Kitabı oku: «Männerblues»

Yazı tipi:


Bernhard Spring

Männerblues

Ein Till-Thamm-Krimi

2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954623747

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

SONNTAG

MONTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

DONNERSTAG

FREITAG

Weitere Till-Thamm-Krimis

SONNTAG

„Und wenn wir einfach liegen bleiben?“

Anja sah ihn verständnislos an. Dass seine Finger auf ihrem Hintern spazieren gingen, bemerkte sie überhaupt nicht.

„Regelmäßig, hat die Hebamme gesagt“, erinnerte sie Thamm in denselben belehrenden Ton, den auch die Geburtshelferin draufhatte. „Benni braucht seinen Rhythmus, weißt du doch.“

Gott, wie Thamm dieses blöde Weib hasste! Diese verfluchte Hebamme hatte eine Art an sich, die ihn jedes Mal ganz rasend machte – und er wusste nicht einmal genau, wie sie das eigentlich fertigbrachte. Stolzierte einfach an ihm vorbei, als ob er Luft wäre, schaute auch sonst nicht nach links oder rechts, fragte kaum nach dem Baby – immer nur nach Anja. Der reinste Kaffeeklatsch! Und dann faselte sie was von Zeitlassen und „wieder Frau werden“ und „in sich hineinhören“ und machte aus der ganzen Sache mit dem Kind den puren Geschlechterkampf. Anja solle sich da nicht reinreden lassen, als Mutter fühle sie eh von Natur aus viel mehr, als Thamm als Vater verstehen könne. Solche Sprüche ließ dieses Weib vom Stapel!

Und hinterher bekam Anja noch irgend so ein Kügelchen unter die Zunge gelegt, die Hebamme ließ noch ein paar andere von der Sorte wegen Bennis Dreimonatskoliken da – und stolzierte dann genauso verbiestert wieder an Thamm vorbei, wie sie gekommen war, wobei sie sich gerade so einen eiskalten Gruß zwischen den Zähnen rauspresste.

Dummes Miststück – zum Glück kam sie jetzt nicht mehr.

Aber dass Anja plötzlich an diesen ganzen homöopathischen Mist glaubte und auch sonst alles nachplapperte, was diese scheiß Hebamme ihr ins Ohr gesetzt hatte, das irritierte Thamm schon. Irgendwie war Anja nicht mehr dieselbe, seit das Baby da war.

„Meinst du wirklich, Benni kriegt das mit, wenn er mal eine Viertelstunde später die Flasche bekommt?“, versuchte es Thamm wieder. Er hatte im Augenblick noch keine Lust auf den ganzen Zirkus, der hier neuerdings in vierstündigem Rhythmus abgefeiert wurde und vor dem es kein Entrinnen gab.

Je näher seine Finger Anjas Gürtelschnalle kamen, umso vorsichtiger tasteten sie sich heran.

„Ja, klar“, maulte Anja leicht gereizt, „da machen wir hier mal eine Ausnahme und da mal eine – und dann können wir’s gleich vergessen.“ Wie nebenbei fegte sie Thamms Hand von ihrer Hose und setzte sich auf.

Na toll, dachte Thamm angesäuert, der Mittagschlaf war jetzt also endgültig vorbei.

Aber Anja kam nicht weiter als bis zum Rand vom Sofa. Dort beugte sie sich nach vorn, stützte den Kopf in die Hände und fuhr sich immer wieder massierend über die Stirn.

„Ist dir wieder schwummrig?“, fragte Thamm besorgt.

„Das geht einfach nicht weg“, murmelte Anja. „Dieses blöde Eisen!“

„Soll ich dir Pflaumensaft holen?“, bot er sich sofort an, aber Anja schüttelte energisch den Kopf. „Ich kann das Zeug nicht mehr sehen. Dann lieber Eisenmangel!“

Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten, und atmete tief durch. „Was soll’s“, meinte sie schließlich und sah sich nach Thamm um. Ein schmales Lächeln rann über ihre Lippen.

Thamm griff es sofort auf und schlängelte sich an sie heran. „Vielleicht sollten wir das mit dem Aufstehen lieber ganz langsam angehen, hm?“ Sein Grinsen wurde breiter. „Lass dich doch noch ein bisschen von mir verwöhnen. Du musst auch gar nichts machen … “ Wieder suchten seine Finger ihren Weg unter Anjas Bluse, doch diesmal bemerkte sie den kaum kaschierten Annäherungsversuch sofort.

