minuten verspürte er ein starkes Brennen. Wahrscheinlich Kartoffelsäure oder etwas Ähnliches. Man glaubte gar nicht, was der Saft eines rohen Erdapfels mit einem sensiblen Menschen wie ihm anstellen konnte. Was für ein Glück, dass seine Frau robuster war.

Er saß in seinem dunkelbraunen Sofa und betrachtete sie von der Seite. Er erkannte eine gerade Stirn und eine ebenso gerade, kleine Nase. Wenn nur das Doppelkinn nicht gewesen wäre. Das war seine Elfriede, die dort saß und in die Glotze starrte, in der eine der dümmsten amerikanischen Fernsehserien lief. Er würde nie verstehen, warum sich Millionen von Menschen für diesen Witzbold von einem Detektiv begeisterten. Völlig bescheuert. Natürlich mit Polizisten, die sich noch lachhafter aufführten als dieser Spinner. Total wirklichkeitsfremd. Da würde er für seine amerikanischen Kollegen die Hand ins Feuer legen.

Felix wollte eine Werbeunterbrechung abwarten, um seine Frau anzusprechen. Die Sache, über die er mit ihr sprechen wollte, war ziemlich delikat. Er konnte nur hoffen, dass Elfriede sie nicht in die falsche Kehle kriegen würde. Endlich war sie da, die heiß ersehnte Unterbrechung.

»Ich wollte dir nur sagen, dass wir im Vorstand des Kegelklubs beschlossen haben, einen gemeinsamen Ausflug in die Sauna zu machen. Damit wir noch mehr zusammengeschweißt werden.«

»Wenn du dich deinen Freunden unbedingt im Adamskostüm präsentieren möchtest, viel Vergnügen. Ich hoffe, du versprichst dir davon nicht, dass sie dich zum Adonis des Jahres küren werden.«

Er ahnte, dass der Hinweis auf diesen Adonis, wer immer das sein mochte, eine Spitze sein sollte. Er wusste nur nicht, welche. Normalerweise hätte er reagiert. Aber nicht heute. Dafür war ihm sein Ziel zu wichtig. Felix bemühte sich, seinen Ärger zu unterdrücken und seiner Stimme einen ganz beiläufigen Klang zu geben. »Du bist also einverstanden?«

»Was soll ich gegen eine nackte Runde von Männern haben, die gemeinsam schwitzen, dabei völlig vergeblich ihren Bauch einziehen und sich gegenseitig ihre wenigen Haare auf dem Kopf zählen? Ihr könnt von Glück reden, dass euch dabei keine Frauen zuschauen.«

Der Revierinspektor fühlte, wie ihm das Herz in die Hose sank. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Zur Vorsicht beschloss er, für mindestens zwanzig Sekunden nichts zu sagen. Als im Fernsehen eine Werbeeinschaltung für eine neue Art von Dunstabzugshaube erschien, von der er zu wissen glaubte, dass sie schon rein physikalisch nicht funktionieren konnte, sah er seine Chance gekommen. »Ganz ausschließen kann man das aber nicht. Wir haben im Klub ja auch ein paar weibliche Mitglieder.«

Zunächst glaubte er, seine Frau hätte gar nicht richtig wahrgenommen, was er da eben gesagt hatte.

Was für eine clevere Taktik von ihm.

»Was höre ich da? Das kann doch nicht dein Ernst sein?«

Elfriede hatte ihm jetzt ihr Gesicht zugewandt. Er erkannte die Warnsignale. Die hochgezogenen Augenbrauen und die zwei Stirnfalten hatten ihm in der Vergangenheit zuverlässig kommendes Ungemach angekündigt. In ihrer Stimme lag eine Schärfe, vor der er schon Angst gehabt hatte, als er mit seiner Elfriede noch gar nicht verheiratet gewesen war. »Untersteh dich, dort hinzugehen! Wenn dir mein Busen nicht mehr knackig genug ist, dein Pech. Damit du es nur weißt, an dir ist auch nicht mehr alles knackig, mein Lieber, aber deswegen lüstet es mich noch lange nicht nach frischerem Fleisch. Schlag dir diese Sauna aus dem Kopf!«

Felix spürte, dass er einen roten Kopf bekam. Typisch Elfriede. Angriff als beste Verteidigung.

