Kitabı oku: «Ein fast perfekter Winter in St. Agnes», sayfa 4
Im Grunde ließ es sich hier gut leben. Ein Paradies, in dem andere Menschen Urlaub machten. Von den vielen Touristinnen ganz zu schweigen, die ihm einige angenehme Stunden bereitet hatten. Die Auswahl war so groß wie die Zahl der einsamen Herzen, die es in ihr idyllisches Küstendörfchen verschlug. Doch sich mit Frauen und Alkohol zu betäuben hatte irgendwann seinen Sinn verloren. Bloß weil ihm Trish so übel mitspielte, hätte er beinahe sein Leben weggeworfen. Dabei war es diese Frau nicht im Geringsten wert!
Roger verscheuchte ihr Bild. Die Erinnerung an sie. Stattdessen blickte er zu Annies Schmuckladen, an dem er vorbeifuhr. In den Schaufenstern glitzerte Lametta und einige Kugeln hingen an Schnüren herab. Die versilberten Äpfel auf dem Baum glänzten im Schein der Lichterkette, die sich über die Fassade, um die Äste und den Stamm wand. Wie es Annie wohl ging? Vermutlich tausendmal besser als ihm. Angeblich war sie mit Jack und Leni in New York. Eine Aushilfe kümmerte sich in den Wintermonaten um das Geschäft.
Annie hatte das große Los gezogen und er gönnte es ihr, obwohl sie das sicher nicht glauben würde. Für sie blieb er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit das Arschloch und zugegeben, er hatte es nicht anders verdient. Trotzdem setzten ihm die Gerüchte zu, die sich um ihn und Trish rankten. Die Leute in St. Agnes hatten ja keine Ahnung!
Zehn Minuten später parkte Roger vor seinem Haus. Es lag völlig im Dunkeln. Keine Beleuchtung, nichts. Selbst das Bäumchen fehlte, weil er sich vehement gegen diesen Brauch sträubte. Weihnachten war ihm seit jeher ein Gräuel. Seine Eltern lagen sich gerade an diesen Feiertagen ständig in den Haaren. Von wegen die Zeit der Liebe und des Friedens. Bei ihnen herrschte regelmäßig kalter Krieg.
Missmutig blickte Roger vor sich hin, bis sein Blick zur Sektflasche auf dem Beifahrersitz glitt. Seit er London verlassen hatte, spukte ihm die fremde Frau ständig im Kopf herum. Dabei war er ungern in die Weltmetropole gefahren, wozu ihn zwei unangenehme Termine zwangen, was er vor der Unbekannten niemals zugegeben hätte.
Zum einen hatte ihn Mister Hall wegen seiner Trinkerei in die Zentrale zitiert und las ihm ordentlich die Leviten. Entgegen Rogers Annahme gab ihm der Geschäftsführer trotzdem eine zweite Chance. Wesentlich unangenehmer gestaltete sich seine Unterredung mit Trish am nächsten Tag, die gründlich in die Hose ging. Deswegen war er durch die Stadt geirrt und hatte sich schließlich auf der Aussichtsplattform wiedergefunden. Und da hatte sie gestanden. Diese Frau, mit der er sofort Mitleid empfand, obwohl er nicht besser war als ihr Brandon.
„Emma.“ Roger ertappte sich dabei, dass er lächelte. Im Gegensatz zu ihr wusste er durch das Gespräch mit diesem Brandon, wie sie hieß. Zumindest kannte er ihren Vornamen. Er passte zu ihr, weil er etwas Unschuldiges hatte. Aber auch etwas, das seinen Beschützerinstinkt weckte und das Verlangen, sie nach der Pleite mit ihrem Mann nicht alleine zu lassen. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, genoss er ihre Gesellschaft zu sehr, um den Abend schnell enden zu lassen. Es war schön, an ihrer Seite durch London zu schlendern. Mit ihr zu reden. Ihre bescheidene und fast schüchterne Art berührte ihn auf seltsame Weise, die jedoch in Kratzbürstigkeit und Trotz umschlagen konnte. Launisch wie das Wetter in St. Agnes, das sich ebenfalls von einer Sekunde auf die andere ändern konnte. Doch ob Sturm oder Sonnenschein, in allem lag eine beeindruckende Schönheit und Kraft. Wie in dieser Frau, die er nur ein paar Herzschläge lang küsste. Ihre Lippen waren zart und nachgiebig gewesen und er hätte sich weit mehr vorstellen können, aber er ahnte, dass sie keine für eine Nacht war. Nicht einmal eine, um sie hemmungslos auf der Straße zu küssen. Deshalb riss er sich zusammen, obwohl es ihm schwergefallen war. Eigentlich lachhaft. Außer bei Trish hatte er sich weder vorher noch nachher sonderlich viele Gedanken um die Frauen gemacht. Sogar im Bett ging es immer nur um seine eigenen Bedürfnisse. Sex ohne Gefühle, danach hatte er größtenteils gelebt.
