Kitabı oku: «Generation Corona», sayfa 2

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Überhaupt scheint heute jeder Protest nur mehr dann legitim und bemerkenswert zu sein, wenn gekränkte, beleidigte, verletzte, zutiefst in ihrer Ehre herabgewürdigte Menschen und Menschengruppen aufmarschieren. Und diese protestierenden Opfergemeinschaften empfinden sich zudem selbst nicht als materielle Macht, die an ihre eigene Stärke glaubt und ihr massives quantitatives und qualitatives Gewicht selbstbewusst in die Auseinandersetzung mit den Herrschenden in die Waagschale wirft, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern. Vielmehr sind die neuen Jugendbewegungen immer appellierende Bewegungen, die nicht fordern, sondern bitten und betteln. Die Folge ist, dass die führenden Exponent:innen der Bewegungen überall als Bittsteller:innen vorsprechen und ihre Anliegen, wie immer konstruktiv, vortragen. Denn man empfindet sich, selbst wenn hinter einem 100.000 Leute vor der Tür eines Ministeriums stehen, nicht als mächtig und stark, sondern sieht sich als Abordnung einer Gruppe von immer wieder ans Kreuz genagelten Gekränkten und Beleidigten.

Dieses Opferselbstverständnis führt dazu, dass niemals Aktionsformen entstehen, in denen junge Menschen im Bewusstsein ihrer Macht und Stärke im Kollektiv souverän und selbstbewusst auftreten. Gerne verstecken sich die Angehörigen der postmodernen Opferbewegungen in der Masse, und wenn sie in den sozialen Netzwerken auftreten, dann selten mit offenem Visier, sondern gut verborgen hinter der Anonymität eines Pseudonyms.

Das wichtigste Kriterium für den Erfolg der alten Arbeiterbewegung war, dass sie sich selbstbewusst als die aufsteigende Klasse gesehen hat, mit der die neue Zeit zieht. Niemals war die Arbeiterbewegung eine Opferbewegung. Bis zum letzten kleinen Gewerkschaftsfunktionär waren dort alle davon überzeugt, dass, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt, am Ende der Sieg der Arbeiter:innen stehen wird, weil er eine historische Notwendigkeit ist. Genauso wie der Sturz der herrschenden Klassen, der Eliten des alten Systems, als die notwendige Voraussetzung für einen Neubeginn gesehen wurde.

Die neuen Opferbewegungen haben nichts von diesem Selbstbewusstsein der alten Arbeiterbewegung. Ihnen fehlt auch der Sicherheit gebende verlässliche Zusammenhalt innerhalb der Bewegung. Eine Ansammlung von Individualist:innen kann keine stabile Gemeinschaft sein, in der sich die Einzelnen aufgehoben und getragen fühlen. Und so besteht die Kernstrategie des Handelns dieser Pseudobewegungen immer darin, sich mit den Herrschenden zu verbünden, um die eigenen Ziele zu erreichen. Darin gleichen sie den Nerds in der Schule, die nicht gegen den Lehrer aufbegehren, sondern im Gegenteil das Bündnis mit ihm suchen. Immer nur die Schwachen sind es, die die Starken dafür zu benutzen versuchen, dass sie stellvertretend für sie Auseinandersetzungen führen. Die, die sich stark fühlen, erledigen das selbst.

Und so suchen die neuen Opferbewegungen das Bündnis mit dem digitalen Kapital, mit den Herrschenden der Politik, mit den Gewerkschaften, den Generaldirektoren der internationalen Monopole, mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, mit allen denen, die die Eigenschaften haben, die ihnen fehlen, Selbstvertrauen, Rückgrat und Stärke.

Ein anderes Beispiel: Die Türk:innen, auch wenn sie Österreicher:innen oder Deutsche geworden sind, stehen mit Begeisterung zu ihrem Herkunftsland, und bei jeder Gelegenheit packen sie die türkische Fahne aus, während den mitteleuropäischen Bildungsbürger:innen Patriotismus und Nationalstolz als antiquiert gelten, den Linken unter ihnen sogar als politisch rechtsstehend, wenn nicht gar als rechtsextrem. Was vor allem den bildungsnahen Schichten bei Strafe der Ächtung und Ausschließung aus der Gemeinschaft der zivilisierten Menschheit verboten ist, bewundern sie insgeheim an den Migrant:innen, eine Art naturwüchsigen Nationalismus, der nicht einmal im Traum auf die Idee kommen würde, seine patriotischen Gefühle kritisch zu reflektieren. Wenn man sich fast nichts mehr spontan und mit dem Gefühl der Selbstverständlichkeit zu tun erlaubt, dann beginnt man jene insgeheim zu bewundern, die sich ein Leben ohne die ständige Kontrolle durch ein grausames, normopathisches, kollektives Über-Ich erlauben.

