Kitabı oku: «Magnetfeld der Tauben», sayfa 2

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«Du hast gefragt, worin der Sinn besteht, etwas Sinnloses zu tun», sagt Cla. «Was, wenn es gar nicht um den Sinn geht, sondern einzig um die Schönheit?»

Sie lächelt.

«Du meinst, wir können stets nur das Schöne erkennen, nicht aber den Sinn?»

«Das Schöne ist vielleicht der Sinn», lächelt Cla.

«Es ist manchmal so schwer zu ertragen!», stöhnt Sarah.

Cla greift nach ihrer Hand. Sein Pulsschlag geht über in ihren.

Sie spazieren durch den Arvenwald zurück. Viele Mythen kreisen um dieses Wäldchen. Hier wachsen die höchst gelegenen Arven, deren Holz die Seele besänftigt. «Nichts», denkt sie. Sarah fühlt sich frisch und gereinigt.

«Hier soll eine Waldfee wirken, welche den Spaziergängern ihre Lebensaufgabe offenbart. Man muss ganz still sein, damit sie sich mitteilen kann. Manchmal spricht sie in Sätzen, manchmal in Bildern. Es gibt Menschen, die sie sogar sehen können.»

«Und wie rufe ich sie?», fragt Sarah.

«Es reicht, wenn du gedanklich das Wort an sie richtest. Aber Vorsicht! Wer sich gegen seine Aufgabe stemmt, dem droht Ungemach. Man darf die Frage nicht vor dem dreissigsten Lebensjahr stellen, so der Volksglaube.»

«Lebensaufgabe», sinniert Sarah. «Während meiner Kindheit und Jugend in Rumänien war irgendwie klar, worin die Lebensaufgabe bestand: Den Kindern sollte es einmal besser gehen als den Eltern. Sie sollten eine gute Bildung bekommen, vielleicht ihr Glück im Ausland versuchen. Und jede Familie hatte ihre Mantren, welche die Grosseltern den Enkeln weitergaben, kleine Weisheiten, die einen durchs Leben brachten. Während meiner Studienzeit in Deutschland stürzte ich mich auf deutschsprachige Sinnsprüche. Ich lernte Goethe auswendig: ‹Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.› Ich war wahnsinnig stolz auf meine Fortschritte, auf mein Verständnis für die Tiefe der Seele. In der deutschen Sprache sah ich beides vereint, Logik und Seelentiefe. Dann merkte ich bald, dass diese Werte nichts mehr zählen sollten. Niemand sprach mehr über Goethe oder Hölderlin. An der Uni lasen wir sogenannte postdramatische Texte, die so viel besagten wie: Es gibt keine Geschichten mehr, keine Wahrheiten, nur noch Diskurse!»

Cla lacht.

«Und dann kommst du in die Natur, und sie beginnt dir unweigerlich Geschichten zu erzählen. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht irgendwas lehrt.» Sie atmet den Duft des Waldes ein. «Heil den unbekannten höheren Wesen, die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr‘ uns jene glauben.» Zum ersten Mal versteht sie diese zweite Strophe von Goethes Gedicht «Das Göttliche». Der tugendhafte Mensch soll den anderen durch sein Vorbild das Göttliche näherbringen, denn das Göttliche wird erst durch den Menschen sichtbar. «Denn unfühlend ist die Natur: Es leuchtet die Sonne, über Bös‘ und Gute, und dem Verbrecher glänzen, wie dem Besten, der Mond und die Sterne.»

Die Sonne taucht die Berge in rosa Licht. Die rot-gelben Blätter rascheln im Wind. Sarah berührt sanft Clas Arm. «Ich danke dir für diesen herrlichen Tag!»

Das Restaurant Inez liegt bereits im Schatten, davor steht neben Clas Geländewagen ein roter Peugeot.

In dem Moment taucht in Sarahs Augenwinkel Pascal auf. Er steuert auf sie zu.

«Pascal!», ruft sie entgeistert.

Er blickt sie wütend an, so wie nur der Liebste blickt, wenn er verletzt wurde. Ein angeschossenes Tier.

«Das ist Cla», sagt sie. «Er hat mir mit den Gedichten geholfen.» – «Mein Freund», sagt sie zu Cla.

«Schön dich kennenzulernen», sagt dieser ruhig.

«Wir sehen uns unten!», sagt Pascal trocken.

«Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Probleme wegen mir», sagt Cla.

«Wir haben nichts zu bereuen, oder?», fragt Sarah.

