Kitabı oku: «Am Rande der Glückseligkeit», sayfa 3
2
Brighton
»Ein wenig Baden im Meer würde mich für immer kräftigen«
»You know, I am from Halifax and I am looking for love.« Es ist ein unerwartet zarter Satz aus dem Mund eines angetrunkenen Mannes. Er steht am Eingang zum Palace Pier und trägt die Stranduniform des 21. Jahrhunderts, Muskelshirt, Shorts und Flip-Flops. Schon etwas älter und schwerer, ist sein Kopf gerötet von der südenglischen Sonne und dem Büchsenbier, das er in der Hand hält. Sein Körper schwankt, während er sich mit einem Pärchen unterhält, das am Eisstand wartet. Ganz klar ist es nicht, ob das Pärchen sich auch mit ihm unterhält, aber immerhin laufen die beiden nicht davon, sondern nehmen freundlich nickend zur Kenntnis, dass er seine Sehnsucht mit ihnen teilt. Dabei ahnt der Mann vermutlich nicht, dass er mit seinem schlichten Satz ein großes literarisches Erbe antritt. Denn schon zwei Jahrhunderte vor ihm träumt Lydia, jüngste Bennet-Tochter in Jane Austens Stolz und Vorurteil, davon, in Brighton die Liebe zu finden, bei Männern, die ebenfalls Uniformen tragen, allerdings vorteilhaftere: »Sie sah mit dem schöpferischen Auge der Phantasie die Straßen dieses glänzenden Badeortes voll von Offizieren. Sie sah sich selbst bei hunderten von ihnen, die sie noch nicht kannte, als Ziel der Aufmerksamkeit. Sie sah die ganze Herrlichkeit des Lagers, seine Zelte, die sich in Reihen von schöner Gleichmäßigkeit erstreckten, wimmelnd von Jugend und Heiterkeit und strahlend in Scharlachrot; und um das Bild vollständig zu machen, sah sie sich selbst in einem der Zelte sitzen und mit mindestens sechs Offizieren zugleich zärtlich flirten.«
An diesem warmen Tag im Mai, der sich wie ein Sommertag anfühlt, so gleißend ist das Licht, so makellos das Himmelsblau, wäre es ebenfalls ein Leichtes zu flirten. Doch die meisten Leute am Strand von Brighton scheinen die Liebe schon gefunden zu haben. Jüngere und ältere Paare sind unterwegs, viele Familien, von denen einige riesiges knallbuntes Strandspielzeug schleppen, Schaufeln, Bälle und Fabelwesen aus Plastik. Sie sind auf der Suche nach einem Platz, wo sie sich den Rest des Tages niederlassen werden, um den Fabelwesen das Schwimmen beizubringen. Der Mann vor dem Palace Pier ist mittlerweile in der Menge verschwunden, die die legendäre Seebrücke bevölkert. Ein Ort, von dem eine merkwürdige Anziehungskraft ausgeht, auch wenn man Rummelplätze und Kirmessen lieber meidet, zu bunt, zu grell, zu laut. Doch der Palace Pier ist ein eigener kleiner Planet, der seine Gäste mit viel Glitzer und Tamtam umgarnt. Das Herzstück der Seebrücke bildet The Palace of Fun, eine familienfreundliche Spielhalle mit Automaten, die Pac Man Smash, Hippodrome oder Disco Fever heißen. Es gibt keine Fenster im Palace of Fun und wenn man eine Weile da ist, vergisst man irgendwann, dass man ein paar Meter über dem Meer steht, dass draußen die offene Welt ist, Strand, Sonne, Himmel und Luft, weswegen man doch gekommen ist, eigentlich, vermutlich, vielleicht. Ich schaue den Leuten eine Weile zu, die zu vertieft sind in ihrem Spiel, um es zu bemerken. Die Zwillingsmädchen, die mit ihrem Vater versuchen, pinkfarbene Einhörner und traurig dreinschauende Boxerhunde aus einer Glasbox zu angeln. Die ältere Frau mit Strohhut, die, bevor sie ihre Jetons in einen Automaten schiebt, das silberne Kreuz an ihrer Kette küsst. Doch das ist noch nicht alles, hinter dem Spaßpalast müssen Schießbuden, Achterbahn, Crazy Mouse und Twister besichtigt werden, bevor man den Höhepunkt der Seebrücke erreicht: The Booster. Eine Todesmaschine über dem Meer, die mit einer fantastischen Aussicht wirbt. Man muss sich nur in einem Stuhl festschnallen und kopfüber um die Achse eines sehr hohen Krans wirbeln lassen. I would prefer not to.