„Och Till!“, rief sie genervt aus und stand nun doch auf. „Kannst du nicht einmal aufhören damit? Nur mal zwei Monate, Till, ist das zu viel verlangt? Zwei Monate!“

Wütend ging sie durch das Wohnzimmer, über den Flur und in die Küche. Thamm warf sich frustriert auf das Sofa zurück. Was jetzt folgte, kannte er bereits auswendig. Erst ließ Anja das Rollo über der Spüle runter, damit auch ja niemand was sehen könnte – als ob irgendwer aus heiterem Himmel in ihrer Einfahrt stünde! – so weit hatte diese blöde Hebamme sie schon gebracht. Dann holte sie die Saugvorrichtung aus dem Schrank, steckte den Schlauch an die beiden Flaschen, wobei immer wieder ein resignierter Blick auf die zweite Flasche fiel, die als Überlauf diente und doch nie etwas abbekam, geschweige denn voll wurde. Und zum Schluss schaltete sie die ganze Apparatur schweren Herzens ein, der Motor heulte auf und Anja schob sich beschämt und irgendwie doch auch gleichgültig den Sauger an die Brust.

So saß sie dann an dieser Melkmaschine aus der Apotheke: nicht zehn Minuten, wie es die Ärztin gesagt hatte, sondern fünfzehn, zwanzig. Die Milch tropfte zögerlich in die erste Flasche. Mit etwas Glück kam sie auf kümmerliche dreißig Milliliter.

Am Anfang hatte Thamm bei dieser niederschmetternden Prozedur noch zugucken dürfen. Dann aber wollte Anja ihn nicht mehr dabeihaben und hatte die Küche zur Tabuzone erklärt, solange die Melkmaschine im Einsatz war. War es ihr unangenehm, wenn er sie so sah, wie eine Kuh angestöpselt, die Brustwarze in einen albernen Gummitrichter gesogen? Oder schämte sie sich am Ende wegen dem bisschen Milch, das trotz überzogener Zeit nur herausgekommen war und doch nie reichte? Bennie sog es glatt in einem Zug weg.

Thamm hatte aufgehört, sich danach zu fragen. Wenn Anja beim Arzt war, fütterte er Benni nur mit Kunstmilch. Ganz ohne Stress. Und Benni ging’s davon nicht schlechter. Der steckte das ganz locker weg – ganz der Papa. Aber wenn Anja im Haus war – und das war sie nun einmal fast immer – dann musste es diese dämliche Melkerei sein, dann musste sie sich quälen und zum Schluss dann doch enttäuscht zum Milchpulver greifen.

Warum sie sich so fertig machte, verstand Thamm nicht. Wenn sie ihn da wenigstens rauslassen würde – aber oben wollte sie es ja nicht machen, damit Benni von dem Lärm der Pumpe nicht aufwachte. Also molk sie sich in der Küche, der Motor surrte durch das halbe Erdgeschoss und Thamm ärgerte sich jedes Mal, weil Anja die Viertelstunde doch auch bei ihm auf der Couch hätte bleiben können, statt sich dann doch wieder für nichts so fertigzumachen.

Nur zwei Monate“, knurrte er verächtlich und stand nun auch vom Sofa auf. Was wusste Anja schon davon!

Wenigstens hier hatte sich nichts verändert: Sein Arbeitszimmer hatte sie ihm nicht abspenstig zu machen versucht. Hier war die Welt noch in Ordnung.

Thamm ließ sich ächzend in seinen Schreibtischsessel fallen. Nicht, dass er seinen Sohn nicht leiden könnte, das war es nicht. Aber dieser kleine Scheißer hatte es in den paar Wochen, die er nun schon hier war, geschafft, das ganze Haus in Beschlag zu nehmen. Im Bad thronte die Wickelauflage über der Wanne, in der Küche standen seine Medikamente und Nuckelflaschen rum, im Haus-Wirtschaftsraum stank es nach seinen Windeln – egal, wie oft Thamm den Müll rausbrachte. Sogar im Schlafzimmer machte sich Benni breit, denn jedes Mal, wenn er nur mal eben leise nieste oder im Schlaf vor sich hinbrummelte, schoss Anja wie vom Teufel geritten quer über den Flur an seine Wiege, holte den kleinen Wurm, der ja doch immer irgendwie noch mehr schlief als wirklich wach war, raus und zu sich ins Bett. Dort machte sich Benni dann ordentlich breit, denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund drehte er sich jede Nacht quer und kiekste Thamm seine kleinen, aber festen Füße in den Rücken. Und wenn er den Jungen dann doch mal nicht zu spüren bekam, konnte Thamm erst recht nicht schlafen, weil ihn unterbewusst die Angst wachhielt, sich aus Versehen auf den Knirps zu legen. Ein Albtraum!