»Du verstehst das völlig falsch. Glaubst du, ich reiße mich darum? Aber als Rechnungsprüfer des Kegelklubs kann ich mich halt nicht ausschließen. Wie würde denn das ausschauen, wenn ich als Mitglied des engeren Führungskreises kneifen würde. Außerdem sitzen wichtige Leute drinnen, die ein Wörtchen bei einer Beförderung zum Gruppeninspektor mitzureden haben.«

»Dieses Märchen vom Sprung zum Gruppeninspektor, der angeblich unmittelbar bevorsteht, kann ich schon nicht mehr hören.«

Die Tonlage seiner Frau bereitete seinem sensiblen Ohr genauso ein körperliches Unbehagen wie die Kartoffelsäure in seiner Hand.

»Die verwenden dich doch nur als nützlichen Idioten. Und du merkst es nicht einmal. Genauso wie der junge Polizist da im Fernsehen.«

Wie er diese Gabe seiner Frau hasste, im entscheidenden Augenblick immer einen wunden Punkt bei ihm zu finden. Aber der Vergleich mit diesem entsetzlich dummen Polizisten in der Fernsehserie war der Gipfel.

»Fall mir nur in den Rücken! Da warst du ja schon immer groß dabei.«

Felix beschloss, einen möglichst geordneten Rückzug anzutreten. Obwohl er diese junge FPÖ-Gemeinderätin, die seit Kurzem den Posten der Schriftführerin im Klub bekleidete, für sein Leben gern in der Sauna erlebt hätte. Natürlich war die FPÖ irgendwie ein Problem, obwohl er das Problem nicht hätte beschreiben können. Aber eines musste Felix Frisch den Blauen lassen. Sie hatten feschere Frauen als die Roten. Von den Schwarzen gar nicht zu reden.

»Also gut, ich werde meine Teilnahme absagen. Aber beklag dich dann nicht, wenn ich auf meinen dritten Stern noch länger warten muss.«

»Als ob ich mich darüber schon jemals beklagt hätte.«

Als sie ihn anlächelte, kam ihm zum hundertsten Mal die Geschichte vom Schuster in den Sinn, der besser bei seinen Leisten blieb.

Felix Frisch stand auf, strich seiner Frau über den Kopf und hörte sich sagen: »Du bist ja doch die Beste. Magst auch einen Schluck Bier?«

3. April,14:45 Uhr

Gestern hätte sich Anna Nimmervoll noch über das Eichkätzchen gefreut, das gerade den Stamm des Marillenbaums vor ihrem schmalen Fenster hinauflief. Es wollte wohl die weißen Blüten, die den Baum seit drei Tagen über und über bedeckten, ganz aus der Nähe inspizieren. Dieser Marillenbaum vor Annas Fenster war zwar nur ein Baum von insgesamt dreiundfünfzig im elterlichen Garten, aber er war der schönste.

Gestern noch wäre Anna in die Küche gegangen, um ein paar ausgelöste Nüsse zu holen, die ihre Mutter immer im Kühlschrank aufbewahrte. Sie hätte das Fenster geöffnet, die Nüsse in Richtung Stamm geworfen und die Sekunden gezählt, bis sie vom Eichkätzchen entdeckt worden wären. Ihr schien, dass sein dunkelbrauner, fast schwarzer Schwanz, den sie seit letztem Herbst regelmäßig beobachten konnte, über den Winter noch dichter geworden war. Nur heute hatte das kleine Mädchen, deren hellblonde Haare am Hinterkopf durch eine schwarze Schleife zusammengehalten wurden, keinen Blick für das flinke Tier, das sie sonst immer entzückte. Auch nicht für das Radfahrerpaar, das seine Räder am Zaun des Nimmervollschen Gartens abgestellt hatte, um dessen Blütenpracht zu bewundern. Meistens bestaunten die vorbeikommenden Radfahrer auch noch ihr Haus, das Anna jedoch gar nicht gefiel. Sie fand es viel zu alt. Doch heute dachte sie weder an die zu dicken Mauern, noch an die zu kleinen Fenster ihres Elternhauses. Ihre Augen waren voller Tränen, die sie seit heute früh geweint hatte. Der Grund war ihr geliebter Löwenherz, der in der vergangenen Nacht verendet war. Mit dreizehn Jahren war er nur um vier Jahre älter gewesen als sie selbst. Sie musste an den letzten Sonntag denken. Vor einer Woche noch war sie mit ihrem Liebling auf dem Seiberer spazieren gewesen. Sie versuchte, jede freie Minute diesen Spaziergängen zu widmen, oft gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder. Wie oft hatten David und sie Löwenherz mit all der Kraft, die Kinder aufbringen konnten, zurückhalten müssen, wenn der Hund einen Hasen witterte oder gar sah. Löwenherz war ein Whippet. Wie man das schrieb, wusste sie erst seit einem Jahr, aber schon seit vier Jahren wusste sie, dass ein Whippet ein englischer Jagd- und Windhund war. Bis über die kleinen Ohren vollgestopft mit Genen, die ihn besessen machten von der Jagd auf Hasen. Im Hakenschlagen war er noch talentierter als seine Beute.