Ende des 18. Jahrhunderts kommen die Menschen, die es sich leisten können, noch nicht in Scharen in die Landschaft, die sie gerade »erfunden« haben. Aber wen es herführt, der passt seinen Tagesablauf der Gegend bereits an, wie eine gewisse Lady Newdegate 1797 ihren Mann in einem Brief wissen lässt. Weil die Vergnügungstempel erst noch errichtet werden müssen, vergehen die Tage im wechselnden Rhythmus von drinnen und draußen, was der Lady keineswegs zu missfallen scheint. »Ich nehme an, du wirst wissen wollen, wie du tagsüber an uns denken sollst, deshalb übermittle ich dir unser übliches Programm: aufstehen um sieben, baden oder wandern von acht bis neun, dann Frühstück; von zehn bis zwölf oder eins durch die Downs fahren, in unserem Erker sitzend aufs Meer schauen bis halb zwei, dann zu Mittag essen, Tee um sechs, wieder ausfahren bis gegen acht und dann faulenzen am Strand oder auf dem Steyne bis neun, wenn wir zu Abend essen und um halb elf schlafen gehen.« Nun kann man diesen Gleichklang der Tage mögen oder nicht – gerade der Tagesordnungspunkt »in unserem Erker sitzend aufs Meer schauen bis halb zwei« scheint mir für einen geistig tätigen Menschen besonders verführerisch zu sein –, doch gehen die Meinungen unter denen, die Brighton während seines Aufstiegs zum Seebad erster Güte besuchen, auseinander. Samuel Johnson, der englische Gelehrte, Schriftsteller und Kritiker mit besonders scharfer Zunge, ist offensichtlich kein Freund des Müßiggangs, und wirft man einen Blick auf das umfangreiche Werk, das er hinterlassen hat, dann verwundert es nicht. Allein am Dictionary of the English Language, einem Standardwerk seiner Epoche, arbeitet er neun lange Jahre. Als Johnson im Herbst 1782 im hohen Alter Freunde nach Brighton begleitet, geht ihm die Gegend gänzlich ab. »Die Landschaft«, habe er der Freundin zufolge geknurrt, »ist so überaus öde, dass man, käme es einem in den Sinn, sich aus Verzweiflung darüber, hier leben zu müssen, aufzuhängen, nur schwerlich einen Baum fände, um daran das Seil zu befestigen.« Als einige Jahrzehnte später Charles Dickens – vierundzwanzig, frisch verheiratet, an Oliver Twist schreibend – das erste Mal nach Brighton kommt, ist der Strand bereits viel belebter und sein Urteil entsprechend milder. »Ich könnte hier keinen ganzen Herbst verbringen, aber es ist ein netter Ort für etwa eine Woche; und wenn man lacht oder weint und jene innere Aufruhr erleidet, die manche Menschen über ihren Büchern erfahren, ist es eine willkommene Abwechslung, aus dem Fenster zu schauen, die kleinen goldenen Spielzeuge zu Pferde vor dem gewaltigen Meer auf und ab gehen zu sehen und an nichts weiter zu denken.« Am Fenster sitzen und gedankenverloren aufs Meer schauen, das ist die neue Mode, die außer bei Samuel Johnson eine beliebte Beschäftigung unter den Besuchern Brightons zu sein scheint. Und es ist ja auch eine Frage der Perspektive und des Gemüts, ob man die große Aussicht auf Strand, Wellen und Wolken als ewig gleich und also ermüdend oder immer anders und also belebend erfährt. William Makepeace Thackeray scheint sie so sehr zu beflügeln, dass er in seiner Gesellschaftssatire Jahrmarkt der Eitelkeiten George Osborne und Amelia Sedley ihre Flitterwochen hier verbringen lässt und den Aufenthalt im Seebad als heilend für Körper und Seele preist: »Warum ist ein Tag in Brighton der beste Doktor? Ich meine das nicht als Scherzfrage, doch ich stand hungrig auf und lag den ganzen Tag gähnend in der Sonne wie ein fetter Nichtsnutz, den ganzen Tag sehr glücklich. Ich habe ein Fenster mit großartiger Aussicht, eine frische Seebrise weht herein, von solch einer blauen See dort drüben, die kaum von Neapel und dem Blau des Mittelmeers überboten werden kann.