Thamm schaltete den Computer an und lauschte auf das vertraute Rattern der Lüftung, während das Gerät hochfuhr. Wie lange hatte er nicht mehr gespielt? Sein Garten sah bestimmt total verwildert aus, denn seit er in der erweiterten Version unterwegs war, blieb die Ernte nicht einfach so auf dem Bildschirm stehen – nach einer gewissen Zeit verfaulte sie und die Beete wucherten zu. Es würde ihn einiges kosten, seinen Garten wieder in Schuss zu bekommen.

Und tatsächlich – kaum war das Logo von Gartengaenger.de verschwunden, zeigte sich ein struppiger Rasen, vor dem ein kleines Männchen aufgeregt herumhüpfte. Die Kürbisse, die Thamm Ende April am Zaun beim Komposthaufen gesetzt hatte, ließen sich noch vage erahnen zwischen dem Unkraut, der Rest seiner Ernte aber war schon verloren. Wie befürchtet – und die Bauernbank gab ihm den nötigen Kredit nur zu echt miesen Konditionen. Verdammtes Spiel, ging es Thamm durch den Kopf, während er fiktive Schulden aufnahm und so teure Dublonen zahlte, um seinen Gartenzwerg die Beete vom Gras befreien zu lassen. Die Kürbisse musste Thamm anschließend weit unter ihrem Preis auf dem Markt verramschen – Brechbohnen und Avocados waren gerade gefragt. Zum Schluss blieb kaum viel mehr übrig als für ein paar Möhren und Tomaten, mit denen Thamm gerade einmal ein kleines Beet voll bekam. Also das ganze Spiel noch einmal von vor – er war wieder als Grünschnabel eingestuft worden. Schöne Scheiße!

Thamm fuhr entnervt den Computer runter und trat an das Fenster. Die Hecke kam nicht ganz so, wie er sich das erhofft hatte. Vielleicht war ja Rindenmulch wirklich eine Lösung. Wer hatte ihm das empfohlen? Es wollte ihm nicht einfallen. Aber Thamm verschwendete auch kaum großartig einen Gedanken daran. Wenn er in seinen Garten sah – den echten vor dem Haus –, dann sah er überall irgendwelche Ecken und Kanten, an denen noch etwas zu machen war. Die Borde an der Sitzecke saß locker, Ameisen hatten sich im Sandkasten eingenistet, die Tür vom Schuppen klemmte oben – die mickrigen Hecken stellten da nur eins von vielen und nun wirklich nicht das dringendste Problem dar. Wenn er nur mal die Zeit für all den Kleinkram hätte, der noch zu machen war … Wenn er überhaupt erst einmal die Lust dazu aufbringen könnte …

Jetzt hörte er, wie die Tür zur Terrasse unter ihm geöffnet wurde. Er sah Anja, wie sie mit einem kleinen Tablett über das Gras schritt und den Gartentisch eindeckte: zwei Tassen, Teller, eine Kanne Kaffee, ein Kuchenpaket wurden ausgepackt. Den Zucker hatte sie schon wieder vergessen, ätzte Thamm in Gedanken und ärgerte sich, dass ihr das neuerdings immer öfter passierte – und dass er sich überhaupt über so eine Kleinigkeit aufregte. Es ist Sonntag, verdammt, dachte er, mach dich mal locker.

Anja verschwand wieder im Haus und keine Minute später hörte er sie auch schon nach ihm rufen. Thamm antwortete, bewegte sich aber keinen Zentimeter vom Fensterbrett weg. Und tatsächlich: Da kam Anja wieder zum Vorschein, diesmal mit der Babyschale beladen, die sie neben der Sitzecke abstellte. Dann besah sie sich den Jungen, der wohl wieder schlief, denn er blieb ohne jede Regung. So ganz zufrieden schien Anja nicht zu sein. Sie versuchte, den Sonnenschirm so zu schwenken, dass Benni im Schatten schlafen könnte, aber die Halterung klemmte – noch so eine Baustelle, dachte Thamm. Anja sah sich etwas ratlos im Garten um. Vielleicht wartete sie auch auf ihn, dass er jetzt genau in diesem Moment käme und ihr beispringen könnte. Aber Thamm konnte sich einfach nicht losreißen, noch nicht.

