Kitabı oku: «Dürnsteiner Würfelspiel», sayfa 5
5. April, 09:00 Uhr
Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten das Erdreich rund um die Fundstelle des Skeletts auf einer Fläche von drei mal drei Metern bis zu einer Tiefe von eineinhalb Metern abgetragen und dabei sogar die Terrassenmauer wegen Einsturzgefahr abstützen müssen. Trotz sorgfältiger Untersuchung des Aushubs waren sie kaum auf etwas kriminaltechnisch Verwertbares gestoßen. Das überraschte Doris Lenhart nicht wirklich.
Die Reste einer Wieselburger-Bierflasche, an der sich einer der Beamten geschnitten hatte, und eine leere Kondompackung, die ein junger Kollege aufgrund der Verpackung auf ein Maximalalter von fünf Jahren schätzte, waren die ganze Ausbeute gewesen. Selbst wenn die Packung älter gewesen wäre, hätte sie ihnen nicht weitergeholfen. Sonst noch zwei rostige Nägel und mehrere Knochen eines kleinen Tieres.
Sie hatte einige Zeit überlegt, ob sie ihren Chef gleich informieren sollte. Sie entschied sich schließlich dafür, weil sie an einer Eskalation der Spannungen kein Interesse hatte. Deeskalation war auch der Rat ihres Manns gewesen, mit dem sie das höchst eigenartige Verhalten des neuen Polizeidirektors am Vorabend diskutiert hatte.
Als sie ihn anrief, um ihm das Ergebnis der Untersuchung durch die Spurensicherung mitzuteilen, war sie zunächst überrascht, dass er sich ausgesucht liebenswürdig für die Information bedankte. Geradezu verblüfft war sie allerdings von seiner Erklärung, morgen zum Thema »Skelettfund« eine Pressekonferenz machen zu wollen.
Ihren Einwand, dass es bis jetzt nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen gab, wischte er beiseite. Er wollte auch noch gar nicht von einem Mord sprechen, sondern den Fund dazu benutzen, die Bevölkerung zu aktiver Mitarbeit zu motivieren.
Die Sache war ein geradezu idealer Anlass, den mündigen Bürgern Niederösterreichs Gelegenheit zu bieten, ihre Zivilcourage unter Beweis zu stellen. Vielleicht ersparte sich die Kriminalpolizei dadurch sogar eine mühevolle Durchforstung aller Vermisstenmeldungen. Marbolt hielt es für völlig ausgeschlossen, dass eine ältere Frau verschwand, ohne dass es einer Nachbarin oder Freundin aufgefallen wäre. Auch wenn die Sache fünfzehn Jahre oder länger zurücklag. Natürlich würden sich bei seinem Aufruf zu couragierter Mitarbeit auch viele lästige Wichtigmacher melden, aber er wusste sich da mit dem Minister eines Sinnes, dass die Polizeibehörden diesen Preis zu zahlen hatten. Dann fügte er mit honigsüßer Stimme hinzu, dass er ihrem Einwand Rechnung tragen und sie daher bei der Pressekonferenz nicht dabeihaben wollte. Von einer Morduntersuchung konnte man, wie Doris selbst gesagt hatte, immerhin noch keinesfalls sprechen.
Mit dem Wunsch nach einem schönen Tag verabschiedete sich Wolfgang Marbolt, und Doris rannte aus ihrem Zimmer. Sie war nicht wütend, weil der Chef sie bei der Pressekonferenz übergangen hatte. Die konnte ohnehin nur ein Desaster werden. Nein, sie war vielmehr amüsiert von seinem eitlen Geltungsdrang und seinem liebesdienerischen Eifer, dem Minister nach dem Mund zu reden. Dieses Amusement wollte sie gleich mit ihrem Stellvertreter teilen.
Als sie bei seinem Büro ankam, stand die Tür offen. Was sie sah, schockte sie, obwohl sie von ihm einiges gewohnt war. Er saß auf seinem Sessel, blickte gedankenverloren in die Gegend und bohrte gleichzeitig mit seinem rechten Zeigefinger in seinem Nabel herum. Als sie sich räusperte, schnippte er das, was sein Zeigefinger ausgegraben hatte, mit seinem Mittelfinger in ihre Richtung. »Seitdem ich weiß, wie gut ich bei unserem Neuen angeschrieben bin, kann ich mir natürlich noch mehr erlauben.« Dabei knöpfte er seelenruhig das Hemd über seinem behaarten Bauch zu.