« Dass Thackeray den Vergleich von Brighton mit einem Doktor anstellt, zielt in die richtige Richtung, denn einfach nur wegen der frischen Brise anzureisen reicht nicht aus. Besser man hat einen vernünftigen Grund, und welcher böte sich da mehr an als die eigene Gesundheit? So wollen in Stolz und Vorurteil schließlich auch Lydias Mutter und ihre Schwester Kitty an den Strand aufbrechen. »›Wenn wir nur nach Brighton gehen könnten!‹ bemerkte Mrs. Bennet. ›Ach ja, wenn wir nur nach Brighton gehen könnten! Aber Papa ist so widerwärtig.‹ ›Ein wenig Baden im Meer würde mich für immer kräftigen.‹ ›Und Tante Philips ist sicher, dass es mir sehr gut tun würde‹, fügte Kitty hinzu.«
Auch wenn die Strände im Süden Englands nicht so breit sind wie die an holländischen Küsten, so sind sie doch ebenso einladend. Der englische Historiker John K. Walton erklärt, warum: »Für die frühen Anhänger des therapeutischen Bades im Meer wie für die viktorianischen Mittelschichtsfamilien und die Ausflügler des späten 19. Jahrhunderts war der bequeme Zugang zu einem sauberen Sandstrand das Wichtigste. Eine gerade Küstenlinie mit sanft abfallenden Klippen war besonders beliebt, denn so konnten sich die Besucher unterschiedlicher Klassen und Einstellungen der Länge nach über den Strand verstreuen und denselben Urlaubsort ohne Feindseligkeiten und Konflikte teilen.« Dass gerade Brighton sich schnell großer Beliebtheit erfreut, hat die Stadt am Ärmelkanal vor allem einem Mann zu verdanken, der Expertise und Publicity besonders geschickt miteinander verknüpft: Doktor Richard Russell. Auf dem einzigen Porträt, das sich von ihm finden lässt, schaut der stolze bleiche Mann mit Perücke und Doppelkinn eher finster drein. Oder soll man es nachdenklich nennen?
Wie auch immer, es ist jedenfalls die Wirkung von frischer Luft und kaltem Wasser, die Richard Russell propagiert und die ihm bald viele Anhänger beschert. Nachdem er 1750 in seiner Dissertation bereits die positiven Effekte von Meerwasser auf die menschlichen Drüsen beschrieben hat, zieht er drei Jahre später nach Brighton, weil er überzeugt ist und andere davon überzeugen will, dass Meerwasser gesünder ist als das der öffentlichen Bäder in den Städten. Ein Argument, dem man sofort folgt, wenn man nur einmal von den skandalösen hygienischen Zuständen in den schnell wachsenden Metropolen gehört hat. Auch wenn uns die Idee heute so schlicht wie ergreifend vorkommt, muss sie seinerzeit durchaus als Neuigkeit vermittelt werden. So vom Arzt John Awsiter, einem Schüler Russells, der 1768 schreibt: »Das Baden im Meer zum Vergnügen erwächst aus zweierlei Motiven: der Liebe zur Sauberkeit und der Belebung, die ein kaltes Bad dem Körper spendet, indem es ihn erfrischt und kühlt.« Und so spricht ein weiterer Vorzug für die Erweckung Brightons – oder Brightelmstons, wie es anfangs noch heißt – als Seebad. Dessen Strand ist nämlich nicht nur leicht erreichbar, sondern die natürlichen Gegebenheiten sorgen zudem für eine besonders gute Wasserqualität, so Doktor Awsiter weiter: »Dazu trägt ein abschüssiger Sandstrand bei, wo das Wasser klar ist, frei von schlammigen Zuflüssen, die immer einen Anteil Schmutz enthalten; wo er sich allmählich zum Wasser hin senkt und nicht felsig ist; und wo die Gezeiten nicht zu plötzlich wechseln, was das Baden gefährlich machen würde. So ein Strand ist für das Meerbaden zu bevorzugen, und der perfekten Formung solch eines Strandes kann sich Brightelmston rühmen.