Kitabı oku: «Yester und Li»
Bernhard Kellermann
Yester und Li. Roman
Meiner Schwester Erika
Bernhard Kellermann
YESTER und LI
Die Geschichte einer Sehnsucht
I.
Ginstermann kam spät in der Nacht nach Hause. Es mochte zwei Uhr sein. Vielleicht auch drei Uhr. Vielleicht noch später. Er wußte es nicht. Langsam, ganz langsam war er durch die Straßen gewandert.
Über den Boden seines Zimmers war ein Schleier von Licht ausgebreitet, der leise zitterte, als er die Türe schloß. Der Mond schien durch die Vorhänge. Auf den Blechgesimsen pochte es, dumpf, in unregelmäßigen Zwischenräumen, wie ein Finger. Es sickerte, rieselte, die Tiefe schluckte. Der Schnee ging weg.
Ginstermann machte Licht. Es war ihm, als sei noch eben jemand im Zimmer gewesen, als sei er jetzt noch nicht allein. Auf dem Tische lagen seine Manuskripte verstreut, wie er sie am Abend verlassen hatte, die Kleidungsstücke auf den Stühlen, das Kissen auf der Ottomane in der gleichen Lage.
Er blickte zum Fenster hinaus, in den dunklen Hof hinab, er übersah den Kram seines Zimmers, die Skizzen an den Wänden. Alles erschien ihm sonderbar, rätselhaft, wie von einem Finger berührt, der es veränderte.
Draußen klopften die Tropfen, und es schien, als ob sie eine seltsame Sprache redeten. Ein leiser Hauch drang durch die Vorhänge, und auch der Hauch schien geheimnisvolle Worte mit sich zu führen.
Wer spricht zu mir? dachte Ginstermann.
Will mir diese Nacht alle Wunder der Welt und meiner Seele zeigen, um mich zu verwirren? Alles schwankt und fällt, was eben noch feststand. Alle Begriffe sind verworren. Ist es nicht, als sei ich aus langem Schlafe erwacht, und folgten mir wunderbare Träume in mein Erwachen?
Wer bin ich? Ich habe vergessen, wer ich bin, und weiß nur, daß ich ein anderer bin, als der ich zu sein glaubte.
Und welch geringen Anlasses bedurfte es, um meine Seele zu verwandeln?
Wer aber bist du? daß du solche Macht über mich hast?
Wer aber bist du, daß ich nicht an dir vorübergehen kann wie an anderen Menschen . . . . . .
Er sann und sann.
Da wurde es Morgen.
II.
Diesen Abend ereignete sich etwas Außergewöhnliches: Ginstermann ging mit zwei Damen über die Straße. Mit zwei jungen Damen in eleganten Abendmänteln.
Ginstermann, der wochenlang seine vier Wände nicht verließ, den man nie in Begleitung sah, den noch niemand mit einer Dame hatte gehen sehen.
Sie kamen von einer Abendunterhaltung, die Kapelli, der Bildhauer, seinen Bekannten anläßlich seiner Hochzeit gab. Kapelli, der seit Jahren mit seiner Geliebten zusammenlebte, war schließlich, da sie ein Kind erwarteten, auf den Gedanken gekommen, sich trauen zu lassen. Ginstermann wohnte im gleichen Hause und war mit den Bildhauersleuten befreundet. Die Damen gehörten zu Kapellis Kundschaft und waren aus irgend einem Grunde eingeladen worden.
Kurz nach zehn Uhr brachen die Mädchen wieder auf. Sie waren kaum eine Stunde dagewesen.
Fräulein Martha Scholl hätte noch große Lust gehabt, länger zu bleiben. Sie äußerte das in Worten und Mienen. Aber Fräulein Bianka Schuhmacher war nicht dazu zu bewegen, trotzdem Kapelli und seine Frau alles aufboten. Sie gab vor, sie werde zu Hause erwartet. Vielleicht langweilte sie die Gesellschaft auch.
Zur allgemeinen Verwunderung hatte sich Ginstermann erboten, die Damen nach Hause zu begleiten.
Sie gingen alle drei langsam, wie vornehme Leute. Die Mädchen dicht nebeneinander, er links von ihnen. In gemessenem Abstand, als sei noch eine vierte Person da, die unsichtbar zwischen ihm und den Mädchen schreite.
Es sei nicht einmal kalt.