Keiner von ihnen spricht mehr ein Wort. Die Gesteinsmassen drücken. Pascals Eifersucht mischt sich mit ihrem schlechten Gewissen. Sie versucht, die Gefühle auseinanderzudröseln.

Cla streicht ihr ein letztes Mal über die Wange. «Du hast nicht gefragt», sagt er.

Sie lächelt traurig.

Mit hängenden Schultern betritt sie das Haus.

Sie geht die Stufen hoch in ihr Atelier. Wird Pascal gleich mit dem Rad heimkommen? Wird er draussen auf die Nacht warten oder irgendwo ein Bier trinken? Auf dem Schreibtisch liegen Abzüge von Pascals neuster Arbeit. Daneben eine Lupe. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, betrachtet die Bilder des Geräteraumes der Sekundarschule und den Maschinenraum der Bergbahnen. Sie nimmt die Lupe zur Hand. Sie erkennt auf dem Gymnastikpferd ein eingeritztes Herz, darin eingraviert ein Schriftzug: «Sarah». Sie untersucht den Maschinenraum. Dort ist auf einer Schneekanone zu entziffern «I love Sarah».

Sie freut sich auf den ersten Schnee.

Im Windschatten

Sie sitzt gerne auf einer Bank, obwohl das heutzutage niemand mehr tut, der nicht seinen Überfluss an Zeit zur Schau stellen will. Es wäre ja auch etwas unverschämt, über zu viel Zeit zu verfügen. Henriette sinniert gerne. Was das Parkbanksitzen in New York vom Parkbanksitzen in Rucol unterscheidet. Abgesehen von der Natur, um die man im Engadin schlecht herumkommt, es sei denn, man fände einen Reduiteingang, verbrächte die Tage im Stollen, und ignorierte fortan die Tatsache, im Berg zu wohnen, wie die Höhlenmenschen in Platons Gleichnis. In New York geniesst man die Natur im Park und verwechselt den Park mit der Natur. Die Pischana, der stattliche Hausberg Rucols, das ist Natur, aber so ein Central Park? Werden da nicht regelmässig Bomben deponiert?

Henriette besitzt die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Nicht dass sie sich in Luft auflösen könnte, nein, nein. Vielmehr scheint sie alle von ihr ausgehenden Signale ausschalten zu können, um so chamäleongleich mit der Umgebung zu verschmelzen.

Als sie nach und nach ihrem Rätsel auf die Spur kam, dass die Menschen sie nicht ignorierten, sondern sie oft schlichtweg nicht wahrnahmen, begann sie mit ihrer Gabe zu arbeiten. Sie verschaffte sich Zutritt in Regierungsgebäude und drang immer weiter in sensible Bereiche vor. Wurde sie aufgehalten, raunte sie dem Sicherheitspersonal «Passt schon» zu. So war sie jedes Jahr unsichtbarer Gast am Weltwirtschaftsvotum in Savon, wo sie Regierungs- und Konzernchefs bei der Völlerei beobachtete. Ihr Material verkaufte sie an Journalisten, bis sie irgendwann dazu überging, ihre Recherchen selber auf Youtube zu verbreiten. So wurde sie Journalistin wider Willen, da ihre Kollegen sie als Informantin schlecht bezahlten und obendrauf ihr Material als eigenes ausgaben. Alles muss man sich ja auch als Unsichtbare nicht gefallen lassen!

Henriette entwickelte sich über die Jahre hinweg allmählich zum Vollprofi und bietet heute Kurse in Unsichtbarwerdung an.

Die meisten wollen unsichtbar werden, weil sie sich dadurch erhoffen, der Realität entfliehen zu können. Diesen Kandidaten erteilt Henriette eine Absage. Unsichtbar zu sein, erfordert ein Höchstmass an Konzentration und ein reines Herz, um die Macht nicht zu missbrauchen. Bis heute weiss sie nicht, wie viele Agenten fremder Dienste sie ausgebildet hat, sie hofft natürlich keine, aber eine hundertprozentige Garantie hat sie schliesslich nie. Deshalb arbeitet sie am liebsten mit Kindern und Jugendlichen.

Ihre beste Auszubildende ist Louisa. Sie besucht die Sekunda am Hochalpinen Institut in Rtan. Kennengelernt haben sie sich auf der Parkbank beim Schwimmbad Badras. Es scheint einen Code zu geben, der Parkbanksitzende miteinander verbindet.

In der Garage, die Henriette als Seminarraum dient, üben sie heute das Teetrinken; wie man Kekse isst, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers ganz auf den Keks zu lenken. Louisa versteht es, den Gesprächspartner alleine durch ihr Fingerspiel zu hypnotisieren.