« Allerdings kommen mit der vorteilhaften geografischen Lage auch Nachteile. Weil Brightelmston am offenen Meer liege, so führt John Awsiter weiter aus, sei es vor starken Winden nicht geschützt und könnten sich besonders Frauen bei widrigem Wetter in Gefahr begeben. Jedoch stehe dafür eine einfache Lösung parat: Die bathing machines müssen je nach Wetterlage in die richtige Position geschoben werden. Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass ein Strandbesuch, der sich nicht auf einen Spaziergang beschränken soll, eine komplizierte Angelegenheit ist. Hatte es schon Überwindung gekostet, den sandigen »Überschwemmungsboden« überhaupt einmal zu betreten, so ist der Schritt, die Grenze zwischen den Elementen zu überwinden, ungleich einschneidender. Eine »Bademaschine« – was weit futuristischer klingt als unser »Badekarren« – soll dabei helfen, dieses Ritual geschützt vor den Blicken anderer zu vollziehen. Detailliert berichtet Georg Friedrich Lichtenberg davon in seinem bereits erwähnten Aufsatz, der die Deutschen vom Sinn eines Seebades überzeugen soll. In Margate, per Kutsche eine Tagesreise von Brighton entfernt, hat er solch eine hölzerne, von Pferden gezogene Hütte bestiegen, seine Kleider abgelegt, ist ein Seil fassend die schmale Treppe ins kalte Wasser hinabgestiegen und berichtet seinen Landsleuten vom folgenden Prozedere: »Wer untertauchen will, hält den Strick fest und fällt auf ein Knie, wie die Soldaten beym Feuern im ersten Gliede, steigt alsdann wieder herauf, kleidet sich bey der Rückreise wieder an u. s. w. Es gehört für den Arzt zu bestimmen, wie lange man diesem Vergnügen (denn dieses ist es in sehr hohem Grade,) nachhängen darf.« Idealerweise möge man das Ritual am Morgen ausführen, fügt Lichtenberg noch hinzu, im Sommer zwischen sechs und halb neun. Vermutlich, weil die Sonne den Effekt der Frische sowie die vornehm helle Hautfarbe verderben könnte, die als Distinktionsmerkmal der upper class noch üblich ist. Damit die den komplizierten Badeakt nicht allein bewältigen muss, wird sie von unerschrockenen Dienstleuten begleitet, natürlich nach Geschlechtern sortiert. Männliche bather sind für die Herren zuständig, weibliche dipper kümmern sich um die Damen. Die von John Awsiter verbreitete These, sie seien in den frischen Wellen des Ozeans gefährdeter als Männer, scheint bei den Ladys auf Widerhall zu stoßen. Noch haben sie keine Erfahrung, mit welchen Gefühlen sie sich den kalten Fluten nähern sollen. Alain Corbin schreibt: »Bei Kindern wie bei jungen Frauen löst der Gedanke, gewaltsam ›in die hohle Welle‹ getaucht zu werden, Angst, mitunter sogar Panik aus. Das erste Bad hat Initiationswert. Es kommt vor, daß der Arzt furchtsamen Kindern das Baden im Meer verbietet, weil sie Krämpfe bekommen könnten.« Ob Richard Russell zu diesen vorsichtigen Ärzten gehört, darf bezweifelt werden. So enthusiastisch ist er über die positiven Wirkungen des Meerwassers, dass er neben der äußeren Anwendung auch die innere empfiehlt und seine Patienten und Patientinnen das salzige Wasser anfangs auch trinken lässt. Eine Art der Behandlung, die er alsbald wieder aufgibt, wohl weil er feststellen muss, dass die »innere Reinigung« bei manch zarterem Organismus mit heftigem Erbrechen einhergeht. Aber diese Art des trial and error gehört offensichtlich dazu, wenn am Rande der alten eine neue Welt erschlossen werden soll.