Nein, sehr angenehm sogar.
Und man habe doch erst März. Im März sei es für gewöhnlich noch sehr unfreundlich.
Ginstermann erwiderte nichts mehr darauf, und sie schwiegen wieder.
Eine eigentümliche Unruhe erfüllte ihn. Die Ereignisse des Abends hatten ihn verwirrt.
Noch immer hörte er die Worte, mit denen er den Mädchen seine Begleitung angeboten, in sich klingen. Das war gar nicht seine Stimme gewesen. Wieder und wieder sah er sich aufstehen, den Stuhl unter den Tisch schieben und Fräulein Bianka Schuhmacher in ihre klugen, durchsichtigen Augen hinein fragen, ob es ihnen nicht unangenehm wäre, wenn er mit ihnen ginge. Das war alles so unerklärlich rasch und ohne eigenen Willen geschehen. Er erinnerte sich, daß seine Hand zitterte, als er ihr beim Anlegen des Abendmantels behilflich war: der Stoff dieses Mantels hatte sich so sanft angefühlt wie Schnee.
Und dann dieses zufällige Wiedersehen . . .
Da war wiederum Kapellis Atelier, ein Saal nahezu infolge des Meeres von Zigarettenrauch und der drei feierlich verschleierten Lampen, mit den abgetretenen Teppichen an den Wänden, die wie kostbare Gobelins aussahen, den Oleanderstöcken und der Menge Gesichter, deren Augen glänzten. Und er trat ein. Verwirrt durch den ungewöhnlichen Anblick, den Kopf noch erfüllt von der Arbeit des Tages. Und all die glänzenden Augen richteten sich auf ihn, Hände winkten, und man rief seinen Namen. „Bravo, der Einsiedler!“
Da war Kapelli, im schwarzen Festrock, der ihn veränderte, mit dem gutmütigen Philistergesicht und den genialen Augen; Frau Trud, lachend wie immer, das goldblonde Köpfchen wiegend, eine zinnoberrote Schleife vorgebunden; die Faunsmaske des Malers Ritt, das verschwimmende bleiche Gesicht der Malerin von Sacken, ganz in Schwarz, eine Tragödie in ihrem Lächeln; Knut Moderson, der Karikaturenzeichner, Maler Maurer, der Lyriker Glimm, der blonde Goldschmitt und eine Menge anderer noch.
Und da waren zwei junge Damen, die er nicht kannte, und bei denen man ihm seinen Platz anwies.
Zwei verdutzte, erstaunte, ihn anstaunende braune Augen, mit Goldflitterchen darin, ein Puppengesichtchen, frisch, glänzend wie eine Kirsche, Grübchen in den Wangen.
Und daneben zwei kühle, fragende Augen, blaßgrün wie Wasser, die jeden Zug seines Gesichtes mit einem Blick aufnahmen, ein feines, nervöses Antlitz, gleichsam durchsichtig, wie es Brustleidende haben. Ein Legendenantlitz. Und dieses Antlitz hatte er schon gesehen. Hatte er schon gesehen.
Ah — Kapelli hatte es modelliert. Es war die Büste die er „Seherin“ genannt hatte. Das waren diese schmalen, halbgeöffneten Lippen, die zögernd den Duft von Blüten einzuschlürfen schienen. Und die markierten Schläfen, die bebenden, elfenbeinernen Nasenflügel. Wenn sich dieses schmale Antlitz zurückneigte, und die großen Augen sich auf ein Ziel in der Ferne hefteten, so war es ganz genau die „Seherin“.
Kapelli hatte nicht umsonst seine prächtigen Augen.
Aber dieses Legendenantlitz hatte er früher schon gesehen. Irgendwo, vor Jahren vielleicht. Er täuschte sich unmöglich. Und während sie rings von Siry sprachen, dem Dichter Siry, der sich vor einigen Wochen erschoß, sann er darüber nach, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte.
Und da fiel es ihm ein. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn.
Welch ein Zufall! Nun wußte er es.
Das war im Hoftheater, vorigen Winter.
Und er sann . . . . .