In wohldosierten Abständen hält Henriette Louisa Bücher zu: «Schuld und Sühne», «Anna Karenina», «Der Postmeister» und andere Schätze der Weltliteratur oder «antiquarische Zen-Übungen», wie Louisa meint. Die altmodische Sprache bereitet ihr noch Mühe. Oft notiert sie sich Ausdrücke in ein Notizheft, um ihre Bedeutung später zu ergoogeln.

Noch ist Louisa nicht klar, dass Lesen den Geist weitet. Um in der Kunst des Unsichtbarseins zu brillieren, benötigt man ein waches Bewusstsein, was die Voraussetzung für die Bewusstseinserweiterung ist. Es genügt nicht, in Phantasie- und Parallelwelten einzutauchen und sie beschreiben zu können. Man muss sie auch miteinander in Verbindung setzen. Seinen Nutzen daraus ziehen. Sich seine eigene Hirnstruktur erschaffen, so wie ein Architekt ein Haus plant. «Und wir wollen ja nicht nur ein Haus, wir wollen einen Palazzo! Stell dir vor, du kommst als reiche Zuckerbäckerin von Italien zurück nach Rucol. Was für einen Tempel errichtest du dir? Du willst doch deine alten Schulfreunde beeindrucken!», lacht Henriette.

Wenn Louisa schlechte Laune hat, gelingt es Henriette oft, ihre Schülerin mit ihren schlichten Anweisungen aus dem Schneckenhaus hervorzulocken. «Wo befindest du dich gerade? Im Keller oder in der Abstellkammer? Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Nimm den Staubsauger aus der Abstellkammer und saug mal dein Kellerabteil. Ich bin sicher, wir werden dabei den einen oder anderen Juwel entdecken.» Wenn Louisa lacht, folgt meist eine Quintessenz wie: «Merk dir eins, meine Liebe: Egal wie schlecht es dir geht, sei aufmerksam.»

In der zweiten Lektion betrachten sie jeweils grosse Werke der Kunstgeschichte, um zu verstehen, wie grosse Geister beobachten, auf was sie den Fokus legen und wie sie den Blick des Betrachters lenken. Die Übung dient dem Erkennen grosser Geister. Aber dafür besitzen sensible Menschen wie Louisa bereits in ganz jungen Jahren ein Gespür. «Du musst die blinden Flecken des Gegenübers kennen», erklärt Henriette. «In diesem Windschatten kannst du dich ohne grosse Anstrengung gut aufhalten. Es gibt aber eine einfache Grundregel: Um unsichtbar zu sein, muss deine Energie höher schwingen als die Energie des Gegenübers, das dich nicht entdecken soll.»

Louisa macht sich während solcher Sitzungen jeweils fleissig Notizen, um dann wieder bei null anzufangen, so kommt es ihr oft vor. «Wie erhöhe ich denn meine Schwingung?», fragt sie leicht genervt.

«Zum Beispiel mit Dostojewski», lacht Henriette. «Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe das alles mit siebzehn auch noch nicht verstanden. Ich habe versucht, meine Jugend zu geniessen, und dabei viele Dummheiten gemacht. Nun bin ich zur Auffassung gelangt, dass nicht jede Dummheit zur Entwicklung gereicht. Also mögen meine Unterweisungen dazu dienen, deine Entwicklung auf dem einen oder anderen Gebiet ein bisschen zu beschleunigen. Aber die Schwingungserhöhung erfolgt ganz natürlich, wenn du das machst, was dir Spass macht, und die nötige Disziplin aufbringst, Hindernisse zu überwinden.»

Louisa schaut Henriette neugierig an. «Was war denn deine grösste Dummheit?»

Henriette überlegt lange.

«Ich habe zu wenig gelesen», lacht Henriette. «Meine Zwanziger habe ich mit Alkohol und Männern verbracht.» Louisa schaut sie skeptisch an: «Wirklich?»

«Ja, so was Dummes hättest du nicht erwartet, oder? Aber das ist auch eine Binsenwahrheit: Oft ist die abwegigste Annahme die Zutreffendste.»

Louisa denkt nach. «Du meinst, dass beispielsweise meine Französischlehrerin eigentlich die französische Sprache hasst, so was?»