»Jetzt übertreibst du es aber. Kein Wunder, dass dir deine Frau davongerannt ist.«
»Du bist sicher nicht zu mir gekommen, um mir Ratschläge über den Umgang mit Frauen zu geben. Außerdem schaust du wie eine Katze aus, die gerade eine Schüssel Schlagobers geschlürft hat.« Er stand auf und rückte für sie einen Sessel zurecht, dessen Sitzfläche nur mehr Reste eines hellbraunen Furniers erkennen ließ.
»Der Sessel da hat schon bessere Zeiten gesehen, aber dich wird er noch aushalten.«
»Kann ich sicher sein, dass ich mich da auf keine Reste von dem drauf setze, was du gerade in deinem Nabel gefunden hast?«
»Keine Sorge. Wäre nur Abrieb von meinem Pyjama. Macht garantiert keine Flecken. Außerdem habe ich immer in eine ganz andere Richtung gezielt.« Spencer grinste sie an.
Doris wischte mit ihrer Linken über die Sitzfläche und setzte sich. »Dein Wort in Gottes Ohr.« Sie strahlte. »Stell dir vor, der Marbolt will morgen eine Pressekonferenz machen.«
»Schon wieder? Die hat er doch erst anlässlich seines Amtsantritts gemacht. Andererseits ist es kein Wunder. Immerhin haben ihn die Journalisten vorige Woche übersehen, so spindeldürr wie er ist.«
Doris lehnte sich zurück und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. Sie schwieg für ein paar Sekunden, weil sie den kommenden Moment besonders genießen wollte. »Du wirst es nicht glauben, aber er möchte wegen des Skeletts mit der Presse reden.«
Spencer lehnte sich ebenfalls zurück und begann langsam, seinen Kopf zu schütteln. »Na, da haben wir uns ja einen besonderen Vogel eingehandelt. Ich hoffe, du hast dich geweigert, da dabei zu sein. Wir wissen bis jetzt genau genommen nullkommajosef.«
»Ich habe mich nicht geweigert.« Nachdem sie das Entsetzen ihres Stellvertreters auf seinem Gesicht gesehen hatte, setzte sie verschmitzt hinzu: »Er will mich ausdrücklich nicht dabei haben.«
»Das erste Intelligente, was ich von dem Menschen gehört habe.« Dann bekam Spencers Gesicht einen Ausdruck, den die Chefin der Mordkommission nur als Ausdruck der plötzlichen Eingebung und Erleuchtung interpretieren konnte.
»Lang vor deiner Zeit hat es bei uns einmal eine berühmte Fernsehsendung gegeben. Aktenzeichen XY ungelöst‹, in Deutschland läuft die noch immer. Ich stelle mir gerade vor, wie unser hochverehrter Herr Chef die leere Kondomschachtel in die Kamera hält und sich mit dem verlogen-pathetischen Unterton des damaligen Moderators an die Fernsehzuschauer wendet: Meine Damen und Herren, wenn jemand unter Ihnen ist, der ein Präservativ aus dieser Schachtel verwendet hat, oder jemanden kennt, der das getan hat, dann melden Sie sich bitte. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle oder unser Aufnahmestudio entgegen. Jeder Hinweis wird natürlich diskret behandelt.« Spencer prustete los.
»Der rennt noch in sein Unglück.« Doris stand auf und streifte mit beiden Händen über die Rückseite ihres hellbeigen Rocks.