Der blonde Goldschmitt, der ewig Lebendige, erzählte irgend etwas. Von seinen Fußwanderungen. Vorigen Sommer. Von mittelalterlichen Städtchen, die in der Dämmerung versanken und von Kornfeldern, die in der Sonne kochten, und vom Meer, das er in einer Sommernacht hatte leuchten sehen. Und vom Walde — ah, vom Walde. Goldschmitt, der Malerdichter. Er sprach nur in Superlativen, ebenso seine Mienen. Und fortwährend strich er sich mit den Fingern über das strähnige Haar, das von der Stirne bis in den Nacken lief, eine einzige Welle. Und Dichter Glimm saß, ohne eine Silbe zu sprechen, die Zigarette zwischen den Lippen, durch die Wimpern ins Licht blickend, und ließ sich durch Goldschmitts Schilderungen Stimmungen suggerieren.
Dieser Goldschmitt erzählte in der Tat gut. Er sah impressionistisch, immer Licht, immer Farbe, ein roter Klecks auf dem Kirchturmdach, und das Bild war fertig.
Dazwischen kam Kapelli mit der Zigarettenschachtel und beugte sich über den Tisch, so daß ein Büschel grauer Haare über seine Stirne fiel. Wenn er sprach, so funkelten die Vokale gleich leuchtenden Steinen, und man verspürte Lust, ihn zum Singen aufzufordern.
An den Tischen lärmten und lachten sie, und ewig war Ritts nasale Stimme zu hören.
Und Fräulein Scholl hing mit den Blicken an Goldschmitts Lippen und hielt die Zigarette mit steifen, ungewohnten Fingern, hier und da Tabak von den Lippen nehmend. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie lachte, und die Wellen ihrer Haare wippten. Diese Haare waren von genau der gleichen Farbe wie ihre Augen. Ihre Zähne waren schneeweiß, klein, Puppenzähne, und zuweilen blitzte eine goldene Plombe auf. Manchmal unterbrach sie den Erzählenden und begann eine ähnliche Schilderung, um mitten darin abzubrechen, da ihr der Ausdruck fehlte. Dann blies sie stets eine dünne Rauchwolke in die Luft.
Daneben ihre Freundin, reserviert im Wesen. Sie lächelte liebenswürdig. Sie rauchte nicht. Sie hielt die Augen auf Goldschmitt gerichtet und brachte ihn einigemal in Verwirrung, als er sich ungeschickt ausdrückte. Es war, als beobachte sie genau, was um sie vorging, und bilde sich über alles ein Urteil. Dazwischen wieder lachte sie herzlich, wie ein Kind, als sei sie für einen Augenblick eine andere geworden. Wenn sie sprach, so sprach sie schön und ohne Hast. Ihre Stimme erinnerte an die Töne einer Geige, sie war weich und gedämpft. Diese Stimme drang tiefer als in die Ohren und erweckte das Bedürfnis, sie bei geschlossenen Lidern zu hören. Gleichzeitig klang der kühle Stolz einer sich abschließenden Seele aus ihr.
Und er saß und sann.
Wie seltsam es doch ist, dachte er, das Schicksal hat die Menschen an Fäden und führt sie zusammen und auseinander und wieder zusammen, je nach seiner Laune.
Hier also traf er sie wieder.
Schon angesichts der Büste hatten seine Gedanken hartnäckig eine Erinnerung in ihm auszulösen gesucht. Er entsann sich dessen noch deutlich.
Aber nun stand sie klar vor seinen Augen, wie an jenem Abend.
In leuchtend weißem Kleide sah er sie vor sich, auf Marmorstufen stehend, mitten im Licht. Und sie hielt die großen Augen auf ihn geheftet, gleichsam erstarrt vor Freude. Als sei er ihr Geliebter und nach langer Fahrt über ferne Meere unerwartet zurückgekehrt. Er stieg die Stufen zum Foyer hinauf und hielt unwillkürlich den Schritt an, betroffen durch den Ausdruck dieses Blickes. Und sah sie an.
Das alles währte nicht länger als eine Sekunde. Es war sonderbar, wie ein Rätsel.
Sie hatte ihn heute nicht einmal wieder erkannt. Trotzdem war es ihm, als ob ihr Blick zuweilen über seine Züge tastete und etwas suchte.
Dann erhoben sich die Damen, und auch er stand auf. Und ohne eigentlich daran gedacht zu haben, bot er ihnen seine Begleitung an.
Und nun ging er neben ihnen her.
Und war noch so verwirrt durch die Eindrücke des Abends, daß er kein Wort zu sprechen vermochte.