«Ja, genau!», sagt Henriette. «Alleine, dass dir spontan dieser Gedanke kommt, ist ein Hinweis auf eine Diskrepanz, welche deine Lehrerin offenbar ausstrahlt. Möglicherweise ist deine Schlussfolgerung nicht ganz richtig, und sie hat einfach keinen Spass mehr am Unterrichten.»

Louisa lacht: «Was ja auch durchaus nachvollziehbar ist.»

«Nein», protestiert Henriette, «weisst du, wir dürfen es nicht gutheissen, wenn Leute Dinge tun, die ihnen keinen Spass mehr machen. Damit akzeptieren wir die Kakophonie! Und wenn du einen Auftrag zu erfüllen hast, Louisa, dann ist es der, gegen die Kakophonie vorzugehen!»

Louisa notiert sich das Wort «Kakophonie.»

«Komm», sagt Henriette, «für heute wollen wir Schluss machen.» Louisa streckt sich erleichtert. «Das Museum der Liebe eröffnet heute seine Tore. Lass uns dort hingehen.»

«Super», klatscht Louisa begeistert. «Darf ich auch sichtbar sein?»

Schönster Tag

Er streut Futter in das Aquarium. Die Fische sind seine grosse Schwäche. Anstatt die Weite des Meeres zu geniessen, schwimmen sie ständig gegen das Glas. Ahnen sie etwas vom Ozean? Eine zweite Schwäche hat er auch: den Luxus ganz allgemein. Seit Dariusz vor fünf Jahren in die grosszügige Maisonette-Wohnung eingezogen ist, kann er sich nicht mehr vorstellen, bescheidener zu leben. Eine Glasfront holt den Garten mit dem alten Kirschbaum, dem Flieder und den wilden Rosen in sein Wohnzimmer. Oft sitzt er hier auf seinem Wohnsofa, um seine E-Mails zu beantworten, während sein Blick den Garten nach Inspiration absucht, einer Amselmutter beispielsweise, die ihren Jungen eifrig Würmer in die Schnäbel schiebt.

In seiner modern ausgestatteten Küche bereitet er sich jeweils Smoothies und kleine gesunde Snacks zu – Porridge, einen Salat oder ein Avocadobrötchen. Über der Spüle hängt ein Monatskalender mit eingeölten Strandnixen in winzigen Bikinis. Müsste er nicht auf seine Figur achten, würde er wohl nur Pizza essen. Seine Pin-up-Girls ermahnen ihn zur Disziplin. Diesen Monat ist die Reihe an Anke. So nennt er sie. Anke. Ein bisschen spröde. Nach seinem Geschmack etwas zu dünn.

Eine Wendeltreppe führt zu seinem Schlafzimmer hoch. Die Wände hat er mit einer Fototapete ausgekleidet. Sie zeigt eine Sandwüste. Eine Glaskuppel holt nachts die Sterne in seine Träume. Auf dem Balkon sonnt sich sein rothaariger Kater Rocky auf einem der Rattanstühle. Seine Freundin Laila ist oft bei ihm. Einen Toilettenbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta, Cremes und Schminkutensilien hat sie bereits fest im Bad stationiert, wobei sich der Inhalt des Beutels meist nicht im Beutel befindet. Laila studiert Kommunikationswissenschaft und ist, was ihre Schlampigkeit anbelangt, untherapierbar. Dariusz ist Hypnosetherapeut.

Jeden Morgen um sieben schlüpft er in seine Lederjacke und macht sich auf den Weg zum Bäcker.

Er lauscht dem kräftigen Glockenschlag der romanischen Kirche, saugt die frische Bergluft, die in dieser Jahreszeit nach Heu und Honig riecht, ein und denkt: «Ich bin glücklich.» Dann hält er kurz inne und fragt sich, ob er wirklich glücklich sein kann, wenn das Glück zuerst in seinem Geist ist und sich erst danach wohlig in seinem Körper ausdehnt.

«Aber es war doch gar nicht zuerst in meinem Geist», schimpft er vor sich hin. «Meine Ohren haben das Bimmeln der Kirchenglocken wahrgenommen, meine Lungenflügel die frische Luft, mein Geist hat nur interpretiert, was mein Körper fühlte.» Dariusz nimmt drei tiefe Atemzüge. «Wie dem auch sei: Ich bin glücklich!»

Als er die Ladentüre aufstösst, bimmelt erneut ein Glöckchen, das der Bäckerin Kundschaft signalisiert. Bis neun Uhr steht Svetlana selber hinter dem Verkaufstresen. Mit ihrer weissen Bäckerbluse, der Schürze und einem weissen Mehlschnäuzchen über der Oberlippe.