Bei diesen Worten wurde Spencer wieder ernst. »Vorsicht, Doris. Solche Typen rennen nicht ins Unglück. Sie lassen andere an ihrer Stelle ins Unglück rennen. Dieser Instinkt ist diesen Leuten angeboren. Deshalb machen sie auch Karriere.«
5. April, 16:00 Uhr
Sie war pünktlich. Wie immer. Sie hatte schon seit ewigen Zeiten Frauen affig gefunden, die Männer warten ließen. Eine geradezu kindische Art, sich begehrt machen zu wollen. Das hatte sie nie notwendig gehabt. Allerdings nützte jetzt ihre ganze Pünktlichkeit nichts. Die enge Straße in Unterloiben war hoffnungslos zugeparkt. Wie das beim Loibnerhof fast immer der Fall war. Wieder so eine typische Idee des Herrn Stadtparteiobmanns. Wollte den Zusammenhalt seiner Truppe durch den Besuch eines Heurigen fördern. In Loiben noch dazu. Sie hätte an seiner Stelle wenigstens ein Lokal in Krems ausgesucht. Bei den Kremser Wirten würde es nicht besonders gut ankommen, wenn die Partei, die sich die Förderung der Kremser Wirtschaft auf ihre Fahnen geheftet hatte, in Unterloiben fremdging. Aber sie wusste, dass es kaum einen Ort gab, der es mit dem Garten vom Knoll aufnehmen konnte. Bei den zweiundzwanzig Grad, die das Außenthermometer ihres Wagens anzeigte, war der Gastgarten einfach fantastisch. Schade nur, dass die Apfelbäume noch nicht blühten. Die Blüten der Apfelbäume fand sie zehnmal schöner als die der Marillen.
Nach vergeblicher Suche musste es also der Behindertenparkplatz unmittelbar vor dem Eingang sein. Bestimmt würden sich viele Heurigenbesucher deswegen ihr Maul zerreißen. Hilde Dahlmeyer presste ihren feuerroten Mercedes SLK in die enge Nische. Der Platz war so knapp, dass ihr Auto trotz mehrerer Einparkversuche in die Fahrbahn hineinragte. Verkehrsbehindernd und daher verboten. Beides kümmerte sie wenig. Die rote Farbe erkannte man bei Tageslicht gut. Und länger als zwei Stunden wollte sie sowieso nicht bleiben. Noch dazu war ihr Auto bei der Polizei bekannt. Da machte sie sich auch keine Sorgen.
Sie hörte im Autoradio noch Elvis und seinen Song »One night with you« zu Ende. Ihr Freund hatte es mehr mit Guns N’ Roses, aus denen sie sich wiederrum überhaupt nichts machte. Aber abgesehen davon war er Extraklasse. Spitze, wie nur ein Achtundzwanzigjähriger Spitze sein konnte.
Sie schloss das Hardtop ihres Wagens und überprüfte im Innenspiegel noch einmal ihr Make-up. Die Wimpern waren eine Spur zu stark getuscht, aber sonst sehr okay. Dafür war ihr Dirndl ausgesucht dezent. Der Rock reichte weit über ihre Knie. Mit einer Bluse, die auch nicht den kleinsten Einblick in ihr Dekolleté gestattete. Auf den ersten Blick sah alles betont einfach aus. Trotzdem war sie sicher, dass manche der weiblichen Gäste an dem Spalier der Tische, durch das sie gleich hindurchgehen würde, die Raffinesse des Schnitts und die Qualität der verwendeten Materialien sofort erkannten. Der Stoff war dunkelblau mit weißen Blümchen, noch dazu mit Wollborderie. Kenner wussten sofort, dass es sich dabei nur um ein Wachauerdirndl von Gexi Tostmann handeln konnte.
Die Eifersucht anderer Frauen war am heutigen Abend unbegründet. Die Männer der Stadtpartei lagen alle weit unter ihrer Reizschwelle. Wie beim Kegelklub, dessen Mitglied sie auf Wunsch des Parteiobmanns geworden war. Zudem war seit Neuestem ebenfalls vom Zusammenrücken die Rede. Dort wollte sich dieser unselige Rechnungsprüfer allerdings nicht mit einem Heurigen begnügen. Er war auf die Idee verfallen, die Verbrüderung durch einen gemeinsamen Saunabesuch zu fördern. Sie war alles andere als ein Kind von Traurigkeit, aber sie hatte sich angewöhnt, an den Kegelabenden nur mehr lange Hosen und XL-Pullover zu tragen. Was allerdings diesen Herrn Frisch nicht daran hinderte, schon zu sabbern, wenn er sie nur von weitem sah. Wäre er nicht bei der Polizei gewesen, hätte sie ihn schon längst zur Rede gestellt. Einen wohlgesinnten Revierinspektor konnte man allerdings immer brauchen.