Mehr noch als in Stolz und Vorurteil lässt sich diese in Jane Austens letztem Roman besichtigen, der unvollendet bleiben muss, weil die Schriftstellerin während der Niederschrift 1817 mit nur einundvierzig Jahren stirbt. In Sanditon steht der fiktive Thomas Parker dem realen Richard Russell in seinem Ehrgeiz keineswegs nach. Das strandnah gelegene Nest Sanditon – allein der Name ist wunderbar vielsagend – will er in ein Seebad erster Güte verwandeln und hofft dabei auf Unterstützung der grantigen, aber sehr reichen Lady Denham, bei der vor Ort alle wichtigen gesellschaftlichen Fäden zusammenlaufen. Schon zeigen sich erste Zeichen einer Belebung, wie Thomas Parker in »höchster Seligkeit« feststellt, als er sich Sanditon in einer Kutsche nähert, doch der gewünschte Ansturm will sich nicht so recht einstellen. Immerhin hat er in Edward, dem Erben Lady Denhams, einen würdigen Mitstreiter, der bei einem Spaziergang bildreich über alle Facetten der Landschaft parliert. »Er begann in einem Tonfall größten ästhetischen Empfindens und Gefühls über das Meer und seine Küste zu sprechen und durchlief mit Vehemenz alle die üblichen Phasen, mit denen ihre Erhabenheit gepriesen wird, und beschrieb die unbeschreiblichen Empfindungen, die sie im Gemüt erregen. Die beängstigende Großartigkeit des Ozeans in einem Sturm, seine spiegelnde Oberfläche in einer Windstille, seine Möwen und Meerfenchel, die bodenlosen Tiefen seiner Abgründe, seine schnellen Veränderungen, seine verhängnisvollen Täuschungen, seine Seeleute, die es bei Sonnenschein hinauslockt und die in dem plötzlich aufkommenden Sturm untergehen – alles wurde lebhaft und vollendet angetönt, etwas gemeinplätzig vielleicht, aber von den Lippen eines schönen Sir Edward durchaus erträglich«.
Als Jane Austens Sanditon 1925 posthum erscheint, ist Brighton bereits ein gut ausgebauter Hotspot, dessen vornehme Häuser und Plätze sich nicht zuletzt den kolonialen Eroberungen des Britischen Empires verdanken. So lässt ein gewisser J. B. Otto, der sein Vermögen als Farmer auf den Westindischen Inseln gemacht hat, um 1800 vierzehn Herbergen in einem schön geschwungenen Bogen errichten und nennt sie Royal Crescent. Es folgen Bedford Square mit zweiundvierzig und Regency Square mit siebzig eleganten Stadthäusern für all jene Besucher Brightons, die es sich leisten können, den englischen Großstädten zu entfliehen, wo die beginnende Industrialisierung ungekannten Lärm und Gestank verbreitet. Die Fabrikarbeiter, die alldem jeden Tag zwölf bis vierzehn Stunden ausgesetzt sind und deren Haut und Lungen Sonne, Licht und Luft ebenfalls guttun würden, können sich zu diesem Zeitpunkt einen Ausflug an die Küste allerdings nicht leisten, noch nicht. Für jene, die keine Geldsorgen plagen, werden unterdessen in Brighton wie in Scheveningen Badehäuser mit echtem Meerwasser errichtet, das man nach Belieben erwärmt. Eine bequeme Angelegenheit, die ein geschäftstüchtiger Mann aus Indien noch zu verfeinern weiß. Einst Soldat in Diensten der Britischen Ostindien-Kompanie, zieht Sake Dean Mahomed 1814 nach Brighton, um dort eine Sitte aus seiner Heimat Bengalen zu etablieren: das Shampoo- und Saunabad. Das Wort Shampoo leitet er vom indischen »Champi« ab, was so viel wie Kopfmassage bedeutet und worauf die wohlhabenden Engländer gewartet haben müssen, so glänzend laufen die Geschäfte. Selbst König George IV. lässt sich regelmäßig mit von indischen Kräutern durchsetzten Wassern behandeln und verleiht Sake Deen Mahomed den so einmaligen wie würdevollen Titel Shampooing Surgeon of the King. Dass der Mann zweiundneunzig Jahre alt wird, seinerzeit ein wahrhaft biblisches Alter, mag als schlagender Beweis der Wirksamkeit seines Bades genügen. Wie fragil das Bemühen um die Durchsetzung hygienischer Maßnahmen dennoch ist, zeigt sich, als 1849 eine Cholera-Epidemie ausbricht und sich auch über das Badewasser verbreitet. Denn Brighton hat zwar acht Kilometer Kanalisation, jedoch ist die nur für Regenwasser ausgelegt. In den Häusern der gewöhnlichen Bewohner sind die Zustände immer noch katastrophal, und selbst da, wo das Abwassersystem funktioniert, endet es im Meer.