Anja schien eine Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Sie griff sich die Babyschale und marschierte damit zur Hollywoodschaukel, stellte Benni auf die Polster und zog die Sonnenblende ein Stück vor, gerade so weit, dass Benni vollständig im Schatten lag. Dann besah sie sich ihr Werk. Die Schaukel war unter ihrem Gezerre etwas in Bewegung geraten, die Sitzfläche mitsamt der Babyschale schwankte leicht hin und her. Anja besah sich das Ganze, schätzte die Wahrscheinlichkeit ab, ob Benni irgendwie im Gras landen könnte – und ließ ihn schließlich da schaukeln.

Thamm wusste, dass die Babyschale breiter als die Hollywoodschaukel war. Er wusste, dass Benni, wenn er zappelnd aufwachte, ordentlich Bewegung machen konnte. Andere Mütter würden ihr Kind deshalb vielleicht nicht gerade auf eine Schaukel stellen. Thamm liebte Anja in diesem Moment dafür, dass sie nicht so eine war.

„Sag mal, wohnt da eigentlich noch jemand?“

Thamm deutete mit der Kuchengabel über die Straße. Anja blickte ihr nach und schüttelte dann den Kopf.

„Nee, den hat die Frau verlassen“, sagte sie nur, dann lehnte sie sich wieder weit zurück in ihren Liegestuhl.

„Und er?“, wollte Thamm wissen.

„Keine Ahnung. Den hab ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“

„Aha“, machte Thamm und klang dabei so interessiert, dass Anja verblüfft aufsah. Unter der vor die Stirn gehaltenen Hand blinzelte sie neugierig in seine Richtung. „Sag mal, weißt du überhaupt, wer da gewohnt hat?“

Thamm sah sie überrascht an. „Ich kann doch mal fragen, was sich so in der Nachbarschaft tut, oder?“

Ihr spöttisches Grinsen irritierte ihn.

„Was denn?“, fragte er gereizt, aber Anja winkte nur ab. „Ich hab nichts gesagt.“

Wieder vertiefte sich Thamm in sein Stück Kuchen. Anja hob ein Magazin vom Boden auf und blätterte lustlos darin rum. Irgendwann warf sie es resigniert wieder von sich. „Lesen ist echt die Härte“, seufzte sie.

„Verschwimmt immer noch alles?“, fragte Thamm nach. „Die hätten dir gleich hinterher eine Blutkonserve geben müssen. Mindestens.“

Anja richtete sich energisch auf. „Das weiß ich auch, aber jetzt ist es nun mal halt so“, fauchte sie ihn dabei an.

„Ich mein ja nur“, trat Thamm nach diesem unerwarteten Anschiss vorsichtig den Rückzug an. In den letzten Wochen ging Anja auf die kleinste Vorlage ab wie Schmidts Katze. Fast hatte Thamm den Eindruck, dass sie absichtlich alles in den falschen Hals bekam. Und so sehr er sich auch am Riemen zu reißen versuchte – nicht immer konnte er so ganz auf ihren angekratzten Zustand Rücksicht nehmen und den Kürzeren ziehen. Und so murmelte er auch jetzt trotzig: „Ich dachte ja nur, du als Krankenschwester … “ Mehr brauchte er gar nicht zu sagen. Anja, die sich gerade erst ihre Kaffeetasse vom Tisch geholt hatte, stellte sie krachend wieder zurück. „Entschuldigung, aber lieg du doch mal da rum und press vier Stunden lang ein Baby aus dir raus“, fuhr sie ihn wütend an. „Ich wette, da denkst du nicht drüber nach, ob die Kolleginnen alles richtig machen und dass du jetzt eigentlich noch eine Transfusion bräuchtest.“

Thamm bemerkte sofort, dass er schon zu weit gegangen war. Blitzschnell versuchte er, zurückzurudern. „Ich mein ja nur … “, druckste er vor sich hin – wieder! –, aber dadurch verlor Anja kaum an Fahrt. „Du hast ja auch gut reden. Aber ich durfte das alles ganz alleine ausstehen. Wo warst du denn, bitte schön, als die Wehen einsetzten, hm? Und dann, im Kreissaal?“