Die selbsterdrückende Reflexivität, die alles unter Verdacht stellt, was bisher selbstverständlich gedacht oder gesagt wurde, quält vor allem die bildungsnahen Schichten der Generation Corona, die Jugendlichen, die aus dem obersten Gesellschaftsdrittel kommen. Die Jugendlichen aus der Arbeiterund Mittelklasse haben einen weit weniger kritischen Zugang zum kulturellen Erbe, sowohl was überlieferte Lebensweisheiten, Weltbilder und Ideologien als auch ästhetische Formen und traditionelle Sprechakte betrifft. Im Gegenteil, sie finden die neuen Sprachnormen der linken Bourgeoisie grotesk, wenn sie zum Beispiel davon hören, dass man heute nicht mehr das Wort Muttermilch verwenden darf und stattdessen von der „Milch des Menschen“ zu sprechen hat, damit man die nicht kränkt, die von der weiblichen Elternrolle in die männliche gewechselt sind und ihr Kind stillen.

Das Verhalten von Schüler:innen und Studierenden auf ihrer Jagd nach ECTS-Punkten erinnert frappant an das Investitionsverhalten der Start-up-Kultur. Den Investor:innen ist es völlig egal, womit die Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, ihr Geld verdienen. Hauptsache, sie verdienen es üppig und werfen hohe Renditen ab. Ist die Plattform, die Partnerschaften oder geile kurzfristige Dates vermittelt, genug wert, wird sie verkauft, um dann das Geld vielleicht in ein Medizin-Technik-Unternehmen zu investieren. Wichtig ist allein die Kohle, unwichtig, womit man sie verdient. Der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdaire MacIntyre würde sagen, hier wird nur mehr nach dem äußeren Gut entschieden, das inhärente Gute, die eigentliche Sache, ist völlig neutralisiert (vgl. MacIntyre 1995).

Interessant ist, dass auch viele Angehörige der Generation Corona ihre Studien- und Berufswahl nach der neoliberalen Logik treffen. Es wird nicht das Fach gewählt, für das man sich am meisten interessiert, sondern jenes, in dem die späteren Verdienstmöglichkeiten am höchsten sind. Ein Trend, den man jetzt auch schon unter Auszubildenden finden kann, wie Berufsberater:innen erzählen. Begeistert man Schüler:innen zum Beispiel für einen Lehrberuf im Gesundheitswesen, so schwenken sie, nachdem man ihnen einen Überblick über den Monatsverdienst aller Ausbildungsberufe gegeben hat, auf die lukrativeren Branchen um. Die Logik des neoliberalen Materialismus hat alle Schichten und Milieus der Gesellschaft ergriffen. Es zeigt sich, dass die von Gilles Deleuze schon in den 1980er Jahren getroffene Feststellung zutrifft, dass der Neoliberalismus wie ein Gas funktioniert, das in alle Poren der Gesellschaft eindringt und binnen kürzester Zeit allen Institutionen, von der Familie über die Politik bis zu den kommunalen Einrichtungen, seine Prinzipien aufzwingt (vgl. Heinzlmaier 2013).

Der Neoliberalismus „geht viral“, wie man heute holprig sagt, und verhält sich wie das gefürchtete Corona-Virus. Wenn zum Beispiel ein Lehrer vom neoliberalen Virus befallen ist und die persuasiven Fähigkeiten zum „Superspreading“ besitzt, so kann er in einem Schuljahr hunderte Schüler:innen anstecken. In der Regel ist bei allen Befallenen der Krankheitsverlauf ein schwerer. Sie verlieren völlig den Respekt vor humanistischen Werten, Traditionen, Kulturgütern, Gemeinschaftseinrichtungen, sozialen Initiativen. Was für sie zählt, ist am Ende immer nur der individuelle Erfolg, das persönliche Image, das Einkommen, der demonstrative Konsum.