Seufzend nahm er die Sektflasche, bevor er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und ausstieg. Nachdem er das Auto versperrt hatte, betrat er sein Cottage. Er hatte es kurz vor der Hochzeit mit Trish gekauft. Es lag auf einer Anhöhe etwas außerhalb von St. Agnes und war von dichtem Laubwald umgeben. Fast so, als wäre man von der Außenwelt abgeschnitten. Ein kleines Paradies, in dem Kinder toben könnten …
Als Roger die Tür zum Wohnzimmer öffnete, schlug ihm anheimelnde Wärme entgegen. Die gute alte Doris hatte ihn gestern angerufen und gefragt, wann er zurückkäme. Sie besaß einen Zweitschlüssel und behielt sein Haus stets im Auge, wenn er nicht da war. Noch dazu sorgte sie jedes Mal für einen lodernden Kamin. Wie auch jetzt. Die Flammen fraßen sich knisternd durch das Holz, als hätte sie die Scheite gerade erst entfacht. In der Ahnung, dass er später kommen würde. Manchmal war ihm die Achtzigjährige fast unheimlich. Immerhin hatte er sich für den Nachmittag angekündigt, ließ sich jedoch Zeit und nahm einige Umwege, weshalb es bereits acht war, wie ihm ein Blick auf die alte Pendeluhr neben dem schwarzen Ledersofa zeigte.
Roger stellte die Flasche auf den Glastisch und zog sich den Mantel aus. Als er ihn auf die Couch gelegt hatte, klopfte es an der Tür. Eigentlich hatte er keine Lust auf Besuch, weshalb er missmutig die dunkelgrüne Pforte öffnete. „Doris“, begrüßte er seine unmittelbare Nachbarin und lächelte, weil sie einen Topf in den Händen hielt, aus dem es dampfte. „Erstens hast du einen Schlüssel und zweitens musst du nicht ständig für mich kochen. Du hast genug Arbeit.“ Trotz ihres hohen Alters führte sie nach wie vor die kleine Privatpension und war die Einzige, über deren Besuch er sich nun doch freute.
„Da ich dein Lotterleben kenne, habe ich wenig Lust, dich nackt mit irgendeinem Sternchen zu sehen und zum anderen sind die letzten Gäste heute abgefahren. Um wen soll ich mich sonst kümmern? Du kennst mich. Ich hasse Untätigkeit.“ Schon stakste sie auf ihren schwarzen Stöckelschuhen an ihm vorbei. Da Schnee in St. Agnes eine Rarität war, musste sie auch im Winter nicht auf ihre geliebten hohen Schuhe verzichten.
Roger warf die Tür zu und folgte ihr in die Küche, die sich neben dem Wohnzimmer befand. Ein Rundbogen verband die beiden Räume und erst jetzt fiel ihm der Mistelzweig auf, der davon herunterbaumelte.
„Hast du das fabriziert?“ Roger deutete zum Rundbogen.
„Gefällt es dir?“ Umsichtig stellte sie den Topf auf den Gasherd.
„Einen größeren Nagel konntest du wohl nicht finden“, schimpfte er halbherzig, obwohl der Kirschholz-Rahmen kostspielig gewesen war, aus dem ein mindestens zehn Zentimeter langer Nagel ragte, der zu allem Überfluss schief eingeschlagen war. Von den Löchern im direkten Umfeld ganz zu schweigen. Wie es aussah, hatte sie einige Versuche gestartet, um den Mistelzweig aufzuhängen.