All die vielen Gesichter schwebten ihm noch vor Augen, lächelnd, lachend, mit den Augen zwinkernd, er hörte immer noch das Gewirr von Stimmen, und da war wieder die verschleierte Lampe, das mit Zigarettenasche bestreute Tischtuch, Goldschmitt, Glimm, Fräulein Scholl und daneben Fräulein Schuhmacher.
Er sah sie ganz deutlich vor sich. Ihre hellen Augen, ihre schmalen Lippen, die leise und vornehm lächelten, ihre Hand. Er hatte noch nie eine solche Hand gesehen. Sie erschien ihm wie ein denkendes, selbständiges Wesen.
Und wieder empfand er jenen undefinierbaren Schrecken wie in jenem Moment, da er in seinem Gegenüber jene Dame vom Hoftheater entdeckte.
Ah — das war auch zu sonderbar. Das mochte jetzt über ein Jahr her sein.
Wiederum aber war es ihm unerklärlich, wie ihn dieser alltägliche Zufall in derartige Aufregung versetzen konnte. War ihm diese Spannung rätselhaft, mit der er jeder Bewegung dieses Mädchens gefolgt war, jeder noch so unmerklichen Veränderung dieses durchsichtigen Antlitzes.
Das war absolut nicht mehr die Objektivität, mit der er sonst seine Modelle studierte.
Wurde er nicht komisch vor sich selbst, daß er mit den jungen Damen lange Straßen entlang ging? Wenn er aber ehrlich sein wollte, so mußte er sich gestehen, daß es ihm auf der anderen Seite unangenehm gewesen wäre, hätte ein anderer diese Rolle übernommen. Daß es ihm gleichzeitig eine physische Befriedigung bereitete, neben dem schlanken Mädchen einherzugehen.
Er dachte an sein verlassenes, dunkles Zimmer, das er liebte nahezu wie einen Menschen. Er sah sich bei der Lampe sitzen und schreiben, wie er es Tag für Tag, seit zwei Jahren gewohnt war. Er sah seine Manuskripte auf dem Tische liegen, mit der großen Rede Rammahs, die er in der Mitte abgebrochen hatte, um zu Kapelli hinunterzusteigen. Es erschien ihm töricht, daß er seine Arbeit im Stiche gelassen hatte. Kapelli hätte es ihm gewiß nicht übel genommen, wenn ihm auch Frau Trud einige Zeit böse gewesen wäre. Nun würde er die große Rede, die Rammah, der Gefangene, an die Königin Lehéhe zu richten hatte, beendigt haben. Rammah, der seinen Kopf aufs Spiel setzte, um noch einmal das Antlitz seiner Geliebten zu sehen.
Und er dachte an Rammah und Lehéhe, die Königin. Und wiederholte sich im Geiste die Szene und die Worte, die der Gefangene zuletzt sprach.
Rammah sagte: Gib dem Gefangenen eine Hand voll Ton, er wird das Bildnis seines Weibes formen, bei Tag, bei Nacht, in jeder Miene — so formt ich Euer Bildnis, Königin, bei Tag, bei Nacht, aus Wolken, Steinen, Wasser, Bäumen, Wind, in jeder Mime, stolz und milde, lächelnd, strahlend, wie ich es sah.
Und nun sollte er erzählen, daß ihn seine Qual zu den Mönchen getrieben.
Aber seine Rede verwirrte sich.
Eine unerklärliche Erregung erschütterte Ginstermanns Wesen.
Während er sich diese Worte wiederholte, erschien es ihm, als empfände er sie inniger als am Abend, als kämen sie aus dem Tiefsten seines Wesens. Und Lehéhe, die Königin, hatte sich verändert. Nicht mehr die orientalischen Züge, die schmale gebogene Nase, das blauschwarze glatte Haar, nun trug sie die Züge des Mädchens, das ihm zur Seite schritt . . . . .
Ginstermann hüllte sich dichter in den Mantel und gab sich Mühe, auf andere Gedanken zu kommen.
Die Gewänder der Mädchen rauschten sanft. Es war ihm, als gingen sie sehr rasch. Diese Vorstellung wurde dadurch verstärkt, daß man ihre Schritte nicht hörte. Es war frischer Schnee gefallen.