Dennoch verbreiten sich die von Richard Russell und seinen Schülern propagierten Ideen über die gesundheitlichen Vorteile von Meerwasser rasant, und die Anwesenheit der königlichen Familie sorgt für zusätzliche Strahlkraft des Seebades. Doch sind es nicht nur Gesundheit und Geselligkeit, die die Menschen ans Meer locken, sondern auch seelische Konstellationen, deren sie sich möglicherweise gar nicht bewusst sind. So nimmt Alain Corbin das big picture in den Blick und erklärt: »Mehr noch als das Land verkörpert der Ozean die unwiderlegbare Natur, die sich nicht schmücken läßt und keine Lüge duldet. So entsteht das Paradox, auf dem die Mode des Strandaufenthalts beruht. Das Meer wird eine Zuflucht, es gibt Hoffnung, weil es Angst einflößt. Es eben deshalb zu genießen, den Schrecken unter Abwendung jeder realen Gefahr zu empfinden, ist die neue Strategie des Kuraufenthalts an der Küste. Hinfort begegnet man dem Meer mit der Erwartung, daß es die Ängste der Elite beruhigt, die Harmonie zwischen Körper und Seele wiederherstellt und dem Verlust der Lebensenergie einer Gesellschaftsschicht, die sich besonders um ihre Kinder, ihre Töchter, ihre Frauen und ihre Denker sorgt, entgegenwirkt.« Wohl eher instinktiv als überlegt hat die Elite das verstanden. Aus einem einstigen Fischerdorf wird binnen kürzester Zeit eine florierende Stadt, und bald gilt Brighton als größtes Seebad Englands, das der wachsenden Konkurrenz mühelos trotzt und sich ganz den Bedürfnissen der Strandbesucher unterwirft. Die schätzen vor allem die Nähe zu London. In nur sechs Stunden erreicht eine Kutsche aus der Hauptstadt das Seebad, und der Reiseschriftsteller Dr. John Evans glaubt, diese Fahrtzeit würde schon bald durch den Einsatz von Heißluftballons noch einmal um zwei Drittel verkürzt. Die städtische Infrastruktur jedoch kann mit dem Ansturm der Besucher kaum mithalten, die für ein paar Stunden am Meer sogar ihre höchsten Ansprüche fahren lassen. So macht sich der Unterhaltungsschriftsteller George Saville Carey mit einem satirischen Gedicht darüber lustig, dass in Brighton sogar Lords and Ladies in kleinen Häusern zusammenrücken, die nur mit Stuhl und Tisch, Klo und Topf ausgestattet sind. Jedoch – bis heute eine selten hartnäckige Überzeugung zivilisierter Großstädter – preisen die Herren und Damen das, was sie in der großen Stadt empört ablehnen würden, am Meer als urig und gemütlich.
Here Lords and Ladies oft carouse
Together in a tiny house;
Like Joan and Darby in their cot,
With stool and table, pit and pot;
And what in town they would despise,
His Lordship praises to the skies.
In den 1860er Jahren wird das Angebot schließlich der Nachfrage angepasst. Zu den privaten Stadthäusern fügen sich große Hotels im Stile der Neogotik oder Neo-Renaissance. In Brighton stellt das 1864 eröffnete Hotel The Grand alles bis dahin Gesehene in den Schatten. Nun finden nicht mehr nur Adel und Großbürgertum eine ihnen gemäße Unterkunft, sondern auch die durch Stahl, Textil und Kohle zu Geld gekommenen nouveaux riches, die ihren Wohlstand in den Restaurants und Rauchzimmern mit modernster Ausstattung und im aktuellsten Design zur Schau stellen und sich im The Grand mit dem ersten englischen Aufzug außerhalb Londons in ihre Zimmer befördern lassen.