„Moment mal“, warf Thamm ein, nun doch ein wenig aufgebracht. „Wir hatten uns vorher noch nicht festgelegt, ob ich mit reingehe.“ „Das hatte sich ja dann auch erübrigt“, knurrte Anja. „Der Herr Kriminalkommissar – entschuldige, Kriminalhauptkommissar – musste ja unbedingt auf Verbrecherjagd.“

„Wir standen kurz vorm Abschluss des Falls … “

„Ach, und Stefan hätte das nicht alleine hinbekommen? Du und dein elender Ehrgeiz!“

Verärgert griff sich Anja nun doch ihre Kaffeetasse und zog sich wieder in ihren Stuhl zurück. Thamm aber konnte nicht einfach so weiteressen.

„Dass wir immer streiten müssen neuerdings“, sagte er betreten.

„Liegt das etwa an mir?“, gab Anja bissig zurück. Aber dann fing sie sich endlich wieder und kam runter. „Ach Till … “, meinte sie so süß, dass Thamm ihr einfach nicht widerstehen konnte, „komm doch mal her.“ Sie stellte die Tasse weg und schlang ihre Arme um ihn, der nur allzu gern darin versank. „Das sind diese blöden Hormone“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Aber das renkt sich bald wieder ein, versprochen.“

Thamm seufzte schwer an ihren Hals. Wenn er ihr doch nur glauben könnte! In diesem Augenblick kam er sich so einsam vor, mit der kränkelnden Anja, mit dem schlafenden Benni und sonst nichts an diesem endlosen, leeren Sonntagnachmittag.

„Das wird schon wieder“, meinte Anja nun und klang dabei so ungewohnt sanft und mütterlich, dass Thamm unwillkürlich an den einen Abend denken musste, an dem ihm Anja angeboten hatte, ihre Milch zu probieren. Er war schon vorher ganz fasziniert von dem Gedanken gewesen und hatte sich nun, wo Anja es auch noch vorgeschlagen hatte, entsprechend begeistert an ihre Brust gelegt und seinen Mund in Stellung gebracht. Aber schon als er ihre Brustwarze mit den Lippen umschlungen hatte, war da so ein komisches Gefühl in ihm aufgestiegen. Und die paar Tropfen Milch, die Anja gerade so übrig hatte, hatten einfach nur zum Kotzen geschmeckt. Thamm hatte mit einem Mal kapiert, dass Anja nun nie wieder dieselbe werden würde. Sie war immer noch seine Freundin, klar, er war immer noch scharf auf sie – aber sie war eben auch Mutter und ihr Körper hatte nun an allen Enden eine konkrete Funktion, war nicht mehr nur die Spielwiese, als die er manche Region bisher aufgefasst hatte.

Entzaubert und trotzdem zauberhaft, dachte Thamm nun etwas melancholisch und fragte sich, ob es umgekehrt genauso wäre; ob Anja ihn auch eines Tages mit anderen Augen entdecken würde. Vielleicht wenn er irgendwann mal mit dem ersten Blasenproblem zum Urologen müsste und dann aufgedeckt würde, dass sein Schwanz auch nicht unverwundbar war. Sicherlich würde ihn Anja dann immer noch in den Mund nehmen, aber vielleicht würde sie die ganze Sache dann etwas praktischer angehen und noch mehr Krankenschwester nach Hause bringen. Und ins Bett!

Wie war Thamm nur auf dieses Thema gekommen? Verwundert über sich selbst, kroch er unter Anjas Armen vor und setzte sich zurück auf seinen Liegestuhl. Etwas beunruhigt fuhr er sich durchs Haar. „Vielleicht sollten wir mal wieder Stefan und Jette einladen“, schlug er vor, weil er den Eindruck hatte, ein Thema wechseln zu müssen, und nahm sich geistesabwesend noch ein zweites Stück Kuchen.

„Wen sonst?“, neckte ihn Anja ohne jeden Vorwurf. „Aber vielleicht nicht gerade Morgen, da … oh!“

Benni meldete sich mit einem kleinen Schrei aus seinen Träumen zurück. Anja setzte schon zum Sprung aus ihrem Stuhl an, aber Thamm winkte ab. „Bleib ruhig sitzen“, meinte er, und Anja beobachtete erstaunt, wie sich Thamm in Richtung Hollywoodschaukel begab.