Die Straßen erschienen breiter und öder. Dunkle, unnatürlich große Fußspuren liefen über die Trottoire. Die Bogenlampen leuchteten trüb, umflimmert von feinem Schneestaub, den ein großes Sieb über sie zu schütteln schien. Dunkle Gestalten tauchten lautlos auf, verschwanden lautlos. Irgendwohin. Schatten gleich, die die Straßen einer toten Stadt durchwandern.
Und sie selbst glichen solchen Schatten.
Ginstermann hatte das peinliche Gefühl, daß die Mädchen auf eine Anrede seinerseits warteten. Ja, vielleicht belustigten sie sich über ihn, der nichts wußte, als vor sich hinzugrübeln. Es war nicht ausgeschlossen, daß Fräulein Scholl ihre Freundin in den Arm kniff und in sich hineinkicherte.
Aber ein Seitenblick überzeugte ihn, daß sie beide in Gedanken versunken waren, die nicht in direktem Zusammenhang mit dieser Wanderung standen.
Beide lächelten. Aber dieses Lächeln war grundverschieden. Bei Fräulein Schuhmacher hauchte es aus den halbgeöffneten Lippen, bei Fräulein Scholl sprühte es in den Wangengrübchen.
Es schien, als denke die eine über etwas Hübsches nach, das in der Vergangenheit ruhte, die andere über etwas Hübsches, das aus der Zukunft schimmerte.
Fräulein Schuhmacher ging mit geöffneten Augen und blickte zu Boden, als beobachte sie das Spiel ihres Schattens, der bald vorauseilte, bald unter ihren Schritten durchschlüpfte. Ihr Profil war von vornehmer, reiner Linie. Die Stirne gedrückt und eigensinnig. Der Mund der eines Menschen, der wenig gelacht und viel gelitten hat.
Fräulein Scholl hielt die Augen geschlossen, und diese geschlossenen Augen lächelten.
Während ihre Freundin leicht vornübergebeugt schritt, das Wippen der Libelle im Gang, ging sie aufrecht, mit steifem Stolze. Den Kopf etwas auf die Brust gesenkt.
Man konnte sie sich gut als würdevolle Dame vorstellen.
Ginstermann sann darüber nach, was er den Damen sagen könne.
Der Wunsch erwachte in ihm, ihnen durch irgend eine Bemerkung aufzufallen.
Er war oftmals nahe daran zu beginnen, aber stets fand er die Bemerkung deplaziert oder banal. Die einleitende Bemerkung, einleitende Frage forderten sein Lächeln heraus infolge ihrer Ähnlichkeit mit den Ballgesprächen in den Witzblättern. Mit nervöser Hast suchte er in seinem Kopfe nach einem Gedanken, den er hätte anbringen können. Er hätte sich gern geistreich, witzig gezeigt. Er hätte den Mädchen gern etwas mit nach Hause gegeben, ein kleines souvenir de Ginstermann, etwas, das sie noch beschäftigte, während sie sich entkleideten. Etwas Frappierendes, das sie kopfschüttelnd zu fassen suchten, ein schönes Wort, das noch auf der Schwelle ihres Schlafes vor ihnen schimmerte.
Aber seine Gedanken schleppten altes Zeug herbei, das einem jeder von den Lippen ablas, wenn man es aussprechen wollte. Oder Einfälle, die er früher irgendwo geäußert, und suchten ihn zur Kolportage seiner eigenen Gedanken zu verführen.
Was sollte er diesen Mädchen sagen?
Sollte er ihnen einen Vortrag halten über die Schuld im modernen Drama, über die Phonetik des Dialogs?
Über die seelische Armut eines Mädchens aus guter Familie? Über Bücher, Theater, Musik?
Sollte er ihnen die Grimasse der modernen Gesellschaft mit höhnenden Strichen skizzieren?
Sollte er ihnen sagen: Meine Damen, so kahl wie dieser Baum hier ist unsere Zeit an Schönheit und dem Wunsche nach ihr. Aber es werden Generationen kommen, deren Schönheitsdurst so gewaltig sein wird, daß man das herrlichste Weib des Landes, nackt, auf geschmücktem Wagen durch die Stadt führen wird.
Was sollte er sagen? Sollte er sagen —?
So sehr er sich bemühte, er fand nichts.
Er hatte es verlernt, mit Menschen zu verkehren, mit jungen Damen angenehm zu plaudern. Die Jahre seiner Einsamkeit hatten ihm die Lippen verschlossen.