Es ist ein historisches Detail, an das mich Geoffrey Mead erinnert, mit dem ich auf der West Street, einer langen Geschäftsstraße nur einen Block vom Strand entfernt, verabredet bin. Vor seiner Pensionierung hat er an der University of Sussex Geografie und Regionalgeschichte gelehrt, später aus seiner Profession ein Hobby gemacht, und lange hält sich der aufgeweckte Herr im leichten Sommeranzug nicht mit der Begrüßung auf. Er findet es ganz wunderbar, mich durch seine Stadt, über seinen Strand zu führen, denn dieser Tag – das wird das Mantra unserer Begegnung – ist dafür »perfect, absolutely perfect«. Wir spazieren über den Regency Square, einen weiten viereckigen Platz mit Blick aufs Meer, in dessen grüner Mitte ein paar Leute Yoga machen. Anlass für Geoffrey Mead, mir die Atmosphäre seiner Stadt zu beschreiben: »Es ist ein Ort, an dem jeder willkommen ist, es ist ein Ort des laissez faire. Das zeigt sich schon daran, dass es hier eine der größten Gay-Communities des Landes gibt, dazu viele Studenten, Leute aus dem Nahen Osten. Die Zeit des Adels und der besseren Gesellschaft ist längst vorbei. Heute gehört die Stadt Tom, Dick und Harry.« Oder wie man bei uns sagen würde: Heute kommen Hinz und Kunz. »Außerdem«, fügt Geoffrey Mead hinzu, »befinden wir uns an der Küste immer on the edge of the land, am gefährlichen Rand des Festlands. Hier kann man sich Dinge erlauben, die anderswo nicht gehen. Was glauben Sie, wie viele Affären hier laufen!« Das glaube ich gern und muss an Jane Austens Lydia Bennet denken. Denn bevor der Regency Square seine heutige Gestalt angenommen hat, soll gerade dieser Platz als Belle Vue Field, als Camp für ebenjene Offiziere gedient haben, von denen Lydia Bennet so leidenschaftlich träumt. Man sieht es vor sich, wie sie in einem der Häuser auf der Fensterbank sitzt, den Horizont im Blick und doch sehnsüchtig auf die schneidigen Soldaten wartend. Für eine Belle Vue, eine gute Aussicht, haben die Architekten schon gesorgt. »Sehen Sie die gerundeten Erker an den Häusern?«, fragt Geoffrey Mead. »Das hat nicht nur ästhetische, sondern vor allem praktische Gründe, denn so kann in die Zimmer dahinter länger die Sonne scheinen.« Und man kann die Leute besser beobachten, von welcher Seite sie auch den Platz überqueren.
Am Strand von Brighton angekommen, können wir uns über zu wenig Sonne nicht beklagen, höchstens über zu wenig Sand. Denn obwohl Zeitzeugen früherer Jahrhunderte noch von einem Sandstrand berichten, der vor allem aus Kalkstein bestanden haben muss, setzt er sich heute aus unzähligen Kieselsteinen zusammen, die von Buhnen zurückgehalten werden. Mal blau, gelb, weiß, dann wieder grau oder rötlich, aber immer vom Wasser geformt, sind diese shingles rundlich und liegen weich in der Hand. »Es gab Zeiten, da wurden vor allem die blauen Steine gesammelt, zerstoßen und für Keramik verwendet«, erzählt Geoffrey Mead, dem es offensichtlich ganz und gar nichts ausmacht, auf den Kieselsteinen zu sitzen, die wirklich nur in der Hand weich sind. Er ist sogar davon überzeugt, dass Steine viel angenehmer sind als Sand. »Man macht sich nicht schmutzig und man bleibt verschont von Sand, der an allen Gliedern klebt!«
Gemeinsam spazieren wir Richtung Palace Pier, immer parallel zur Kings Road, unter der die Kings Road Arches liegen, tiefe Gewölbe, in denen Läden, Eiscafés und Imbissbuden eingerichtet sind. Alles ist frisch renoviert und soll den Eindruck von Gediegenheit und Tradition vermitteln, mit sandfarbenen Arkaden, tannengrünen Toren und altmodisch geschwungenen Lettern. Darunter werden die Standards der Strandverpflegung angeboten: Ice Cream, Hot Dogs, Fish & Chips, während vor der Antifox Gallery ein Mann eine nackte Frau mit Flügeln malt, die über einer toskanisch anmutenden Landschaft schwebt, und nebenan Muschelschmuck, Kleiderhaken in Fischform und grobe Holztafeln mit nützlichen Tipps: Time to drink champagne and dance on the table. Geoffrey Mead weist mich dagegen auf zwei Läden hin, die sich zwischen all dem Talmi mit Handfestem behaupten. In Jack & Linda’s Brighton Smokehouse gibt es fish-to-go und man will gern glauben, dass alles Getier tatsächlich erst am selben Morgen aus dem Meer geholt und in der