„Er hat bestimmt eingemacht“, rief sie ihm hinterher. „Riech mal hinten dran.“

Thamm warf einen prüfenden Blick in die Babyschale. „Ach was“, gab Thamm zurück, „der schläft ja noch halb.“

„Dann schaukle ihn mal ein bisschen, dann pennt er wieder ein.“

Als ob Thamm diesen Hinweis gebraucht hätte! Er kannte seinen Jungen doch mindestens genauso gut wie Anja. Also nahm er den Griff und ließ Benni knapp über das Gras baumeln, hin und her. Der Junge blinzelte kurz in die Sonne, so als müsste er sich vor dem Weiterschlafen erst noch versichern, wer sich da eigentlich an ihm zu schaffen machte, dann schloss er auch schon wieder die Augen.

Ein paar Minuten noch, dachte Thamm, dann hat sich das auch schon wieder. Aber so lästig, wie er sich das vorgestellt hatte, war diese Schaukelei gar nicht. Endlich kam mal ein bisschen Bewegung in seine Arme, in seinen Körper – die Lethargie dieses lahmen Nachmittags verschwand langsam aus seinen Knochen. Und Thamm fiel plötzlich ein, wie er sich noch mehr Luft verschaffen könnte.

„Du, ich dreh mal kurz ne Runde durchs Viertel, ja?“

Anja sah ihn wieder so überrascht an. „Schläft er noch nicht?“, fragte sie ungläubig.

„Nee, nur mal so“, meinte Thamm.

„Na, wenn du unbedingt willst … “, meinte Anja bloß und zuckte mit den Schultern. Und Thamm steckte die Babyschale auf den fahrbaren Untersatz, schob das etwas sperrige Gerät die Einfahrt runter und bog in die Junkerstraße ein. Links standen die Fertigteilhäuser, rechts auch, alle hatten sie eine Garage, manche ein Vordach dazu, andere Solarzellen auf dem Dach – das Fliegerstädtchen sah in allen seinen Straßen gleich aus, überall gab es denselben scheiß prosperierenden Mittelstand samt Steingarten zu sehen. Und Thamm war es somit scheißegal, in welche Richtung es gehen sollte.

Benni schlief.

Thamm döste vor sich hin.

Die Luft hing bleiern über der Siedlung. Könnte noch gewittern, dachte Thamm und besah sich prüfend den milchig weißen Himmel.

Das Kind sah nicht gerade wie er aus. Überhaupt fand Thamm an dem Jungen nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendwem. Benni war ganz eigenartig, ganz für sich. Viel gab es noch nicht mit ihm zu machen, er konnte ja nicht mal sitzen oder auch nur den Kopf halten. Und den kleinen Wurm zu wickeln, zu baden und rumzutragen, wenn er schrie oder pupsen musste und nicht konnte – das waren ja eher so Funktionsaufgaben, das hatte ja nichts mit Spaß zu tun. Zumindest fühlte Thamm nichts besonders Erhebendes dabei. Aber wenn er mit Benni allein war und ihm irgendwas zuraunen konnte, als wäre er schon älter und ein guter Kumpel – dann war es cool, den ollen Hosenscheißer um sich zu haben.

„Ach, der Herr Thamm“, kreischte ihn da plötzlich eine etwas zu hoch gelagerte Stimme aus seinen Gedanken.

Thamm fuhr zusammen. Was um alles in der Welt …

„Das ist ja schön, dass ich Sie mal sehe. Und dann auch gleich mit dem Sohnemann. Na ja, unter der Woche bleibt Ihnen ja bestimmt nicht viel Zeit.“

Eine für Thamms Geschmack etwas zu pummelig geratene Frau trat mit einem Satz aus der Hecke, stellte sich direkt neben Thamm auf und beugte sich tief über den Kinderwagen, um einen Blick hineinzuwerfen. „Ich darf doch mal?“, fragte sie, noch bevor Thamm reagieren konnte, und dann kam nur noch ein „Och, ist der niedlich“ und „Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen?“ aus dieser Frau geseufzt, und Thamm fragte sich resigniert, warum ausgerechnet er das Pech hatte, so einer bescheuerten Vorstadtschnepfe in die Arme zu laufen.