Wußte er, was diese Mädchen interessieren konnte?
„Ach, wie entzückend!“ tief Fräulein Scholl plötzlich aus und blieb stehen. „Ist es nicht herrlich?“
Der Marmorpalast der Akademie lag vor ihnen.
Vom bleichen Lichte des Mondes durchstrahlt, umgeben von dunklen Häusermassen, stieg er empor aus wipfelkahlen Bäumen wie ein heiliges Denkmal, durch eine Luftspiegelung aus einer herrlichen Welt herübergetragen. In seiner mehr denn totenhaften Stille, die nicht mehr das Ohr, nur die Phantasie faßte, in seiner sanften Schönheit stand er außerhalb alles Irdischen, außerhalb der Zeit, bereit, jeden Augenblick zu versinken und trivial-praktische Häuserklumpen zu enthüllen.
Ginstermann wußte: Das ist der Palast eines gewaltigen Königs. Der König ist gestorben und liegt aufgebahrt auf dunklem Sarkophage inmitten des Palastes. Zu seinen Füßen kauert sein Weib. Pechpfannen umflammen das Lager. Und morgen wird der Palast in Flammen stehen, und den Platz werden Menschen erfüllen, tränenlos in ihrer Trauer, als ein starkes Volk. Und Priester werden das Blut von tausend Kriegern in die rauchenden Trümmer gießen, dem Geliebten zu opfern.
„Ist es nicht überwältigend?“ flüsterte Fräulein Scholl.
„Es ist schön,“ sagte Ginstermann.
Fräulein Schuhmacher streifte ihn mit einem Blicke, wie um die Gedanken zu erraten, die er ihnen vorenthielt.
Fräulein Scholl wohnte in der Schackstraße. Sie begleiteten sie bis zur Türe, dann gingen sie weiter. Die Leopoldstraße hinunter.
Sie gingen nun allein.
Mit der Entfernung der Freundin war die Last auf Ginstermanns Seele um das Doppelte gewachsen.
Seine Verwirrung steigerte sich, und er fühlte, wie er die Herrschaft über seine Gedanken verlor. Vergebens strengte er sich an, seine Gefühle zu entwirren. Er empfand wiederum den schwindelartigen Zustand, der ihn ergriff, als er aufstand, um den Damen seine Begleitung anzubieten. Gewohnt, immer Herr der Situation und seiner selbst zu sein, empfand er ihn als eine demütigende Peinigung. Es war ihm, als habe man ihn in eine Narkose versetzt, gegen die sich seine halbbetäubten Sinne erfolglos sträubten.
Gleichsam ohne selbständigen Willen schritt er neben diesem Weibe einher. Einem Trabanten ähnlich, der in die Bahn eines mächtigen Sternes geriet. Die Seele dieses Weibes hatte sich der seinigen bemächtigt und lockte ihn mit der Gewalt ihres Rätsels.
Diese Situation, das Schweigen, aus dem man heraushören konnte, was man wollte, wurde ihm unerträglich.
Er richtete sich auf, steckte die Hände in die Manteltaschen, bemüht, sich vor sich selbst das Aussehen eines gleichgültigen Menschen zu geben.
Er hörte ihre Schritte über den Boden gleiten, ihre Kleider rauschen, er bemerkte jede Bewegung ihres Kopfes, ihrer Hand, ohne jedoch sein volles Bewußtsein zurückfinden.
Die Straße war schnurgerade, wie ein Lineal. Blendend weiß in der Nähe, von düsterem Rauch erfüllt in der Ferne. Beschneite Pappeln flankierten sie, die ihnen in langsamem Zuge entgegenpilgerten.
Dann und wann krauchte ein Schatten heran. Die Helmspitze eines Schutzmannes blitzte auf. Eine Katze überschritt geschmeidig die Straße, behutsam Pfote um Pfote in den Schnee setzend.
Jeder, der an ihnen vorüberkam, blickte sie an. War es ein Herr, so musterte er zuerst seine Begleiterin, dann ihn; war es eine Dame, so galt ihm der erste Blick. Alle dachten sich etwas. Sie dachten, es sind Liebesleute, die sich gezankt haben und nun still, voneinander entfernt ihre Straße gehen. Oder sie dachten, es sind Leute, denen die aufkeimende Liebe die Lippen verschließt und schwermütige Gedanken eingibt.