kleinen schwarzen Hütte direkt am Strand geräuchert wurde. Für Meeresfrüchte ist der Laden nebenan zuständig. Bei Sea Haze bekommt man Krabben, Muscheln und Tintenfisch ebenfalls fangfrisch im Pappbecher überreicht. Mein Guide lässt es sich nicht nehmen, mir das Personal vorzustellen und es in ein Fachgespräch über die Geschichte des Fischmarktes zu verwickeln, der hier bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gelegen hat. Denn wo heute Nippes und Fisch verkauft wird, deponierten einst Fischer ihre Boote und Netze, bevor die Hoteliers auf der anderen Seite der Straße sich im Namen ihrer noblen Gäste über den Gestank beschwerten, die Fischer vertrieben und die Gewölbe stattdessen als Lager- und Kühlräume verwendeten. Weil diese Geschichte der Verdrängung – die sich hier nur beispielhaft für viele andere Orte abspielt – oft genug nicht miterzählt wird, befindet sich gleich neben dem Smokehouse eine kleine historische Wunderkammer, das Brighton Fishing Museum. Sein Herzstück ist die Sussex Maid, ein aufpoliertes Fischerboot, das fast den ganzen Raum einnimmt, ein Relikt aus jenen versunkenen Zeiten, von denen auch die Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden Zeugnis geben. Auf einem haben sich einige Männer in einem Boot aufgestellt, das neben der Kings Road an Land liegt. Am Strand stehen schon einige Badekarren, weiter hinten ein prächtiges neues Haus, vielleicht ein Hotel. Es sind die Vorboten der schönen neuen Badewelt, der die Männer in dem Boot ganz sicher skeptisch gegenüberstehen, so ernst wie sie gucken, in ihren steifen Hüten und dunklen Anzügen, die sie vermutlich extra für dieses Bild aus dem Schrank geholt haben. Ich gebe zu, mich machen solche Aufnahmen melancholisch.
»Und hier, das ist übrigens die berühmte Martha Gunn.« Bevor er sich von mir verabschiedet, zeigt mir Geoffrey Mead ein Bild, besser gesagt die schon etwas verblichene Kopie des Porträts einer Frau in mittleren Jahren. Die Kleidung hochgeschlossen, rahmt eine weiße Rüschenhaube das rundliche Gesicht ein, darüber ein großer Hut. In den Armen hält sie ein gut genährtes, nacktes Kind mit rötlichen Locken, das etwas unglücklich dreinschaut. Als ich die Beschreibung lese, wird mir auch klar, warum sich die Lippen des Kindes kräuseln, als fange es gleich zu weinen an. »Martha Gunn, eine Brightoner Badefrau, ein Kind haltend, das sie gerade vor dem Ertrinken gerettet hat«. Eine Heldin ist sie also auch, diese Frau, die sechs Jahrzehnte lang als dipper fröstelnde, aufgeregte Ladys ins Wasser taucht und außerdem acht Kinder bekommt. Eine echte Institution in Brighton, die der Morning Herald einmal als »ehrwürdige Priesterin des Bades« preist und ein Wortspiel mit Federvieh anbringt: »Viele unserer liebenswürdigen Schönheiten nahmen zum Frühstück ducks [Tauchgänge], erstanden von ihrer Wirtin, Martha Gunn, die damit prahlt, von dem hübschen Gewinn, den ihr der Verkauf ihrer ducks einbringt, oft eine goose [Gans] zum Abendessen erstehen zu können.« Zu Gunns illustren Kunden zählt sogar die königliche Familie, so soll sie George IV., seinerzeit Prince of Wales, als er noch ein kleiner Junge war, gebadet haben. So will es jedenfalls ein volkstümlicher Reim. »To Brighton came he, came George III’s son. To be bathed in the sea, by famed Martha Gunn.« Andere Quellen behaupten, George IV. sei erst mit einundzwanzig überhaupt nach Brighton gekommen. Entscheidend ist, die beiden haben einander gekannt, und während der Prinz für alle anderen His Royal Highness ist, nennt Martha Gunn ihn Mister Prince. Und so wie Martha Gunn ist auch Brightons berühmtester bather John Miles alias Old Smoaker stets zu Diensten und lässt sich vom gesellschaftlichen Stand nicht beeindrucken. So warnt er den Prince of Wales einmal vor schlechtem Wetter, und als der sich unbeeindruckt zeigt, zieht Old Smoaker ihn an den Ohren aus dem Wasser und schimpft: »Ich werde mich nicht vom König hängen lassen, nur weil der Prinz ertrinkt.« George IV. nimmt ihm diese recht unroyale Maßnahme nicht übel, erfindet einmal mehr einen neckischen Titel: Er ernennt John Miles zum royal bather und ein Pferderennen zu Smoaker Stakes.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.