Sie griff in ihren Kittelsack. Ein Taschentuch war da. Der BH, der fast so eng geschnitten war wie ihr Auto, zwickte beim Aussteigen. So diskret wie es nur ging, rückte sie ihn zurecht. Als sie den sechs Monate alten Mercedes abschließen wollte, fiel ihr Blick auf einen Mann, der etwas aus einem Wagen zu holen schien. Er war ihr in den letzten Jahren schon ein paar Mal über den Weg gelaufen und irgendwie bekannt vorgekommen, ohne dass sie gewusst hätte, wohin sie ihn zuordnen sollte. Sie hatte ihn allerdings mit mehr Haaren in Erinnerung. Die beginnende Glatze passte ihm gar nicht schlecht, denn er besaß einen schön geformten Kopf.
Als sie endlich den Gastgarten betrat, wusste sie plötzlich, woher sie ihn kannte.
5. April, 16:10 Uhr
Gerhard Malzacher dachte schon den ganzen Tag an den neuen Polizeidirektor. Mit so wenig Substanz eine Pressekonferenz bestreiten zu wollen, dazu gehörte entweder eine maßlose Selbstüberschätzung oder ein völliger Mangel an Urteilsvermögen. Wahrscheinlich kam beides zusammen. Der Neue würde aber nicht die geringsten Hemmungen haben, einen Misserfolg auf seine Mitarbeiter abzuwälzen. Davon war Spencer überzeugt. Er hatte sich über Marbolt erkundigt, nachdem bekannt geworden war, dass er die niederösterreichische Polizei übernehmen würde. Das war für ihn nicht schwer gewesen, da er viele Leute im Apparat der Bundespolizeidirektion kannte. Doris hatte gestern noch sehr freundlich über ihn gesprochen, aber selbst ohne ihre unverhohlene Schadenfreude heute früh hatte er erkannt, dass hinter ihrer scheinbaren Gelassenheit eine unbehagliche Reserviertheit lag.
Er fand das eigenartig. Sie war ihm in fast allen Belangen überlegen: Auftreten, Intelligenz, Spürnase, Argumentationsstärke, alles top. Und dennoch verspürte er mehr denn je in sich den Beschützerinstinkt, den er schon gefühlt hatte, als sie zur Leiterin der Abteilung bestellt worden war. Die Kollegenschaft war damals geteilter Meinung gewesen. Es gab nicht wenige, die der Auffassung waren, er hätte sich die Beförderung verdient. Zumal er auch wesentlich dienstälter war. Aber er hatte es besser gewusst. Außerdem war sein Ehrgeiz eher unterentwickelt. Er wollte gar nicht in der ersten Reihe stehen. Es hatte auch bei seiner privaten Leidenschaft, der Schiedsrichterei, nie für weit oben gereicht. Die meisten seiner Schiedsrichterkollegen, mit denen er begonnen hatte, träumten bereits im ersten Lehrgang davon, einmal ein Finale der Champions League zu pfeifen. Diese Träume hatten sich natürlich im Lauf der Jahre alle in Schall und Rauch aufgelöst.
Er war von Anfang an mit der Landesliga zufrieden gewesen. Er hatte sich dort als Referee einen Namen gemacht, der für zwei Eigenschaften besonders bekannt war: für seine Lauffaulheit und für seine Autorität, die er auf dem Platz ausstrahlte.
Als er sich gerade die Frage stellte, wie jemand mit seiner Ehefrau so viel Pech und mit seiner Chefin so viel Glück haben konnte, klopfte es. Auf sein »Herein« trat derselbe Mitarbeiter ein, der ihn gestern bei seinem Telefonat mit dem Chef der Schiedsrichterbesetzungskommission gestört hatte.
»Du willst wohl wissen, ob ich schon wieder wenig dienstlich telefoniere?«
»Klar. Weil ich unbedingt versetzt werden möchte. Aber ganz im Ernst, draußen steht ein Herr Nimmervoll. Er möchte mit dir reden.«
Mit einem Schwung, der den Mitarbeiter sichtlich überraschte, stand Spencer auf und ging zur Tür. »Na, dann sollten wir den Herrn Nimmervoll nicht warten lassen.« Er machte die Tür auf und rief: »Nur herein in die gute Stube, Herr Nimmervoll. Was verschafft mir das Vergnügen?«
Der Winzer aus Weißenkirchen trat mit einem Karton ein, den er mit beiden Händen hielt, und dessen Inhalt Malzacher gleich erkannte: drei Bouteillen.