Die postmoderne Start-up-Kultur, in der man, aus Mangel an kultureller und humanistischer Bildung, über „schöpferische Zerstörung“ und „Disruption“ vor sich hin salbadert, diese hohle markttotalitäre Gesinnungsgemeinschaft, auch sie ist ein Teil der Generation Corona. An ihr zeigt sich, dass das allgemeine Gerede über „die Jugend“ völlig verfehlt ist. Auch die pathetische Rede von der Jugend, „die unsere Zukunft ist“, liegt weit daneben. Mit der Start-up-Kultur sehen wir einen veränderungsaggressiven Teil des Jugendsegments, der nicht unsere Zukunft ist, sondern unser Untergang, weil er der Gesellschaft alles das entzieht, was eine Zivilisation ausmacht: Solidarität, Toleranz, soziale Empathie, das Streben nach Gerechtigkeit, den Kampf gegen soziale Ungleichheit und den Respekt vor dem kulturellen Erbe, das von den Vorfahr:innen weitergegeben wurde. Wir haben heute zurecht Angst vor dem Corona-Virus. Aber zu unserem Glück gibt es dagegen eine Impfung. Ein Gegenmittel, um das Virus des Neoliberalismus zu stoppen, ist noch nicht gefunden.

Das wichtigste und bedeutendste Projekt, dass jetzt in den Schulen und auf den Hochschulen läuft, ist das der Entpolitisierung und Entdemokratisierung von Forschung und Lehre. Schulen und Universitäten werden gerade zu Lernfabriken umgebaut, in denen das neoliberale Denken unumschränkt herrscht. Es dominiert auch in den auf den ersten Blick gesellschaftskritisch erscheinenden Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Diese werden von der geschickt getarnten Variante des Neoliberalismus gelenkt, dem progressiven Neoliberalismus, den wir bereits anhand des Beispiels Amazon kennengelernt haben.

Nach der Ideologie des progressiven Neoliberalismus darf die universitäre Lehre und Forschung zwar links und progressiv sein, aber nur in Themenbereichen, die die wirtschaftlichen Grundlagen des herrschenden Systems nicht kritisch infrage stellen. So dürfen Schüler:innen, Studierende und Hochschullehrer:innen sich gerne gegen den Klimawandel, den grassierenden Rassismus und Sexismus und einzelne Facetten des Postkolonialismus engagieren, weniger gern gesehen wird aber, wenn sie gegen das ausbeuterische Großkapital, die hemmungslos gierigen Börsenspiele des Finanzkapitals oder gar die arbeitnehmer:innen- und gewerkschaftsfeindlichen Praktiken des digitalen Kapitals und großer Handelsketten, Mobilitätsanbieter und Lieferdienste auftreten.

Die soziale Ungleichheit und das immer größer werdende Machtgefälle zwischen den reichen und superreichen Tycoons aus dem Silicon Valley, den Finanz- und Start-up-Investoren, den Medien- und Industriemagnaten und den organisch mit ihnen verbundenen Beratungsunternehmen wird geflissentlich von der progressiv-neoliberalen Universitätselite nicht thematisiert, könnte man doch sonst das eine oder andere gewichtige Drittmittelprojekt verlieren. Denn das Finanz- und Investmentkapital kann sich heute alles und jede:n kaufen, wie immer es will, sind doch in Zeiten der Überakkumulation des Kapitals mehr liquide Mittel da als lukrative Investitionsmöglichkeiten.

Der Neoliberalismus ist deshalb so gefährlich, weil er die Eigenschaft der Wandelbarkeit des Baldanders besitzt, einer Figur aus dem Simplicissimus von Grimmelshausen. Der Baldanders kann jede ihm beliebige Form annehmen. Die eines Menschen, einer Sau, einer Bratwurst, eines Kleefeldes, eines Kuhfladens, einer Blume, eines Zweiges, eines Wandteppichs und vieler anderer Wesen und Dinge. Die Abbildung des Baldanders zeigt eine Momentaufnahme des sich in ständiger Transformation befindlichen Wandelwesens. Die abgebildete Gestalt trägt den Kopf eines Satyrs, hat den Oberkörper und die Arme eines Menschen, die Flügel eines Vogels und den Schwanz eines Fisches.