Letzten Sonntag war ein Hase auf einem Feldweg hundert Meter vor ihnen recht gemächlich vor sich hin gehoppelt, bevor er die Böschung hinaufhüpfte und ihren Blicken entschwand. Aber Löwenherz schien den Hasen gar nicht zu bemerken. Von einem erregten Zittern und einem heftigen Ziehen an der Leine, wie sie es sonst von ihm gewohnt war, auch keine Spur. Das war ihr eigenartig erschienen, aber als Neunjährige hatte sie darin natürlich keine Vorzeichen eines baldigen Todes erkennen können. Hätte sie es gekonnt, so hätte sie dem Hund in den letzten Tagen seines Lebens noch mehr Zuneigung und Liebe geschenkt.

Am liebsten wäre sie heute gar nicht in die Schule gegangen. Aber ihre Eltern hatten darauf bestanden. Auf die war sie seit heute früh ohnehin nicht gut zu sprechen, weil sie ihr verboten hatten, Löwenherz unter dem Marillenbaum vor ihrem Fenster zu bestatten.

Ihre Mutter, die immer ein sehr distanziertes Verhältnis zu dem Hund gehabt hatte, war dem Vater in den Ohren gelegen, den Kadaver zur Tierverwertung nach Krems zu bringen. Der Vater hatte wenigstens einen Funken Einsehen gehabt und ihr erlaubt, das Tier in einem der familieneigenen Weingärten zu vergraben. Er hatte den Hinweis der Mutter, dass so etwas womöglich gar nicht erlaubt war, ignoriert. Einen vom Vater angebotenen Platz in dem Wald, der ihm gehörte, hatte Anna abgelehnt. Sie wollte nicht, dass Ausflügler oder Schwammerlsucher auf ihrem Löwenherz herumtrampelten, selbst wenn er längst tot war.

Ihre Taufpatin hatte ihr den Hund vor vier Jahren überlassen, weil sie aus beruflichen Gründen von Rossatz nach Wien gezogen war. Anna hatte sich auf Anhieb in ihn verliebt und die spontane Entscheidung getroffen, dieser Liebe durch eine entsprechende Namensgebung Ausdruck zu verleihen. Der Name »Tasso«, mit dem ihre Tante den Hund gerufen hatte, schien ihr viel zu gewöhnlich. Für einen Whippet, der noch dazu nach ihren Erkundungen der einzige in ganz Weißenkirchen und Umgebung war, klang er geradezu ordinär. Sie hatte zu dem Zeitpunkt mit ihrer Klasse gerade einen Ausflug zur Ruine Dürnstein gemacht, wo ihre Lehrerin den Kindern die Geschichte vom englischen König Richard Löwenherz erzählt hatte. Anna hatte damals zwar nicht verstanden, wie ein Herzog einen König, der ja viel mächtiger war, einsperren konnte, dennoch war für sie von dem Moment an klar gewesen, dass ihr Liebling nur »Löwenherz« heißen konnte.