«Du, Svetlana», sagt er, «heute bin ich noch so benommen von meinen Träumen, ich möchte in einem warmen Brot weiterschlummern und mich im Halbschlaf durch die kuschelige Hefedecke essen.»

Svetlana lacht schallend und gibt den Blick auf ihr imposantes Gebiss frei.

«Der Butterzopf hat die feinste Textur», sagt sie. «An dem Nussbrot würdest du dich heute nur verschlucken.»

«Also gerne ein Zopf», gibt sich Dariusz geschlagen, «und eine Semmel und ein Croissant.»

Svetlana legt kaum merklich sichtbar ihre Stirn in Falten. Sie malt sich gerade aus, wie viele Mäuler heute an Dariusz‘ Frühstückstisch sitzen mögen. Sein Einkauf ergibt wenig Sinn. Sie greift mit ihrer ruhigen, kräftigen Hand nach der Zange und packt Croissant und Semmel in eine Tüte. Dariusz starrt gebannt auf ihre Hände, die schliesslich flink den Warenwert in die Kasse eintippen.

«Darf‘s sonst noch etwas sein?»

Dariusz schreckt aus seiner Sekundentrance hoch: «Nein, alles gut, danke.»

Hinter der Kirche wartet bereits Roger. Er erweckt nie den Anschein, als würde er tatsächlich auf Dariusz warten. Manchmal summt er eine Melodie vor sich hin oder er zeichnet mit einem Ästchen irgendwelche Landkarten auf den Boden. «Mesopotamien», sagt er dann zu Dariusz. «Warst du Sumerer, Akkader oder Babylonier?», fragt Roger. Dariusz zuckt mit den Schultern.

«Bestimmt ein Gott», sagt er schliesslich und reicht Roger die Tüte mit dem Croissant und der Semmel.

«Übertreib mal nicht, mein Engel!», sagt Roger und schlägt sich mit der Hand auf die Schenkel. «Willst du mich mästen?»

«Sobald sich unter deinem Pullover Speckrollen abzeichnen, bring ich dir nur noch Äpfel!»

Roger schaut ihn panisch an. «Bloss nicht! Ich habe Eva schon alle Äpfel weggefressen. Was glaubst du, warum ich hier täglich rumsitze, um in die Uhrwerke hineinzuschauen? Was Zeit ist, mein Lieber, das begreift man erst, wenn man nichts mehr ausser ihr hat. So sehr man sie auch verlieren will, es gelingt nicht. Ich kann einzig versuchen, Raum und Zeit übereinanderzulegen und durch das Wurmloch aufzusteigen.» Rogers Arm vollzieht eine Bewegung Richtung Himmel.

«Ich verstehe», sagt Dariusz. «Aber», wendet er ein, «ist es nicht umgekehrt, sickert die Erkenntnis nicht durch das Wurmloch zu dir hindurch, in dich hinein?»

«Du weisst einfach nicht, was ein Wurmloch ist!», sagt Roger ärgerlich.

«Tut mir leid, ich werde es recherchieren. Bis dann!»

«Bis dann, Dariusz, sei gesegnet. Gott des Getreides und der Gedärme.»

In der Küche schneidet er sich zwei Scheiben vom Zopf ab. Den Anschnitt wirft er in eine Tüte, um daraus Paniermehl zu machen, so wie er es von seiner Grossmutter gelernt hat.

Svetlanas Hände bewegen sich synchron zum Weltgeschehen, denkt er, ohne zu wissen, was der Satz bedeuten soll. Während er seinen Geist im Griff hat oder zumindest meint, ihn im Griff zu haben, schliesslich ist er nicht grössenwahnsinnig, ist sein Körper oft ein bisschen schwerfällig. Er ist ein Schussel, denkt Dariusz, und wirft mit einer ungeschickten Handbewegung das bis zum Rand gefüllte Milchglas um. Ehe er sich versieht, springt Rocky auf die Spüle und beginnt die Milch zu lappen.

«Mein lieber Kerl, du solltest doch keine Milch saufen – davon bekommst du wieder Bauchweh.»

Bei den entscheidenden Informationen kappt sein samtpfotiger Freund ihre telepathische Verbindung. Erwachsene Katzen stellen keine Laktase, die den Milchzucker spaltet, her, und können daher die Milch nicht verdauen. «Ich sollte ja auch keine Milch trinken», seufzt Dariusz. «Da kann ich dir noch lange predigen, wenn ich mich selbst nicht an meine Empfehlungen halte.»