„Die Leiter hat gewackelt“, meinte sie lapidar und öffnete die Schublade neben dem Herd, aus der sie die Kelle entnahm. Doris kannte sein Heim in- und auswendig. „Wie war es in London? Konntet ihr euch einigen?“
Roger setzte sich an den Tisch im verglasten Erker. Dabei fiel sein Blick auf Doris’ weiß getünchtes Cottage. Bunte Lichterketten schmückten die Vorderseite des Daches. Hinter den Fenstern leuchteten Sterne, Schneemänner und Engel. Der kleine Baum vor dem Haus blinkte wie eine Discokugel. Ebenso wie der Schlitten und die Rentiere. Selbstredend, dass Doris ebenfalls ein vergrößertes Foto ins rechte Licht rückte. Es zeigte ihre Großeltern, die früher einen Süßwarenladen in St. Agnes betrieben, bevor Doris’ Eltern das Cottage zur Privatpension umfunktionierten. „Nicht so wirklich“, antwortete Roger und fühlte erst jetzt, wie erschöpft er war.
„Ich habe es von Anfang an gewusst“, gab Doris launig von sich. „Trish ist eine falsche Schlange. Aber du wolltest ja nicht hören.“
„Du hast nie etwas gesagt“, erinnerte Roger sie an diese Tatsache.
„Jeder muss eigene Fehler machen, um daraus zu lernen.“ Mit flinken Händen holte sie einen Teller aus dem Schrank über sich und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. „Und ganz unter uns: Was hätte mein Einmischen genützt? Du hättest dir nichts sagen lassen. Genauso wenig wie bei deiner Trinkerei. Hätte ich dir ins Gewissen geredet, wärst du rund um die Uhr besoffen gewesen. Du warst ohnehin nahe daran.“ Sie schöpfte Reisauflauf in den Teller, legte die Kelle ab und drehte sich zu ihm um. „Ich habe dich bei der Bank verpfiffen. Die Abmahnung geht demnach auf meine Kappe.“
„Du hast dafür gesorgt?“, entfuhr es Roger, der insgeheim schmunzeln musste. Das schlechte Gewissen stand ihr förmlich ins faltige Gesicht geschrieben.
Sie nickte. „Jetzt kannst du mich erschießen.“
„Wenn wir unter dem Mistelzweig stünden, würde ich dich eher küssen.“
„Du bist nicht böse?“, vergewisserte sie sich und starrte ihn mit ihren großen blauen Augen an, die sie wie üblich mit blauem Lidschatten betonte. Das schwarze Lockenhaar erinnerte an die Wildheit des Meeres. Ihre schmale Gestalt an einen zarten Ast, der jede Sekunde zu zerbrechen drohte. Doch das täuschte. Doris war die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte.
„Anfangs war ich natürlich nicht erfreut, aber mit Abstand betrachtet hast du mir damit einen großen Gefallen getan.“ Roger verließ den Tisch und trat vor Doris hin, die zwei Köpfe kleiner war. „Du hast mich vor einer Riesendummheit bewahrt. Ab jetzt beginnt ein neues Leben und ehrlich gesagt hätte ich dieses Haus bis vor kurzem am liebsten verkauft. Ich bin froh, dass ich es nicht getan und dich weiterhin an der Backe habe. Du bist stur wie ein Esel, neugierig und redest am liebsten den ganzen Tag lang.“ Sie lächelte ihn spitzbübisch an und zeigte ein makelloses drittes Gebiss. Auf ihr Aussehen legte Doris extremen Wert und war früher eine wunderschöne Frau gewesen, wie alte Aufnahmen bewiesen. „Nebenbei liebenswert, mütterlich und eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Jetzt weiß ich auch wieder, was mich in St. Agnes hält. Menschen wie du und wenn du jünger wärst, könnte ich für nichts garantieren“, neckte er sie.