Während seine Sinne dies mechanisch beobachteten, rang seine Seele mit der fremden Gewalt, die auf ihn eindrang.
Er wollte froh sein, wenn er wieder allein war. Auf der andern Seite jedoch fürchtete er diesen Moment und suchte er nach Möglichkeiten, ihn hinauszuschieben. Mit ärgerlichem Schrecken dachte er daran, daß er zum ersten und voraussichtlich zum letzten Male neben diesem Weibe ging, das seiner Seele nicht gleichgültig war. Und daß er es nicht verstanden hatte, diese günstige Lage auszunützen, das Wesen dieses Mädchens zu ergründen, und dadurch seine Gedanken vor der peinigenden Gier zu behüten, mit der sie ein ungelöstes Rätsel zu umkreisen pflegten.
Da vernahm er plötzlich ihre Stimme.
Er verstand ihre Worte nicht und mußte sich erst ihren Klang ins Gedächtnis zurückrufen, bevor er sie erfaßte.
„Kennen Sie denn meine Gedichte?“ antwortete er lächelnd, erfreut, daß das Stillschweigen gebrochen war.
Sie hatte gesagt: Ich kenne ein Gedicht von Ihnen, Herr Ginstermann, das sehr schön ist.
„Ja,“ erwiderte sie, „ich habe sie gelesen. Ein Herr machte mich darauf aufmerksam. Viele sind mir zu herb, zu bitter, aber dieses eine ist sehr schön, und ich empfand das Bedürfnis, Ihnen das zu sagen, bevor wir uns trennen. Es heißt: Martyrium.“
„Das war mein erstes, Fräulein Schuhmacher.“
„Ihr erstes?“
„Ja. Ich trottete meine Straße. Da kam es. Ganz von selbst, ich hatte früher nie Verse geschrieben.“
Sie schwieg und blickte sinnend zu Boden.
Da erschrak Ginstermann. Diese wenigen Worte erlaubten ihr, eine Menge Schlüsse auf sein damaliges Innenleben zu ziehen.
„Der Gedanke ist schön, und das Bild ist schön,“ fuhr sie leise fort, „es hat einen tiefen Sinn. Ich kenne kein Gedicht, das einen so tiefen Eindruck in mir hinterlassen hätte.“
Er wußte, daß dieses Gedicht gut war, zu seinen besten gehörte. Aber keine einzige Besprechung hatte es besonders hervorgehoben. Um so seltsamer erschien es ihm, daß sie darauf gekommen war.
Das Gedicht war sehr einfach. Ein Mann, der vor einem Weibe in unverhüllter Schönheit kniet, bittet es, ihm den Dornenkranz der Liebe, mit dem es ihn krönt, tief, tief ins Haupt zu drücken.
„Hier bin ich nun zu Hause,“ sagte Fräulein Schuhmacher und blieb stehen.
Sie standen vor einer Villa in modernem Stile, deren originelle Architektur Ginstermann schon früher aufgefallen war. Zwei Fenster der ersten Etage waren matt erhellt, als läge ein Kranker im Zimmer.
Ginstermann griff an den Hut, da es sich nicht schickt, eine Dame vor der Türe noch zu verhalten.
Aber sie schien es nicht zu bemerken.
Ihr Blick ruhte auf seinem Antlitz, und wieder gewann er die Vorstellung, als suche sie nach irgend etwas.
„Wir sahen uns übrigens schon einmal,“ begann sie von neuem, und ihr Blick traf voll den seinigen.
An diesem Blicke erkannte er sie.
Hier ist ein Mensch! dachte er, freudig erschreckend. Er fühlte, wie die Erregung in langer Welle durch seinen Körper lief.
Diese Augen waren hell und durchsichtig, als brenne ein Licht hinter ihnen. Er wußte, hinter diesen Augen wohnt jemand.
„Ja, im Hoftheater,“ erwiderte er, und er lächelte und blickte ihr in die Augen. Es erschien ihm, als seien sie langjährige Bekannte.
„Ich verwechselte Sie damals mit jemandem,“ fuhr sie fort, und ihre Lippen zuckten sonderbar, als unterdrückte sie ein Lächeln.
Er habe das sofort bemerkt.
Fräulein Schuhmacher blickte zum Himmel empor, aus dem große nasse Flocken fielen.