Rocky schaut zu ihm hoch, während er sich mit der Zunge über das Mäulchen schleckt.

Widerwillig macht sich Dariusz an sein Manuskript. «In dreissig Tagen zum Erfolg» lautet sein Arbeitstitel. Eigentlich sollte das Buch heissen: «In dreissig Tagen wissen, was du willst». Aber die meisten Leute meinen zu wissen, was sie wollen. Bis sie gefragt werden. Bis ihnen jemand sagt, dass ihr Leben auch besser verlaufen könnte. Wem als Kind ständig eingetrichtert wurde, dass das Leben keine Festhütte sei, glaubt es später und knechtet sich freiwillig. Noch plagt Dariusz die Angst vor dem täglichen Wiederaufnehmen des Schreibens, als ob zwischen dem Manuskript und ihm ein Abgrund klaffen würde und der Weg zu seinem Text nur über einen ganz schmalen Weg führte. Der Weg der richtigen Sätze. Ein falscher Satz, und er fällt. Daher hat er sich angewöhnt, zu Beginn der Schreibarbeit demonstrativ ein paar ganz dumme Sätze zu formulieren. Sätze, die er in den Abgrund hinunterwirft. Nicht er fällt, sondern die krummen Gedankengänge. Die syntaktischen Böcke, die holprigen Formulierungen und grammatikalischen Schamleistungen. Er schreibt: «Umarme dein Unterbewusstsein, lass es für dich arbeiten, und werde endlich zu dem intelligenten Menschen, der du immer sein wolltest.» Dariusz legt seine Stirn in Falten. Gar nicht so schlecht. Aber das Unterbewusstsein für sich arbeiten zu lassen, klingt das nicht seltsam? Er googelt den Satz und stellt fest, dass es ihn bereits gibt. So schreitet er eine Weile mutig voran, als ob er einen unbekannten Waldweg passierte, ständig mit der Frage konfrontiert, welchem Weg er folgen sollte. «Vertrauen» heisst das Zauberwort. «Vertrauen». Mitten in seiner kleinen hypnotischen Trance klingelt sein Telefon. Es ist Laila, die ihm ihren Traum von letzter Nacht erzählen will.

«Laila», sagt er, «ich schreibe grad.»

«Es dauert nicht lange. Also, pass auf.»

Er hört nur mit einem Ohr zu. Laila besucht ein Seminar, in dem alle Alkohol trinken. Eine Seminarteilnehmerin sagt zu ihr, niemand würde etwas sagen, sofern eben alle dichthielten.

«Wie kann man dichthalten, wenn man nicht ganz dicht ist?»

«Hast du das so wortwörtlich geträumt?»

«Nein, ich träum nicht so eloquent.»

«Du willst einfach deinen Weg gehen», sagt Dariusz.

«Wie meinst du das?», fragt Laila.

«Das musst du schon selber wissen», sagt Dariusz etwas genervt. «Entschuldige, aber wir reden jetzt seit einem Monat darüber, dass du die Uni eigentlich hinschmeissen willst. Vielleicht will dir der Traum ja auch sagen, dass du dich regelmässig besaufen sollst, um das Studium hinter dich zu bringen.»

Laila lacht.

«Das ist eine sehr gute Idee! Ich bin um acht bei dir!»

«Laila», sagt Dariusz noch, aber seine Freundin hat bereits aufgelegt.

Er ist doppelt ärgerlich. Zum einen, weil er seine Spur wieder suchen muss, zum anderen fühlt er sich in seiner Autonomie verletzt. «Autonomie», denkt er, das ist ein gutes Kapitel.

Laila schmiegt sich wie eine Katze an seine Wange und schnurrt in sein Ohr.

«Hast du dich entschieden?», fragt Dariusz.

«Ja!», lacht Laila. «Du hast mir die Antwort geliefert. Feiern! Ich werde feiern.»

«Und das Studium?», fragt Dariusz.

«Das werde ich nebenbei abschliessen. Ich werde ein Buch schreiben: ‹Feiernd zum Erfolg!›.»

Sie holt eine Flasche Prosecco aus ihrer Tasche.

«Du hast dich einfach zu stark mit der Uni identifiziert.»

«Genau!», lacht Laila. «Weisst du, die Frauen in meinem Studiengang sind alle so adjustiert. Hochqualifizierte Sekretärinnen, die später irgendwelche Projekte managen, die von irgendwelchen Think Tanks zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung ausgedacht wurden. Dabei werden all diese Post-Stepford-Wives das Gefühl haben, einen wirklich verantwortungsvollen Job zu machen.»