„Ach Roger, für mich wärst du als Toy-Boy viel zu alt.“ Sie lachte schallend. „Und nun lass uns essen“, verkündete sie übermütig, als sie sich beruhigt hatte. „Danach sollten wir über dein Haus sprechen. Ich bin es leid, dieses traurige Etwas ständig vor Augen zu haben.“
„Wir können über vieles reden“, wehrte sich Roger im Wissen, was sie mit ihrer Aussage bezweckte, „aber der Mistelzweig ist für meine Begriffe genug an Weihnachtsdekoration. Ich hasse dieses Fest und bin froh, wenn es vorbei ist.“
„Bei mir ist es genau andersherum“, entgegnete sie mit glänzenden Augen, „Weihnachten hat eine ganz eigene Magie. Vor allem in St. Agnes. Eines Tages wirst du sie auch spüren. Lass mich nur machen, Kleiner.“
„Den zerquetsche ich wie eine Fliege.“ Mrs. Hart-Divorces Faust klatschte gegen die flache Hand, während sie hinter dem Schreibtisch einige Schritte hin und her stapfte. Wiederholt fragte sich Emma, ob sie tatsächlich eine gute Entscheidung getroffen hatte. Diese maskuline Frau im grauen Kostüm mit der riesigen Masche am Hinterkopf - die ihren rattengrauen Pferdeschwanz zusammenhielt - wirkte nicht wie eine Anwältin, sondern wie ein Guerilla-Kämpfer. „Sind Sie dabei, Prinzessin?“
„Äh, meinen Sie mich?“ Emma blickte schnell hinter sich, bevor sie erneut die Anwältin ins Auge fasste, die mittlerweile wie eine Salzsäule vor dem verstaubten Fenster stand. Gurrende Tauben tummelten sich draußen auf dem schmalen Sims. Manche trafen mit dem Schnabel das Glas. Es hörte sich an, als ob sie hereinwollten. Emma hätte die andere Richtung bevorzugt.
„Wen soll ich sonst meinen? Den Grinch?“ Die Anwältin lachte hölzern auf. Immerhin bewies sie einen guten Filmgeschmack. „Grün genug wären Sie ja. Haben Sie Schiss?“ Mit zwei Schritten war sie am Schreibtisch, richtete ihre Hornbrille und stützte sich schließlich mit beiden Händen am blank polierten Holz auf. Bedrohlich beugte sie sich zu Emma, die ihren Kopf einzog. „Oh ja, Sie haben Schiss“, lag diese Verrückte völlig richtig. „Und wie. Aber keine Angst, Täubchen. Den zerreiße ich in der Luft. Zum Schluss werden Sie nicht nur ein Haus haben, sondern ein sattes Sümmchen nebenbei.“ Mrs. Hart-Divorce richtete sich zur vollen Größe auf und stemmte die Hände in die üppigen Hüften. „Wie ich solche Arschgeigen hasse! Wir Frauen sollen rund um die Uhr schön und perfekt sein. Doch wenn sich die Kerle gehen lassen, Speckbäuche ansetzen und regelmäßig Hochzeitstage sowie Geburtstage vergessen oder sogar fremde Namen beim Sex stöhnen, nennen sie das liebenswerte Marotten. Pah, da wird mir speiübel!“
Ohne Zweifel, diese Frau sprach aus eigener Erfahrung.
„Nun ja, mir wäre eine friedliche Trennung am liebsten, Mrs. Hart-Divorce.“
„Friedlich?“, wiederholte die Anwältin in einer Lautstärke, dass sich die Tauben erhoben und mit heftigen Flügelschlägen das Weite suchten. „Glauben Sie, dass ich mir umsonst diesen Künstlernamen zugelegt habe? Er ist Programm, Prinzessin, und ich habe bereits viele Paare geschieden. Meine Wenigkeit eingeschlossen. Alle Frauen waren überaus zufrieden mit dem Ergebnis. Zumindest die, die auf mein Kommando gehört haben. Die anderen Senkrechtstarterinnen landeten schneller auf dem Boden der Tatsachen, als es ihnen lieb war und besitzen nichts mehr. Nichts. Verstehen Sie?“
Emma nickte heftig. „Nun, vielleicht wäre es einen Versuch wert?“, wagte sie selbst einen.