„Also, Herr Thamm!“, stieß sie plötzlich empört aus, kaum dass sie wieder aus dem Kinderwagen aufgetaucht war. „Sie glauben ja gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Es ist einfach furchtbar!“

Thamm versuchte verzweifelt, sich an die Frau zu erinnern, aber umsonst. Je mehr er drüber nachdachte, umso sicherer wurde er sich, dass er diese Schrapnelle noch nie zuvor gesehen hatte. Was ihr vertrauliches Getue für ihn noch belämmerter werden ließ. Aber was hatte Anja gesagt? „Wir müssen hier noch ne Weile wohnen … “ Und so quetschte sich Thamm ein möglichst nettes „Aha?“ raus und machte ein erstauntes, möglichst nicht allzu spöttisches Gesicht.

„Ach Gott!“, entfuhr es der Frau und mit der Rechten griff sie sich an die Brust. „Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie belästigen will!“ Zu spät, dachte Thamm und verkniff sich nun doch ein ironisches Grinsen. So allmählich ahnte er, worauf das hier hinauslaufen würde.

„Und ich dachte ja, die Leute würden von sich aus aufhören“, fuhr die Frau in einem jammernden Ton fort. „Immerhin, wo Sie doch bei der Polizei sind.“ Also doch, dachte er. Die Frau mit der Hand beim Herzen merkte nichts von Thamms verbissenem Gesichtsausdruck. Oder passte er am Ende zu ihrem Thema?

„Ein Lärm, sag ich Ihnen!“, empörte sie sich nun. „Diese jungen Leute in der Fieselerstraße, gleich da hinten … “ Sie bemühte sich, um die Straßenecke zu zeigen, was ihr nicht gerade sonderlich gut gelang. „Furchtbar, sage ich Ihnen. Und da sag ich zu meinem Mann – der muss ja auch früh raus – da sag ich also, ja der Herr Thamm, wenn der da mal nur kurz ein Auge drauf werfen würde, dann wär da aber Ruhe!“

Und mit einem Mal war da wirklich Ruhe. Die Frau hatte sich ausgequatscht und erwartete nun mit hoffnungsvollem Blick eine Reaktion von ihrem Herrn Thamm. Und der war nun aber alles andere als gnädig gestimmt. Erst erschreckte ihn das Weib zu Tode, dann gaffte sie völlig ungeniert in den Wagen rein – und hinterher machte sie ihn einfach mal schräg von der Seite an, von wegen Hauptsache irgendein Polizist! Und noch am Sonntag! Thamm zwang sich zu einem übersüßen Grinsen.

„Es tut mir wirklich leid“, setzte er an, „aber das ist dann wohl eher ein Fall für die Schutzpolizei. Da müssten Sie mal auf die Wache … “

„Ja, aber kennen Sie denn da keinen? Das kann doch nicht so weitergehen!“, fiel ihm die Frau aufgeregt ins Wort. Aber Thamm schüttelte nur den Kopf.

„Leider kann ich da nichts machen. Da müssten die jungen Leute aus der Fieselerstraße Sie schon umbringen. Aber dann wäre ich sofort für Sie da. Einen schönen Sonntag noch.“

Und damit ließ Thamm die verdutzte Frau stehen. Die plötzliche Bewegung des Kinderwagens rüttelte Benni nun endgültig aus dem Schlaf.

„Siehst du“, sagte Thamm zu ihm, „ich hab’s dir doch gesagt: Wir sind hier die einzigen Normalen.“

Benni atmete gleichmäßig. Nichts deutete darauf hin, dass er in nächster Zeit aufschrecken oder nach Milch schreien könnte. Und auch Anja konnte zur Ruhe kommen, denn nachts setzte sie den vierstündigen Rhythmus, der tagsüber galt, aus. Nachts galten andere Spielregeln.

„Schläfst du schon?“, fragte Thamm leise in das Dunkel des Schlafzimmers hinein. Draußen ging der Regen monoton plätschernd nieder, prasselte auf das Dach, von weit entfernt donnerte es, ohne wirklich laut herüberzuschallen. Thamm horchte zu Anja rüber – eine Antwort blieb aus.

Aber was heißt das schon, dachte er und tastete sich vorsichtig über die Matratze. In diesem Moment kam ihm das Bett elend breit vor. Und sie lag ausgerechnet am äußersten Ende! Er hatte aber auch ein Glück heute!

„Hey, schläfst du schon?“, fragte er wieder, als er sie endlich erreicht hatte. Aber auch jetzt gab sie keinen Mucks von sich. Thamm hob ihre Decke an und kroch darunter. Ihre Oberschenkel strahlten eine unglaubliche Wärme aus. Aber trotzdem schmiegte sich Thamm langsam an sie, an ihren Hintern, ihren Rücken. Und noch immer rührte sich Anja keinen Zentimeter. So fest kann doch gar keiner schlafen, wunderte sich Thamm.