«Während die wirkliche Welt mit all ihren tausend Facetten und Möglichkeiten um sie herum immer kleiner wird», fügt Dariusz hinzu. Laila starrt nachdenklich in eine Ecke. «Na ja, ich brauch ja auch noch Kundschaft», lacht Dariusz.

Es scheint diese unsichtbare Wand zu geben, die Menschen nach dem dreissigsten Lebensjahr entweder träger oder weiser macht. Auch wenn Dariusz selbst die dreissig erst knapp überschritten hat, konnte er unzählige Male beobachten, wie Menschen, die Mitte dreissig nichts von ihrem Gelernten umsetzten und stattdessen ständig nach neuen Optionen Ausschau hielten, viel unglücklicher waren als Menschen, die aus ihrem Erfahrungsschatz schöpften und ihr Lernpotenzial dazu nutzten, um differenziertere Einsichten zu erlangen. Er rät daher in den meisten Fällen nicht zu radikalen Lösungen, sondern zu kleinen Schritten im Alltag, die den Menschen von innen heraus verändern.

«Weisst du was», sagt Dariusz, «ich mach dir einfach ein Kind, und du bist all diese lästigen Entscheidungen für einen Moment los.»

Er lacht spitzbübisch, als ob er gerade einen preiswürdigen Vorschlag vorgebracht hätte.

Laila strahlt so unerwartet frisch über beide Backen, dass es Dariusz fast ein bisschen klamm wird, und gleichzeitig tanzt ein kleiner Stern in seinem Herzen und explodiert in tausend Stücke.

Sie schälen sich aus ihren Panzerungen, bis sie nur noch Haut und Haar sind, bereit, die Grenze, die sie voneinander trennt, zu überschreiten.

Der Gedanke, Lailas Körper einmal nicht mehr berühren zu dürfen, lässt ihn rotsehen. Er bäumt sich innerlich auf wie ein Bär und brüllt. Wäre der Grund des Verzichtes ein anderer Mann, würde er ihn in tausend Fetzen reissen. Und würde es Laila einfallen, vor ihm zu sterben, würde er sich wie Kokoschka eine Laila-Puppe anfertigen lassen. Mit keiner richtigen Frau würde er noch zusammenleben wollen.

Er will gar nicht weniger eifersüchtig sein, gar nicht weniger von diesem süssen Gift kosten, das durch seinen Körper schiesst, wenn ein anderer Mann sich auch nur getraut, Laila anzuschauen. Er will sie nicht nur zärtlich lieben, er will sie auch mit Wut begehren. Sie soll seine tiefsten Gefühle zu Tage fördern, sie, die unschuldige Maid, die am Brunnen Wasser schöpft. Natürlich ist Laila nicht unschuldig. Alleine ein paar Kindheitsepisoden einer wilden Mädchenbande genügten ihm, zu erahnen, dass in Laila Kräfte jenseits von Gut und Böse schlummern. Im Lügen zum Beispiel sind sie sich ähnlich. Nicht dass sie oft lügt, aber wenn sie doch dabei ertappt wird, weil sie sich beispielsweise ein Kleid gekauft hat, dass sie sich eigentlich nicht leisten kann, da sie für ihren gemeinsamen Urlaub sparen sollte, packt sie sich seine Schwäche, um diese als Ursache ihrer Flunkerei hinzustellen, anstatt einfach auf ihrem Recht zu beharren, ihr Geld nach ihrem Gutdünken auszugeben. In einer solchen Auseinandersetzung ist er in ihren Augen der Schuldige, da er ihr das Kleid hätte kaufen sollen. Das spricht sie natürlich nicht offen aus. Sie arbeitet suggestiv, dass sie vor seinen Freunden ja nicht wie ein Kartoffelsack auftreten könne etc.

Dariusz öffnet den Reisverschluss ihres neuen Sommerkleides und freut sich, dass seine Freundin über einen solch exquisiten Geschmack verfügt.

Am nächsten Morgen schält sich Dariusz wie gewohnt früh aus den Laken, während Laila noch tief schlummert. Sie liegt quer im Bett, ihre Haare sind zerzaust. Die Decke hat sie im Schlaf weggestrampelt, ihr Shirt ist nach oben gerutscht und gibt neckisch ihre rechte Brustwarze frei. Eine Welle der Zärtlichkeit überkommt ihn.