Sie hatte heute auf ihr Mittagessen verzichtet und war mit ihrem Rad die einzelnen Weingärten ihres Vaters, die um Weißenkirchen herum verstreut lagen, abgefahren, um einen geeigneten Platz zu suchen. Die Ried Lobenberg schien ihr am geeignetsten. Sie war in maximal zehn Minuten von zu Hause aus zu erreichen, und ab der vierten Terrasse bergaufwärts bot sie einen prachtvollen Blick auf die Ruine Dürnstein. Fünfzig Meter tiefer lag die Trasse der Wachau-Bahn.

Wie gern war doch Löwenherz mit der Bahn gefahren. Viel lieber als mit dem Auto. Einen schöneren und würdigeren Platz für die ewige Ruhe ihres Lieblings hätten sie nicht finden können. Schade nur, dass das sanfte Plätschern der Donauwellen hier oben nicht mehr zu hören war.

Ihr Bruder, der mittlerweile ebenfalls von der Schule nach Hause gekommen war, hatte ihr als zukünftiger Erbe des Weinbaubetriebs versprechen müssen, dieses Stück Weingarten zumindest so lange nicht zu verkaufen, bis sie gestorben war.

Weil der Vater seine Frau nicht noch zusätzlich verärgern wollte, hatte er es abgelehnt, den toten Hund mit seinem Traktor zum Weingarten zu transportieren. So holte ihr Bruder einen kleinen Karren mit zwei Gummirädern aus dem Schuppen und hängte ihn an sein Rad. Sie selbst hatte Löwenherz ganz behutsam auf die Ladefläche gelegt, während David zwei Schaufeln und eine Spitzhacke gebracht hatte. Dann waren sie losgefahren. Sie voraus, er hinterher.

Die letzten zweihundert Meter musste sie den Hund, den die Mutter ganz prosaisch in einen Kartoffelsack gestopft hatte, alleine tragen, weil ihr Bruder mit Spitzhacke und den zwei Schaufeln genug zu schleppen hatte. Ganz schön anstrengend für eine Neunjährige. Als sie die ausgesuchte Stelle auf der Terrasse, ganz nahe einer Steinmauer, erreicht hatte, streifte sie den Sack vorsichtig ab und wickelte ihren Whippet in ihr rosafarbenes Lieblingsnachthemd, das sie heimlich von zu Hause hatte mitgehen lassen.

»Wenn dein Löwenherz vor vier Wochen gestorben wäre, wären wir ganz schön aufgeschmissen gewesen. Da war der Boden noch ganz gefroren.« David ließ die Spitzhacke auf den weichen Boden niedersausen. »Typisch Löwenherz. Nimmt auch noch im Tod Rücksicht auf uns.«

Anna wischte sich eine Träne aus ihrem linken Auge, dem heute all der Glanz fehlte, der in der ganzen Familie berühmt war. »Papa hat gesagt, wir müssen einen Meter tief graben. Damit ihn kein Fuchs oder Dachs ausgräbt.«

»Logisch. Aber in zehn Minuten bin ich mit dem Loch fertig. Du kannst dir solange noch deinen Hund anschauen. Schließlich siehst du ihn nie wieder.«

Anna, die sich von ihrem Bruder mehr Mitgefühl erwartet hatte, zog ihre Jeans aus und schlüpfte in das mitgebrachte Kleid, das sie voriges Jahr beim Begräbnis ihrer Großmutter angehabt hatte. Dann legte sie die Jeans auf die Grasnarbe, von der die Sonne langsam die Spuren des Winterbrauns vertrieb und durch Frühlingsgrün ersetzte, und setzte sich darauf. Sie blickte nicht auf ihren Hund. Sie wollte ihn nicht tot in Erinnerung behalten. Sie stützte ihr Kinn auf ihre rechte Hand und schaute auf das Schleppschiff mit zwei Kähnen, das sich stromaufwärts mühte. Sie glaubte, auf dem Schiff eine Frau und ein halbwüchsiges Mädchen zu erkennen, die gerade dabei waren, Wäsche aufzuhängen. So eine Reise hätte sie auch gern mit ihrem Löwenherz unternommen. Jetzt war es zu spät dafür.