Ebenso verhält sich das neoliberale Kapital. Zumindest seine intelligenten Teile führen keine ideologischen Auseinandersetzungen mehr mit politischen Gegner:innen, entziehen sich der für sie unproduktiven ideologischen Debatte zwischen Links und Rechts. Anstelle dessen tritt man entweder gleich selbst in der Rolle des linken Kritikers auf, siehe das flüchtlingsfreundliche Inserat von Amazon in der FAZ, oder man kauft sich Symbolfiguren der Linken ein.

In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass man einen grünen oder sozialdemokratischen Spitzenpolitiker engagiert, wie das in Deutschland mit Joschka Fischer geschah, der nach seinem Ausscheiden aus der Politik als Berater von Siemens, BMW oder RWE auftrat, alles Konzerne, deren Agieren nicht unbedingt auf den ersten Blick als kompatibel mit grüner Wachstumskritik und Energiepolitik erscheint.

Oder Gerhard Schröder, der heute Aufsichtsratschef des russischen Energiekonzerns Rosneft ist. Die frühere Vorsitzende der österreichischen Grünen Eva Glawischnig heuerte gleich bei einem der größten Glücksspielkonzerne Europas, der Novomatic, an, während sich fast gleichzeitig ihre Partei stolz dafür selbst auf die Schulter klopfte, dass sie gemeinsam mit den Sozialdemokrat:innen das kleine Glücksspiel in Wien abgeschafft hatte und so dafür sorgte, dass sämtliche Novomatic-Spielhöllen zusperren mussten.

Aber auch ideologisch zeigen sich die internationalen Konzerne und Monopole wandlungsfähig und vielgestaltig, wenn es um ihre Profitinteressen geht. Gerne beteiligt man sich an Initiativen gegen Rassismus, Sexismus und Neokolonialismus, weil man so ein liberales, tolerantes und weltläufiges Image aufbauen kann, das die „Performance“ der Marke verbessert, linksliberale Investor:innen und grüne Politiker:innen gewogener macht und sich damit so manche Tür zu den äußerst rentablen Public-Privat-Partnership-Projekten leichter öffnet.

Das antisexistische und antirassistische Engagement kommt darüber hinaus auch noch überwiegend den Angehörigen der Elite zugute, den Leuten aus dem oberen Gesellschaftsdrittel, denn von dort kommen die rassistisch oder sexistisch Benachteiligten, die dann in Vorstände, Aufsichtsräte oder andere Spitzenpositionen der Wirtschaft aufsteigen dürfen oder begehrte Professuren an Universitäten und Leitungspositionen in Exzellenzclustern bekommen. Betrachtet man nämlich die Nutznießer:innen der Förderprogramme für benachteiligte Gruppen, so sind viele von ihnen tatsächlich mehrfachbenachteiligt, aber weisen kaum einen Mangel an ökonomischem und Bildungskapital auf. Förderprogramme für Benachteiligte dieser Art dienen nicht selten der Bevorzugung von Botschafterkindern mit Universitätsabschluss oder Kindern aus Künstler:innen- und Hochschullehrer:innen-Familien.

Die Frauen, PoC und Migrant:innen, die bei Lieferdiensten und Gebäudereinigungsunternehmen arbeiten müssen und dort einem rigiden Kontrollsystem ausgesetzt sind, von den Vorarbeiter:innen hemmungslos angetrieben werden, Mindestlöhne beziehen und sich nicht gewerkschaftlich organisieren dürfen, weil die Betriebsleitung das nicht will, profitieren von der „progressiv-neoliberalen“ Politik wenig. Sie bleiben weiter „doppelt freie“ Lohnarbeiter:innen. Das heißt, sie dürfen in Ausübung ihrer bürgerlichen Freiheitsrechte zwar auf Klimademonstrationen gehen – natürlich nur, wenn sie sich Urlaub nehmen –, gleichzeitig müssen sie, weil sie über keine Produktionsmittel verfügen, ihre Arbeitskraft als Lohnsklav:innen an Tesla, Google oder Lieferando verkaufen. Zum Kampf gegen das erniedrigende Lohnarbeiter:innenschicksal der Unterklassen haben sich in den letzten Jahren keine Massendemonstrationen ereignet. Offenbar ist die Solidarität der führenden Aktivist:innen der Klima-, Frauen- und Antirassismus-Szene mit den klassenverwandten Eignern und Managern des digitalen und des Finanzkapitals größer als ihre Verbundenheit mit den ausgebeuteten Lohnsklav:innen.