Wie aus Versehen legte er seine Hand auf ihr Bein, genau dahin, wo das Nachthemd aufhörte. Wieder nichts, keine Bewegung. Anja schlief tief und fest.

Jetzt kam es darauf an, nichts zu überstürzen. Sie hatten es schon oft gemacht, ohne dass beide vorher wach waren. Und selbst dann – es war ja nicht so, dass sie sich gegenseitig kurz vorher noch irgendwelche Einverständniserklärungen überreichen würden! Und wenn er sich geschickt anstellte und sie ganz langsam und gemächlich aus ihrem Schlaf holte, dann würde sie nichts dagegen einzuwenden haben. Dann würde der kleine Überfall rückwirkend abgesegnet werden und alles wäre in bester Ordnung.

Trotzdem war Thamm etwas mulmig zumute. Es hatte schon oft geklappt, okay. Aber eben nicht immer. Und dann konnte Anja auch austicken, und zwar vom Feinsten, wahrscheinlich sogar zu Recht, denn auf die Nette war das ja nun nicht gerade. Außerdem – wollte er wirklich so den Einstand nach Bennis Geburt feiern? Aber vielleicht war es ja genau so die richtige Art, vielleicht musste es beim ersten Mal danach einfach so halb von selbst ablaufen und dann war der Knoten geplatzt.

Scheiße, du denkst zu viel, ermahnte sich Thamm und seufzte unterdrückt auf. Dann aber ging er es an, schob seine Hand unter ihr Nachthemd und ließ sie wie von allein nach oben gleiten. Nicht zu leicht, dass es kitzelte, nicht zu fest, dass sie gleich aufwachte. Einfach so eben. Den Daumen nicht zu sehr in die Mitte, da geht sie gleich an die Decke, dachte er, die Fingerkuppen nicht zu weit nach außen, das kitzelt wieder. Gott, ein Stress! Er hatte den Kopf zu voll, war nicht locker. Wie sollte das was werden?

Aber Thamm wollte es jetzt wissen, der verdammte Knoten sollte endlich platzen. Gordischer Knoten, dachte er, einfach zerkloppen und Ruhe ist.

Mit einer sicheren Bewegung seiner Hand schob er ihr linkes Bein nach vorn, sodass sie zur Hälfte auf dem Bauch lag, das eine Bein gestreckt, das andere leicht angewinkelt. Der schwerste Teil war getan. Nun hieß es, sich allmählich ranzupirschen. Wieder fuhr er ihr mit der Hand über den Schenkel, erreichte den Po, fühlte das Höschen und tastete nun ganz sanft an dem Stoffbund entlang. Es konnten nur noch Millimeter sein …

Genau in diesem Moment tauchte ein flackernder Blitz, der direkt vor dem Schlafzimmerfenster niederzugehen schien, den Raum in ein so grelles Licht, dass Anja kurz davon geblendet wurde und zusammenfuhr. Instinktiv schlug sie Thamms Hand zwischen ihren Beinen weg. Und war bei all dem noch nicht einmal richtig wach geworden.

So eine Scheiße, dachte Thamm verärgert. Dieser verdammte Blitz hatte ihn restlos aus dem Konzept gebracht. Und was nun? Alles auf Neustart – oder sollte er nach Anjas Abwehr lieber keinen zweiten Versuch unternehmen? Thamm zermarterte sich das Hirn, wie um alles in der Welt er sein beschissenes Sexualleben wieder zum Laufen bringen könnte und ob heute Nacht der geeignete Moment dafür war – da dröhnte der Donner schier ohrenbetäubend durch den Regen. Der enorme Knall hatte nur den Bruchteil einer Sekunde angehalten – Anja hatte diesmal überhaupt nicht reagiert, aber nebenan machte sich nun Benni bemerkbar. War ja klar – auch das noch, ächzte Thamm und ließ sich nach hinten in die Kissen fallen.

Als hätte jemand bei Anja irgendeinen Schalter umgelegt, war sie schon bei Bennis erstem Schluchzen hellwach. Sie setzte sich hin, hielt kurz inne, um den Schwindel in sich niederzukämpfen, dann stand sie auf und bahnte sich ihren Weg durch das dunkle Schlafzimmer. „Ich komm ja schon“, murmelte sie dabei, „ist ja alles gut, Mama kommt ja schon.“

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