»Das kann doch nicht wahr sein. Und deshalb sind Sie extra von Weißenkirchen nach St. Pölten gekommen?« Er wies auf den Sessel, dessen Sitzfläche seine Chefin am Vormittag gesäubert hatte. »Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, dass ich das eigentlich nicht annehmen darf. Mehr als eine Flasche ist uns verboten.« Er sah das enttäuschte Gesicht seines Gastes. »Aber ich weiß natürlich einen Ausweg. Eine Flasche ist für mich. Eine für meine Chefin. Und für die dritte wird sich schon noch jemand finden.«
»Ich habe mir schon in meinem Weingarten gedacht, dass Sie einer von den ganz Cleveren sind. Im Unterschied zu diesem Revierinspektor aus Krems. Ich sage Ihnen, der hat sich aufgeführt, als ob er Sherlock Holmes persönlich wäre.«
Malzacher grinste übers ganze Gesicht. »Vielleicht ist er das auch. Nur haben es seine Kremser Vorgesetzten noch nicht gemerkt.«
Jetzt lachte auch der Weinhauer. Das Lachen war so herzhaft, dass Malzacher einen Goldzahn links unten erkennen konnte. Max Nimmervoll brach sein Lachen abrupt ab. »Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich aber nicht nur wegen meines Urgesteinsrieslings gekommen.«
»Wo brennts denn? Sagen Sie bloß, dass Ihr Sohn noch ein Skelett gefunden hat. Auf einer anderen Terrasse.«
Max Nimmervoll schien erleichtert. »Das nicht. Er hat nur beim Graben des Lochs einen kleinen roten Würfel gefunden, wie man ihn beim ›Mensch, ärgere dich nicht‹ verwendet. Und ihn eingesteckt. Zu seiner Entschuldigung muss ich sagen, dass er da das Skelett noch nicht entdeckt hatte. Und dann hat er in der Aufregung vergessen, mir den Würfel zu geben. Es ist mir trotzdem sehr peinlich. Er hat ihn mir erst heute beim Mittagessen gezeigt. Zuerst habe ich gemeint, wir schmeißen den Würfel einfach weg.«
Malzacher unterbrach ihn. »Das war schon sehr gescheit von Ihnen, dass Sie das nicht getan haben. Obwohl er wahrscheinlich völlig harmlos ist.«
»Ich habe Ihre Leute gesehen, wie sie das Erdreich gesiebt haben. Da habe ich mir gedacht, ich bringe Ihnen den Würfel besser.« Er griff in seine rechte Jackentasche und fischte einen kleinen Würfel heraus, dessen rote Farbe wie auch das Weiß seiner Augenzahlen kaum mehr zu erkennen war.
Malzacher nahm den Würfel und beäugte ihn von allen Seiten.
»Jedenfalls danke ich Ihnen. Wo, sagen Sie, hat Ihr Sohn den Würfel gefunden?«
»In der Grube, die er für den toten Hund seiner Schwester ausgeschaufelt hat. Er schätzt, in ungefähr vierzig Zentimetern Tiefe.«
Mindestens eine Minute herrschte Stille im Raum, die nur von einem leisen Räuspern des Kriminalbeamten unterbrochen wurde.
»Wird höchstwahrscheinlich wirklich nichts zu bedeuten haben. Aber es ist auf alle Fälle interessanter als alles, was die Spurensicherung bis jetzt entdeckt hat. Ich glaube, ich werde heute Abend ein Glas auf Ihr Wohl und das Ihres Sohnes trinken.«
»Aber den Wein vorher unbedingt gut einkühlen. Die ideale Trinktemperatur liegt bei zwölf Grad.«
5. April, 19:15 Uhr
Eigenartig, dass er so selten an den Tag seiner Befreiung dachte. Wäre er nicht einmal im Jahr auf den Friedhof gegangen, wer weiß, ob er ihn nicht vollständig verdrängt hätte. Das wäre allerdings sehr bedauerlich gewesen, weil er an diesem Tag erkannt hatte, dass er über eine Eigenschaft verfügte, die er nie bei sich vermutet hatte. Er bezweifelte, ob sie ihm schon in die Wiege gelegt worden war. Nicht bei diesen Eltern. Wäre sie angeboren gewesen, hätte er sicher schon viel früher von ihr Gebrauch gemacht.