Eine interessante Konstellation. Die progressiv-neoliberale Jugend des Bildungsbürgertums hält herzzerreißende Demonstrationen ab, um die gesamte Menschheit vor der Klimakatastrophe zu retten, ordert aber weiter bei Amazon und Zalando Bücher und Schuhe und bestellt sich die Pizza beim Lieferservice, der die Fahrer:innen bei Regen und Kälte auf den von ihnen selbst gestellten Fahrrädern für einen Stundensatz von 5 Euro durch die Stadt fahren lässt, gehetzt von einer Software, die ihre Effizienz misst und die Schnellen belohnt und häufiger zum Zug kommen lässt und mit besseren Touren bedient als die langsamen Versager:innen. Solidarität unter den Fahrer:innen, die dem ausbeuterischen Arbeitgeber gefährlich werden könnte, kann unter solchen Bedingungen natürlich kaum entstehen.

Häufig zeigt sich, dass Moralist:innen und Weltretter:innen in so großen Dimensionen, pittoresken Vorstellungen und wirklichkeitsfremden Abstraktionen denken, dass sie die Lebensrealitäten der ameisenkleinen Massenmenschen, die auf Gottes Erdboden notleidend und armselig dahinkriechen, nicht mehr wahrnehmen können.

VON DER UNMÖGLICHEN
KUNST, DAUERHAFT
GEGEN DIE ABSTEIGENDE
ROLLTREPPE ANZULAUFEN

Debatten bilden. Man lernt in ihnen, die eigenen Standpunkte zu schärfen, die Meinungen der anderen kritisch zu hinterfragen und wirksame Argumente zu formen. In Zeiten der virtuellen Schulen und Universitäten gibt es im Unterricht kaum noch kontroverse Standpunkte oder Meinungen. Der Diskurs wurde ersetzt durch „objektive“ Lehrinhalte, die ex cathedra verkündet und politisch neutral dargestellt werden und nicht diskutierbar sind. Die Schüler:innen und Studierenden haben das Gebotene zu absorbieren und bei Prüfungen routiniert wiederzugeben. So werden Gehirne gewaschen und gewissenlose Ja-Sager:innen produziert.

Ein Beispiel dazu: Die Dachverbände der Wirtschaftstreibenden in Österreich, Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung, verlangen seit langer Zeit, dass wirtschaftliche Zusammenhänge in den Schulen vermittelt werden, und auch eine große Mehrheit aus der Generation Corona wünscht sich das. Nur ist man bei den Wirtschaftsverbänden der Auffassung, dass die Darstellung des herrschenden Wirtschaftssystems ausschließlich positiv und befürwortend zu erfolgen hat. Bei der Aufklärung über die Wirtschaft geht es allein darum, dass Kinder und Jugendliche das bestehende ökonomische System zustimmend verstehen und am Ende bejahen. Kritische Positionen, die auch die negativen und zerstörerischen Auswirkungen und Folgen des neoliberalen Kapitalismus aufzeigen und Schüler:innen und Studierenden vermitteln, dass Menschengemachtes auch von Menschen verändert werden kann, sind nicht erwünscht. Mit dem Kapitalismus hat die Menschheit den Höhepunkt der Schöpfung erreicht, von dem aus es weder ein Zurück noch ein Nach-Vorne gibt. Die Geschichte hat sich, zumindest was das Wirtschaften betrifft, vollendet.

Generell dürfen junge Menschen im Rahmen von Schulen und Universitäten nur kritisch sein, solange sie sich im Rahmen der herrschenden Systemlogik bewegen. Kritik ist zudem nur dann erlaubt, wenn sie konstruktiv vorgetragen wird. Konstruktiv ist nur ein anderes Wort für konformistisch. Sie wird dann akzeptiert, wenn sie sanftmütig, achtsam und in höflicher Zurückhaltung auftritt. Wer zu forsch ans Werk geht, wird, ehe er sich versieht, in die Rolle des Radikalen oder Verschwörungstheoretikers gerückt.

Das Wesen der zeitgenössischen Bildung besteht darin, Wissen zu vermitteln, das praktischen Nutzen im Sinne der kapitalistischen Produktions- und Verwertungslogik hat. Der Nutzen des Wissens hat sich im täglichen Konkurrenzkampf für die Einzelnen als nützlich zu erweisen. In den Bildungseinrichtungen wird das Individuum „aufgerüstet“, um im Kampf aller gegen alle bessere Erfolgschancen zu haben.