„Dann haben wir bereits verloren, Prinzessin.“ Diese Frau sah aus wie ein Mann und sprach wie ein Mann. „Nur die Harten kommen in den Garten. Wissen Sie, wie der Spruch weitergeht?“
„Äh … das Böse kommt überall hin?“
Erneut stützte sie sich auf dem Schreibtisch auf. „Genau“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und in dem Fall bin ich das Böse.“
„Okay“, erwiderte Emma mit gezwungenem Lächeln und sprang hoch. „Leider muss ich zu meinem nächsten Termin. Ich melde mich bei Ihnen.“
Die Anwältin zog einen Bleistift aus der orangen Stift-Box neben ihrem PC und schob ihn sich hinter das linke Ohr. „Gar nichts werden Sie. Ich kenne diesen Blick. Höre förmlich die Frage, ob ich etwas taugen würde. Eine Frau in einem Männerkörper, mit einer Stimme, als hätte sie morsche Zahnräder im Kehlkopf. Glauben Sie mir, ich bin die Beste. Weil ich ein Gespür dafür habe, mit welchem Ex man sich einigen kann und mit welchem nicht. Dafür muss ich nur die Vorgeschichte hören. Ihre sagt mir, dass der liebe Brandon alles will. Das Betthäschen, ihr gemeinsames Haus und einige Millionen. Notfalls vom Konto Ihres Vaters. Dafür wird er zu Mitteln greifen, die Sie sich nicht einmal in Ihren kühnsten Albträumen ausmalen könnten. Und den Anfang macht er mit dem Unbekannten, mit dem er Ihnen eine Affäre nachsagen wird, die Sie natürlich vor Brandon hatten. Deswegen wird sich dieser so verkaufen, dass er nur aus Verzweiflung über Ihren Betrug mit dieser Angie ins Bett gestiegen ist. Immerhin waren Sie die Liebe seines Lebens.“
Entsetzt starrte Emma sie an. „Das stimmt hinten und vorne nicht!“
Die Anwältin lächelte mitleidig. „Wir zwei wissen das, und ich glaube Ihnen. Doch tun das auch die anderen, wenn es hart auf hart kommen sollte?“
„Ich schicke Ihnen alle erforderlichen Unterlagen“, entschied Emma in derselben Sekunde. „Bitte übernehmen Sie meinen Fall.“
Ein Siegerlächeln wurde ihr zuteil. Allerdings nicht arrogant, sondern eher, als hätten sie einen Geheimbund geschlossen. „Seien Sie versichert, dass ich die Lage genau checken werde. Wenn ich nur den geringsten Anlass sehe, dass wir in Frieden das Schlachtfeld verlassen können, werde ich Ihren Wunsch berücksichtigen. Wenn nicht, kann man Brandons Reste von einer Mauer kratzen. Und noch etwas, Prinzessin: Kleidung macht zwar Leute“, sie deutete allen Ernstes auf sich selbst, „und der erste Eindruck ist entscheidend, allerdings versteht es nicht jeder, seine Vorzüge hervorzuheben, wie ich es zu tun vermag.“
„Aha.“ Von dem Selbstbewusstsein konnte sie sich ein paar Scheiben abschneiden!
„Höre ich ein Aber heraus?“, stellte die Anwältin eine Gegenfrage, als führe sie ein Kreuzverhör. „Obwohl jeder Einwand lächerlich wäre“, sprach sie umgehend weiter. „Jedenfalls will ich damit sagen, dass Sie in Ordnung sind, Emma. Lassen Sie sich von niemand etwas anderes einreden. Ihr Mann hat scheinbar keine Augen im Kopf. Übrigens wäre es gut, wenn Sie den Unbekannten finden würden. Nur für den Fall der Fälle.“
Emmas Herz klopfte hart gegen die Brust. „Haben Sie vergessen, dass ich seinen Namen nicht kenne?“
Eigentümlich blickte die Anwältin sie an. „Schon gut, wir werden auch ohne ihn auskommen.“
„Das müssen wir wohl“, stotterte Emma und wurde von der Anwältin zum Lift begleitet. Fünf Minuten später trat sie ins Freie und atmete tief durch. Dabei ließ sie ihren Blick über den großen Vorplatz schweifen, der von Hochhäusern umringt war. Einige Bäume zauberten etwas Farbe in das triste Bild. Menschen eilten aus allen Richtungen heran. Mit Aktenkoffern in den Händen, dem Handy am Ohr oder mondän gekleidet, als wären sie auf dem Weg in die Oper. So viele verschiedene Leute, die aneinander vorbeiliefen. Deren Leben sich kurz kreuzten, ohne dass sie sich wahrnahmen. Weil sie alle etwas gemeinsam hatten: Sie wirkten gehetzt.