Wahrscheinlich war er einer von den Menschen, bei denen es eine Weile dauert, bis sie sich ihrer Stärken bewusst werden. Er hatte schon in der Volksschule gewusst, dass er überdurchschnittlich intelligent war. Da hätte es der ständigen Bestätigung durch seine Mutter gar nicht bedurft. Aber es war ihm auch schon damals bewusst gewesen, dass er ängstlich und feig war. Und unsportlich noch dazu. Er wäre gern intelligent und sportlich gewesen, aber diese Kombination von Talenten war ihm versagt geblieben. Dafür hatte er am Tag der Befreiung eine andere Kombination von Talenten an sich entdeckt. Intelligenz und Kaltblütigkeit. Er war sich dieser Fähigkeit zu spät bewusst geworden. Hätte er früher von diesem besonderen Talent gewusst, dann wäre vieles anders gekommen. Er hätte schon viel früher eingreifen können.
Die Geschichte vor fast fünfundzwanzig Jahren hatte nach einer Demonstration seines kalten Blutes geradezu geschrien. Wie oft hatte er sich als Kind von seinen Eltern den Satz vom Krug, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, anhören müssen. An dem Tag vor einem knappen Vierteljahrhundert war der Krug nicht nur gebrochen. Er war geradezu geborsten.
Vor zwanzig Minuten war er auf der Rückfahrt von Linz bei Melk über die Donaubrücke gefahren. Ab Spitz hätte er bis Krems im Schlaf fahren können, weil er diesen Streckenabschnitt bestimmt schon mehrere hundert Male gefahren war. Aber an Dürnstein im Schlaf vorbeizufahren, wäre eine Schande. Er konnte sich am Anblick der Stiftskirche von Dürnstein, wenn sie nach der leichten Rechtskurve plötzlich vor dem Autofahrer auftauchte, nie sattsehen. Dabei mochte er gerade diesen Abschnitt der Wachaustraße überhaupt nicht. Hatte auch mit dem denkwürdigen Tag zu tun. Wobei er doch stolz auf sich sein konnte. Hier hatte er den ultimativen Beweis für seine neue Stärke erbracht. Es war geradezu ein Triumph an Kaltblütigkeit gewesen.
Heute früh war er mit glasklarem und völlig schmerzfreiem Kopf aufgestanden. Der gestrige Friedhofsbesuch schien ihm sehr gutgetan zu haben. Schon seit Jahrzehnten war er ein erfolgreiches Heilmittel.
Aber zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren brachte er es heute über sich, seinen Kopf an dem Streckenabschnitt, den er gerade passierte, nach links zu wenden. Er war sich nicht mal sicher, ob es tatsächlich die richtige Stelle war. Ein Vierteljahrhundert ist eine lange Zeit. Aber er, der in diesen vielen langen Jahren seinen Kopf an diesem Streckenabschnitt geradezu krampfhaft auf die Fahrbahn gerichtet und ihm nicht einmal einen Zentimeter Bewegung nach links gestattet hatte, wendete diesen Kopf nun mehr als zehn Zentimeter nach links. Ohne jede Aufregung und ohne die kleinsten Anflüge von schlechtem Gewissen.
Da er immer ehrlich zu sich selbst gewesen war, musste er zugeben, dass er einen Anflug von Befangenheit spürte. Befangenheit ja, aber keine Aufregung. Wie ruhig die Terrassen doch dalagen. Nirgendwo ein hektisches Treiben, wie man es spätestens ab Anfang September überall feststellen konnte. Die Weinstöcke noch ohne Spuren von Weinlaub. Das Grün der Gräser im fahlen Licht der Frühlingssonne war mehr zu erahnen als zu sehen. Er glaubte auch, ein paar Weinstöcke zu erkennen, die mit einem roten Plastikband oder etwas Ähnlichem eingefriedet waren. Wahrscheinlich waren sie zum Ausgraben freigegeben worden. Aus Altersgründen oder aus irgendeinem anderen Grund, das interessierte ihn nicht. Sein Interesse am Weinbau hatte sich immer in Grenzen gehalten.
War dieser bewusste Blick auf die Weintrassen ein Beweis dafür, dass er dabei war, den Tag der Befreiung ganz aus seinem Bewusstsein zu verdrängen? Ging gewissermaßen eine Ära zu Ende? Schwer zu sagen. Vielleicht würde er nächsten April gar keinen Antrieb mehr verspüren, den Friedhof zu besuchen. Aber bis nächsten April würde noch viel Wasser die Donau hinabfließen.
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