„Es taut,“ sagte sie, „ich glaube, es wird nun wirklich Frühling.“
Das klang einfach, aber eine krankhafte Sehnsucht nach dem Frühling lag in dem Tone ihrer Stimme und den Blicken, mit denen sie die großen Flocken verfolgte.
Dann bot sie ihm die Hand, indem sie ihm für die Begleitung dankte. Sie sah ihn dabei an, aber es schien, als blickte sie durch ihn hindurch.
Ginstermann entgegnete: „Ich danke, Fräulein Schuhmacher.“ Das „Ich“ betonend.
Sie blickte ihn mit leichter Verwunderung an.
Er aber wiederholte: „Ich danke.“ In der gleichen Betonung.
Da drückte sie ihm die Hand, jedoch ohne eine andere Sprache als die der Höflichkeit einer modern denkenden Dame.
„Adieu,“ sagte sie, „auf Wiedersehn.“
„Adieu,“ sagte er.
Sie nickte und ging. Im Augenblick war sie verschwunden.
Ein dunkles, schweres Tor glitt lautlos hinter ihr ins Schloß, lautlos, unaufhaltsam.
Ginstermann stand allein auf der Straße. Plötzlich fühlte er, daß es düster und kalt war.
Er stand noch eine Weile, dann wandte er sich und machte einige zögernde Schritte. Etwas hielt ihn zurück. Und nun blitzte es auf. Sie hatte gesagt: auf Wiedersehen. Sie hatte gesagt: auf Wiedersehen. Er hörte ganz deutlich ihre geschmeidige, leicht verschleierte Stimme. Aber das allein war es nicht.
Er ging wieder auf die Stelle zurück, wo er sich von ihr verabschiedet hatte, gleichsam als höre er hier ihre Stimme mit größerer Deutlichkeit in seinem Gedächtnis wiederklingen.
Sie hatte das „Wieder“ betont. Das war es.
Es war keine Höflichkeitsformel, mechanisch gesprochen. In dieser Betonung lag der Wunsch, ihn wiederzusehen und zugleich eine gewisse Freude, ihn kennen gelernt zu haben.
Nun erst ging er seiner Wege.
Nach geraumer Zeit bemerkte er, daß er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.
Er machte Kehrt und überschritt, als er sich der Villa näherte, die Straße, um nicht gesehen zu werden.
Im Eckzimmer der ersten Etage war Licht. Rötliches, sanftes Licht, das durch das geöffnete Fenster wie feiner Dunst in die Straße hauchte.
Er erschrack, ohne zu wissen weshalb, als er es bemerkte.
Da wanderte die Flamme einer Kerze an den dunklen Fenstern der anstoßenden Zimmer vorbei und verschwand in dem Zimmer, das matt erleuchtet war.
Ginstermann stand, verborgen im Schatten einer Pappel, und wartete. Er wartete lange und in sonderbarer Erregung, als spiele sich in dem Zimmer da droben etwas ab, was entscheidend für sein Leben sei. Und doch war es nur der Besuch eines Kindes bei seiner Mutter, vor dem Schlafengehen.
Die großen, weißen Flocken fielen langsam auf ihn herab, ihn gleichsam durch ihr geheimnisvolles, sanftes Abwärtsgleiten in einen Zustand der Betäubung versetzend.
Das Licht erschien wieder und wanderte an den Gardinen vorüber. Aus seinem Auf und Ab erkannte er ihren Schritt. Er bildete sich ein, das Schließen einer Türe zu vernehmen.
Und nun erschrak er, daß er unwillkürlich tiefer in den Schatten zurücktrat.
Sie war ans Fenster gekommen. Und sie blickte genau auf den Baum, der ihn verbarg.
Etwas wie eine tödliche Angst packte ihn, sie könne ihn durch den dicken Baum hindurch bemerken.
Zum ersten Male sah er, wie schlank sie war!
Endlich wandte sie den Kopf, und er atmete auf.
Sie trat zurück und schloß das Fenster. Er hörte es, als stände er dicht darunter, über ihre Hand, die den Knopf drehte, flossen die Vorhänge zusammen, und fingen den Schatten ihrer Gestalt auf.
Das Verlangen erfaßte ihn, irgend etwas zu unternehmen, zu rufen, irgend etwas zu rufen, nur um sie noch eine Sekunde zurückzuhalten.
Da wurden die Vorhänge licht.
Er ging nach Hause.