In einer Gesellschaft, die sich im dauernden Kriegszustand befindet, ist es nicht verwunderlich, dass die von den Wirtschaftsvertreter:innen vorgeschlagenen Lehrinhalte voll sind mit kriegerischem Vokabular, insbesondere in Kursen über Verkauf und Marketing. Dort geht es um Marktanteile, die „erobert“ werden müssen, um Marktpositionen, die es gegen die „Angriffe“ der Mitbewerber:innen zu „verteidigen“ gilt, um schöpferische „Zerstörung“, disruptive Strategien, Guerilla Marketing, kurz, die Jugend soll an Schulen und Universitäten die Kampfrhetorik und die Kampftechniken des Neoliberalismus erlernen und internalisieren. Kampf und Wettbewerb sind heute die dominierenden Formen, in denen sich junge Menschen begegnen. Vor allem auf den Arbeitsmärkten werden sie durch selektive Ausleseverfahren gehetzt, in denen sie erfolgreich performen müssen, wollen sie den Einstieg in den Beruf schaffen.

Und selbst bei bester Vorbereitung auf die Wettkämpfe der Bewerbungsverfahren ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges sehr gering, weil die Corona-Jugend, geht es auch nur um eine einfache Assistent:innenstelle im Marketing einer Versicherung, mit zweihundert Mitbewerber:innen rechnen muss. Da kann man auch mit einem Hochschulabschluss nicht mehr punkten, außer man kann den Abschluss einer Eliteuniversität im Ausland nachweisen, denn der „normale“ Abschluss ist uniforme Massenware, gleichgemacht durch den Ungeist des Bologna-Prozesses.

Seitdem im Zuge dieser neoliberalen Ausbildungsinitiative der Europäischen Union das gesamte Universitätssystem marktwirtschaftlich formiert wurde, indem die Studiengänge europaweit vereinheitlicht und durch das System der ECTS-Punkte in Wert gesetzt und somit in eine quantitativ vergleichbare Form gebracht wurden, wird auch in den Bewerbungsverfahren nur mehr gezählt, gerechnet und gerankt. Hat man seinen Abschluss zum Beispiel berufsbegleitend an einer Privatuniversität für den Studienbeitrag von 10.000 Euro erworben, so wird man in der Regel gleich zu Beginn des Bewerbungsverfahrens aussortiert, weil der teure Master oft nur die Hälfte der normüblichen ECTS-Punkte beinhaltet.

Danach werden die Notenschnitte verglichen, und wieder werden die weniger Erfolgreichen aussortiert. Die Übriggebliebenen werden in eine Rangreihe gebracht und diese wird von den Personalmanager:innen von unten nach oben abgearbeitet. Nachdem man jetzt nur mehr eine Masse von weitgehend identischer Bildungsware vor sich hat, geht es ab nun primär um „freiwillige“ Zusatzqualifikationen und das überzeugende „Performen“.

Wie in der einstigen DDR ist auch bei den Ausleseverfahren des neoliberalen Systems „gesellschaftliches Engagement“ ein relevantes Entscheidungskriterium und es enthüllt damit seinen autoritären Charakter. Denn das freiwillige Engagement wird zu einer informellen Verhaltensnorm erhoben, zu deren Erfüllung der Einzelne zwar nicht verpflichtet ist, er bekommt aber keinen guten Job, wenn er diesen „freiwilligen“ Dienst an der Gemeinschaft nicht ableistet. Für viele wird damit eine moralische Tat zu einer Pflichtübung, die man wie den Präsenzdienst bei der Bundeswehr ableistet, ohne Herz und Überzeugung. Man tut nur so als ob, um zu den für die Bewerbungsverfahren notwendigen Bestätigungen der ehrenamtlichen Tätigkeiten zu kommen. Wieder wird nur performt, Theater gespielt, wie es in einer „performativen Ökonomie“, in der der Leistungsverkauf wichtiger ist als die Leistungserbringung (vgl. Neckel 2008), tägliche Notwendigkeit ist.