Plötzlich hörte sie ihren Bruder die Spitzhacke wegwerfen und aufgeregt rufen. »Anna, ruf den Papa an! Er muss gleich kommen. Da ist jemand vergraben!«

3. April, 15:00 Uhr

Die Pensionierung ihres Chefs war für Doris Lenhart überraschend gekommen. In den vielen Gesprächen, die sie mit ihm in den letzten eineinhalb Jahren gehabt hatte, war davon nie die Rede gewesen. Zugegeben, er war jetzt fast vierundsechzig, aber sie hätte nie gedacht, dass er mehr als ein ganzes Jahr vor dem Erreichen seines regulären Pensionsantrittsalters aufhören würde. Dazu hatte ihm seine Arbeit noch immer zu viel Spaß gemacht. Sie hatte es allerdings als Auszeichnung befunden, dass sie die Erste gewesen war, die er ins Vertrauen gezogen hatte. Das war bereits Ende Februar der Fall gewesen.

Natürlich war die Pensionierung des langjährigen Landespolizeidirektors seit der offiziellen Bekanntmachung vor zwei Wochen Gesprächsthema Nummer eins im Landeskriminalamt. Einigkeit herrschte darüber, dass der Abschied nicht ganz freiwillig erfolgt sein konnte.

Uneinig waren sich alle in der Frage, ob der Innenminister oder der Landeshauptmann dahinter steckte. Die einen tippten auf den Innenminister, weil sein Nachfolger, der vor vierzehn Tagen ernannt worden war, aus dem Büro des Ministers kam. Die anderen hielten den Landeshauptmann für den Drahtzieher hinter der Neubesetzung. Johann Kainz hatte nämlich in kleinstem Kreis nie einen Hehl daraus gemacht, dass er mit dem Ehrgeiz seines obersten Polizeibeamten, die Parteipolitik aus der Beamtenschaft herauszuhalten, alles andere als glücklich war. Offiziell hatte er ihn natürlich dabei unterstützt.

Jedenfalls hatten es sich weder der Innenminister noch der Landeshauptmann nehmen lassen, bei der Präsentation des neuen Landespolizeidirektors dabei zu sein. Beide hatten sich bei ihren Begrüßungsansprachen mit Lob für den neuen Chef überboten. Zumindest am Anfang ihrer Rede. Wie Doris, als Leiterin der Mordkommission natürlich aufmerksame Zuhörerin, bemerkte, sprachen die beiden Herren in erster Linie über sich selbst. Ihr Mann hatte ihr noch beim Frühstück gesagt, dass er viel darum geben würde, zwei Alphatiere dieses Kalibers auf engstem Raum beobachten zu können. Er würde sich bestimmt königlich amüsieren.

Der Neue, Dr. Wolfgang Marbolt, hatte gleich bei seiner Einführung angekündigt, dem Besuch aller seiner Dienststellen oberste Priorität einzuräumen. Heute war das Landeskriminalamt an der Reihe. Doris Lenhart begleitete ihn selbstverständlich bei seinem Gang durch ihre Abteilung.

Bei der Vorstellung ihrer Mitarbeiter erwies er sich als gut informiert, interessiert und sogar ab und zu leutselig. Er hatte fast für jede oder jeden von ihnen ein freundliches Wort, und seine Fragen trafen immer einen guten Punkt, wie es der Chefinspektorin schien. Ihr war er dennoch unsympathisch. Er trug zu viel Gel im schwarzen Haar, und der in einem fahlen Grau gehaltene Anzug war viel zu eng geschnitten. Am meisten störte sie allerdings sein permanentes lautes Lachen, das so gar nicht zu seinen kleinen, tief liegenden Augen, die wenig Vertrauen erweckten, passte. Musste er sich von jemandem, der ihm wichtig vorkam, abgeschaut haben. Zu guter Letzt war in ihrem Arbeitszimmer ein abschließendes Gespräch vorgesehen. Es fand unter vier Augen statt. Ihren Vorschlag, auch ihren Stellvertreter hinzuzuziehen, hatte er höflich, aber bestimmt abgelehnt.