Dariusz fröstelt leicht. Obwohl es bereits Juli ist, zeigt das Thermometer morgens nur acht Grad an. Dennoch bereut er den Entschluss, in die Berge gezogen zu sein, keine Sekunde. Wie teuer sind ihm die ersten Morgenstunden geworden, wenn der Nebel noch wie Watte an den Gipfeln klebt und die Schwalben schlaftrunken über den Dächern segeln, auf der Jagd nach ihrem Frühstück.

Svetlana glänzt heute wie ein polierter Edelstein. Manchmal hat er seltsame Assoziationen, schliesslich kommt Svetlana nicht aus dem Stein. Svetlana kommt aus der Erde. Aus Lava geworden, voilà, die Kombination von Stein und Erde! Warum ist er noch nicht früher darauf gekommen! «Guten Morgen, Svetlava!», grüsst er übermütig.

«Dass du jetzt erst darauf kommst», lacht sie. «Was darf’s denn heute sein?» Er lässt sich jeweils zwei Roggen- und zwei Dinkelbrötchen einpacken. Für Roger kauft er einen Spinatstrudel und ein Stück Nusstorte. Svetlana hat es aufgegeben, in Dariusz‘ Kaufverhalten eine Logik zu erkennen.

«Jeden Tag was Neues», lacht sie.

«Ja», klärt sie Dariusz auf. «Ich verrat dir was: Wenn du in deinem Alltag möglichst viele neue Dinge tust, stimmst du dein Unterbewusstsein darauf ein, neue Ideen zu entwickeln. Wer also etwas in seinem Leben verändern will, sollte damit anfangen, anstatt Croissant Brötchen zu essen, Tee anstelle Kaffee zu trinken, was auch immer!»

Svetlana runzelt die Stirn, während sie ruhig den Strudel in eine Tüte packt. Dariusz starrt gebannt auf ihre Hände. «Was soll ich denn in meinem Leben verändern?», lacht Svetlana.

Der Satz streichelt seine Wangen wie ein kühler Lufthauch oben auf der Alp Radla. In seinem Innern erklingt «Wild is the wind» von David Bowie.

«Dariusz?», fragt Svetlana.

«Wie viel schuld ich dir?», fragt er und er fügt hinzu: «Nichts. Verändere gar nichts.»

Svetlana schaut ihm verwirrt hinterher.

Ein seltsamer Kauz, dieser Dariusz. Ihre Grossmutter sagt, er würde Hokuspokus betreiben – um die Weiber rumzukriegen. «Aber Grossmama», sagt dann Svetlana, «nicht alle Männer wollen immer nur mit Frauen ins Bett gehen. Ich meine, das wird doch irgendwann auch langweilig, und so langweilig kann doch kein Mann sein, immer nur das eine zu tun, da hätte sich doch Gott gewaltig vertan.» Dann lacht Grossmama, und sagt: «Meine Güte, wie kann man gleichzeitig klug und so unglaublich naiv sein, das bringt auch nur meine Svetlana zustande.» Dann schüttelt sie den Kopf und fügt hinzu: «Und unschuldig bist du auch nicht!»

«Na ja», spinnt dann Svetlana den Gedanken für sich weiter, «wenn der Mann tatsächlich planlos schöpft, dann ist das Nähren doch eigentlich die viel spannendere Aufgabe.» So verbringt sie Stunden mit der Schöpfungsgeschichte und der Interpretationen ihrer Aufgabe darin, während sie den weichen Teig zu Brötchen formt oder die süsse Honigmasse in die mit Nüssen ausgelegten Blechformen giesst.

Roger schaut Dariusz skeptisch an. «Jetzt übertreibst du es aber!»

«Das ist doch nicht der Rede wert», beschwichtigt ihn Dariusz. Dann zaubert er eine Dose Vitamintabletten aus seiner Jackentasche.

«Ich weiss, dass du darauf vermutlich nicht so stehst, aber wenn dir die Zähne ausfallen, kann ich dir nur noch Suppe bringen, und da stehst du glaub noch weniger drauf.» Roger wackelt mit dem Kopf. «Da könntest du recht haben, mein Bruder! Das nenn ich doch einen zivilisatorischen Fortschritt, wenn sogar die Obdachlosen Vitamintabletten bekommen!» Roger inspiziert die Dose.

«Und nächste Woche statten wir dem Zahnarzt einen Besuch ab, was meinst du? Er soll tolle Fotografien in seiner Praxis hängen haben.»

«Nackte Weiber?», fragt Roger, «du weisst doch, dass mich das Fleisch nicht mehr lockt – im Austausch gegen meine fauligen Zahnwurzeln!»

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