Wer während seines Studiums nebenbei als Notfall-Sanitäter:in beim Roten Kreuz gearbeitet hat oder bei der Caritas als Flüchtlingsbetreuer:in tätig war, hat deutlich bessere Karten, genommen zu werden. Noch besser ist es aber, wenn man in den Ferien in Afrika als Tierpfleger:in in einem Nationalpark, in einer Kindereinrichtung im Amazonasgebiet oder in einer Krankenstation im Mangrovendschungel gearbeitet hat. Der Exotismus-Faktor spielt auch im Aufnahmeverfahren keine unwesentliche Rolle.

Am Ende bekommt den Job, wer eine atypische Studienkombination, zum Beispiel Jura und Ethnologie, einen langen Studienaufenthalt an einer amerikanischen Eliteuniversität, gesellschaftliches Engagement bei den Pfadfinder:innen oder dem Roten Kreuz nachweisen kann und den Habitus der gehobenen Karrieremilieus perfekt zu inszenieren versteht. Denn unsere Gesellschaft ist eine Theatergesellschaft, vor allem das obere Gesellschaftsdrittel eine Vereinigung von Hochstapler:innen, die Genies darin sind, gute Auftritte hinzulegen, die wenig substanziell, aber formal perfekt und so überzeugend sind wie das manipulative Nudging der Verhaltensökonom:innen.

Das System will den Untergang der Schwachen, denn wer zu wenig Leistungsvermögen, Durchsetzungsfähigkeit und performative Kompetenz hat, der muss vom Markt verschwinden, um für die Besseren Platz zu machen. Früher hat man es kreative Zerstörung genannt, heute spricht man von Disruption. Und wieder die Sprache des Krieges, der nur Gegner:innen und Feind:innen und anstelle von Geschäftsfreund:innen strategische Partner:innen kennt. Zusammen mit den strategischen Partner:innen werden die Marktgegner:innen zerstört, bis keine mehr übrig sind, und danach nehmen die strategischen Partner:innen sich gegenseitig auseinander.

Das ist die neoliberale ökonomische Logik, die an das Prinzip vom Überleben der Stärksten aus dem Sozialdarwinismus anschließt. Die ökonomische Strategie der Disruption ist der biologischen disruptiven Selektion verwandt, bei der die am häufigsten vorkommenden biologischen Formen von Parasiten oder ansteckenden Krankheiten hinweggerafft werden, während neue Ausprägungen, die sich den Verhältnissen besser angepasst haben, evolutionäre Vorteile besitzen und deshalb überleben. So wird ein Selektionsdruck erzeugt, der die Massenware aussortiert und die Individualist:innen mit außergewöhnlichen Merkmalen begünstigt. Die Besonderen können an die Spitze der Gesellschafts- und Berufshierarchie aufsteigen, alle anderen werden hinuntergedrückt in die Regionen der Hilfskräfte, Lastenträger:innen und Dienstbot:innen. Aus der exklusiven Welt der besseren Gesellschaft der Leistungsträger:innen werden sie verstoßen wie einst Adam und Eva vom Herrn aus dem Paradies. In unserer Zeit, in der Gott tot ist, ist der gestrenge Herr das Kapital.

Das Fazit der neoliberalen Geschichte ist: Wettbewerber:innen haben unter neoliberalen Bedingungen täglich unter Beweis zu stellen, dass sie zurecht ihren Ausbildungsoder Arbeitsplatz haben und das Geld, das sie bezahlt bekommen, auch tatsächlich verdienen. Kann der Beweis nicht mehr erbracht werden, dann wird disruptiv ausselektioniert.

Die jungen Menschen unserer Tage, die Angehörigen der Generation Corona, leben also in einer Gesellschaft, in der unausgesetzter Wettbewerb herrscht, in der der Alltag von permanenten Bewährungsproben geprägt ist und in der jede:r weiß, dass niemand auch nur ein paar Tage in seinen Bemühungen und Anstrengungen um Anerkennung und Wertschätzung nachlassen darf, weil sonst die eigene gesellschaftliche und berufliche Stellung gefährdet ist.