Nachdem ihre Sekretärin für sie beide Kaffee gebracht hatte, den er ohne Zucker trank, eröffnete er das Gespräch und fixierte dabei seine Kaffeetasse.

»Man sieht gleich, dass du da eine recht gute Truppe beisammen hast.«

Doris zuckte bei der Beschreibung »recht gute Truppe« innerlich zusammen. Sie blickte ihr Gegenüber mit einem irritierten Gesichtsausdruck an. Ihre Blicke trafen sich.

»Eines will ich gleich klarstellen. Mein Team leistet nicht recht gute, sondern hervorragende Arbeit. Da stelle ich dir gern die Zeitungen der letzten Monate zur Verfügung.«

»Ich bitte dich, sei nicht gleich so empfindlich. Also, ich bin bereit, mit mir verhandeln zu lassen und nehme das ›recht‹ zurück, aber wie du weißt, ist der Bessere immer der Feind des Guten. Soweit ich informiert bin – und ich bin sehr gut informiert, weil ich von Wien aus eure Arbeit immer sehr genau verfolgt habe –, sind es auch nicht so sehr eure, sondern deine Erfolge gewesen. Deinem Stellvertreter sieht man doch zehn Meter gegen den Wind an, dass er schon bessere Zeiten gesehen hat.«

Darum wollte Marbolt Gerhard Malzacher also nicht bei ihrem Gespräch dabeihaben. Doris zog mit beiden Händen den Rock über die Beine und lehnte ihren Oberkörper abrupt nach vorne.

»Seine Zeiten sind meiner Meinung nach noch nie so gut gewesen. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte. Ja, es stimmt schon, er kommt ein bisschen abgeschmuddelt daher, aber sein Äußeres täuscht. Ich bin überzeugt, dass er auch dich bald von seinen Qualitäten überzeugen wird. Jeder im Haus wird dir bestätigen, dass er einen sagenhaften Riecher hat.«

Marbolt führte seine Tasse ganz langsam zum Mund. Nachdem er sie ebenso langsam wieder abgestellt hatte, blickte er die Chefinspektorin an.

»Das soll mir recht sein. Da ich aber aus seiner Personalakte weiß, dass er schon knapp neunundfünfzig ist, halte ich es im Sinn einer mittelfristigen Personalplanung für richtig, dass ich mich schon jetzt um einen Nachfolger umsehe. Ich gehe davon aus, dass es dir recht ist, wenn ich dafür keine Frau in Betracht ziehe. Gleich zwei Frauen an der Spitze der Mordkommission wären doch etwas zu viel des Guten.«

Was für ein falsches Lächeln, dachte Doris, als sie ihr neuer Chef mit kühlen Augen und etwas schiefem Mund angrinste.

»Im Übrigen darf ich dir ganz im Vertrauen sagen, dass der Herr Minister sein Auge wohlgefällig auf dich gerichtet hat. Im Bundeskriminalamt wird in spätestens zwei Jahren eine interessante Stelle frei. Da würdest du perfekt hineinpassen. Das ist der Hauptgrund, warum ich mich jetzt schon um einen Nachfolger für deinen Stellvertreter umsehe. Damit wir in der Führung der Abteilung Kontinuität haben.«

Doris hoffte, dass ihr Chef nicht merkte, wie sie die Luft einsog. Ihr war jetzt klar, dass Marbolt ohne lange Umschweife und ohne viel Federlesens seine eigenen Leute an Bord bringen wollte. Schon beim ersten Gespräch mit seinen Absichten rauszurücken, dazu gehörte schon einiges. Ihr würden unruhige Zeiten bevorstehen.

»Ich gehe davon aus, dass ich da selbst auch ein Wörtchen mitzureden habe.«

»Selbstverständlich.«

Was für eine gönnerhafte Selbstverliebtheit, dachte Doris. »Ich will ja nur, dass du es dir beizeiten durch den Kopf gehen lässt. Ich habe dem Herrn Minister versprechen müssen, dass ich ihm innerhalb von sechs Monaten wegen dir Bescheid gebe. Er möchte auch Planungssicherheit haben. Und nimm bitte das Ganze nicht zu tragisch. Es weht eben ein neuer Wind.«

Türler ve etiketler

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