Die Aufgabe, die zu lösen ist, lautet wie folgt: Versuche außergewöhnlich und individuell zu sein, habe einen extravaganten Lebensstil, vermeide Kontakte zu Losern, arbeite täglich an deinem Sozialkapitalkonto, also sammle wichtige Kontakte, achte auf die Feind:innen, die überall lauern und die dich fertigmachen wollen, und sei dir im Klaren darüber, dass jedes Mittel erlaubt ist im Karrierekampf, aber wenn du gegen Normen, Regeln und Konventionen verstößt, dann lass dich nicht erwischen, weil sonst wird eine moralisierende Meute über dich herfallen und dich vernichten, und das, obwohl du in einer Gesellschaft lebst, in der die Moral keinen Pfifferling mehr wert ist.

Niemand darf auch nur vorübergehend ruhen, keine:r darf die eigene Aufmerksamkeit auch nur kurz vom Wesentlichen abwenden, dem täglichen Kampf um die Erhaltung oder die Eroberung von Positionen in einer hierarchisch geordneten Rangreihe. Denn alles wird heute „gerankt“. Ranking gibt es für Hotels, Pizzalieferservices, Friseur:innen, Roman-Autor:innen, Universitäten, Ärzt:innen, Krankenhäuser, Theater, darstellende Künstler:innen, für einfach alles, auch für Studierende der praxisorientieren Fachhochschulen und Privatuniversitäten.

Allein daran sieht man, dass der neoliberale Kapitalismus der große Gleichmacher ist, in dem er alles auf quantitativ messbare Werte reduziert, in der Regel den Geldwert. Wenn dieserart gemessen wird, kommt der weltweit agierenden Pizzakette mitunter mehr Wert zu als der ehrwürdigen Wiener Oper.

Denn der Neoliberalismus ist unempfindlich für ästhetische Werte. Er misst Erfolg in Dollar oder Euro. Wenn der internationale Pizzabäcker oder der Volksrocker Gabalier mehr Euro in die Kasse spülen, dann hat die Oper das Nachsehen und wird nachgereiht. Der ästhetische Wert von Elektra ist für den Neoliberalismus uninteressant, solange er sich nicht monetarisieren lässt. Wenn die Shows von Gabalier mehr Kohle einspielen als die Aufführungen der Zauberflöte, stehen diese im Ranking der Kultur-Events vor dem ideell so hoch bewerteten kulturellen Erbe der Klassik. Warum auch nicht?

Dass im Neoliberalismus ästhetische Werte für sich genommen irrelevant sind, zeigt auch der internationale Kunstmarkt. Ein österreichischer bildender Künstler erzählte mir dazu folgende Geschichte: Ein Hedgefonds hat einst auf einen Schwung viele seiner Bilder gekauft. Danach wurden diese Bilder in klimatisierten Räumen gut verpackt auf Lager gelegt. Kein Mensch hat diese Bilder je wieder zu sehen bekommen. Wichtig ist den Käufern nur der Wert, der für die Bilder am Kunstmarkt zu erlösen ist. In Augenschein wird also nicht mehr das Kunstwerk selbst, sondern lediglich die Entwicklung seines Preises genommen. Die Kunstwerke sind bis heute nicht mehr in der Öffentlichkeit auftaucht.

Vor einigen Jahren schon, als ich an einer deutschen Fachhochschule unterrichtete, beglückwünschte mich ein Kollege zu den Studierenden meines Seminars im kommenden Semester. „Super, du hast die Nummer 2, 3, 6, 9 und 11 des Studienlehrgangs in deinem Kurs.“ So erfuhr ich per Zufall, dass der ganze Studiengang „durchgerankt“ war. Das Ranking der Studierenden war „dynamisch“, das heißt, dass die Ergebnisse der permanenten Leistungskontrollen „zeitnah“, wie mir erklärt wurde, in das Bewertungssystem eingespeist wurden. Niemand konnte sich also auf seinen Lorbeeren ausruhen. Wie in der Formel 1 oder im Ski-Weltcup verlor man mit ein paar verpatzen „Prüfungen“ seinen Spitzenplatz und sank ins Mittelfeld ab, für das sich eigentlich niemand mehr so richtig interessiert. Fällt man ganz weit zurück, so findet man sich unter denen, die am Semesterende aus dem Lehrgang ausgeschlossen werden, wie der Fußballverein, der zu Meisterschaftsschluss am Ende der Tabelle steht und den Abstieg in die niedrigere Spielklasse antreten muss. Die niedrige Spielklasse ist für gescheiterte Studierende dann der Lieferdienst eines Pizzaservice oder ein Job als scheinselbständiger Fahrer bei Uber.

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