Bis gestern hätte Emma eine von ihnen sein können. Nicht anders war sie zur Arbeit gegangen. Hatte Einkäufe erledigt oder war nach Hause geeilt. Mit dem Handy am Ohr, weil es immer etwas zu besprechen, zu lösen oder zu beantworten gab. War das wirklich alles, was man vom Leben erwarten durfte? Im Laufschritt durch die Kindheit, im Dauerlauf durch das Erwachsenensein, um schließlich atemlos vor dem Tod zu stehen? Mit dem Blick auf alles, das man sich im Laufe der Zeit erarbeitet hatte. Dennoch mit dem Wissen, dass man nichts mitnehmen konnte, außer Erinnerungen. Und nichts anderes ließ man letzten Endes zurück: Erinnerungen an sich selbst. Stellte sich bloß die Frage, wer sich an sie erinnern würde?
Kurzerhand verscheuchte Emma die düsteren Gedanken und beschloss, bei ihrer Tante Camilla vorbeizuschauen. Viel zu lange hatte sie die Buchhandlung nicht mehr aufgesucht.
Emmas Laune hob sich augenblicklich. Bewusst gemächlich spazierte sie über den Vorplatz und die Seitenstraße entlang, wo ihr roter VW-Käfer parkte. Sie hatte ihn vor dem Besuch bei der Anwältin von Zuhause geholt. Gott sei Dank war Brandon nicht dagewesen, weshalb sie Zeit hatte, einige Sachen zu packen, die nun im Käfer lagen, der aus der Menge stach. Weil er anders war, fast lebendig wirkte, obwohl auch er nur aus Blech bestand. Doch Emma kannte jede Schramme, jede Beule und alle Eigenheiten. Er sprang ungern an, wenn ihm zu kalt war und machte ziemlich viel Krach. Das war ihr anfangs äußerst peinlich gewesen. Inzwischen war sie daran gewöhnt und musste oft an die alte Mrs. Bing denken, die ihr Reddy verkauft hatte. Sehr preisgünstig. Kurz danach war ihre ehemalige Nachbarin gestorben, was Emma sehr nahe gegangen war wie die Beisetzung. Nur zwei alte Freundinnen nahmen daran teil. Verwandte hatte sie scheinbar keine gehabt. Als hätte Emma es geahnt, bat sie den Priester einen Tag zuvor, Mrs. Bing zu Ehren My Way zu spielen. Es war berührend gewesen. Vielleicht hatte es die alte Dame gehört und sich über diese Geste gefreut. Emma hoffte es.
Umso mehr hing sie an Reddy, den sie hegte und pflegte. Auch jetzt genoss sie die Fahrt mit ihrem Käfer, obwohl der Verkehr in London mörderisch war. Besonders zur Mittagszeit, wie es gerade der Fall war. Aber sie hatte keine Eile und dieses Gefühl der Muße gefiel ihr zunehmend. Und das inmitten einer hektischen Großstadt wie London. Trotzdem war sie froh, als sie eine Stunde später einen Parkplatz für Reddy gefunden hatte, was oft wie ein Sechser im Lotto war.
Das vertraute Ladenglöckchen verkündete Emmas Eintreten, die sich in der Bücherei umschaute und gleichzeitig die Glastür schloss. Beim Geruch der Bücher fühlte sie sich plötzlich wie das sechzehnjährige Mädchen von früher, das auf leisen Schritten durch die langen Gänge gehuscht war. Das sich manchmal in eine ruhige Nische gesetzt und den Stimmen gelauscht hatte. Dem Flüstern, das von den Seitengängen zu ihr gedrungen war. Oftmals erweckte es den Anschein, als würden die Bücher leise ihre Geschichten erzählen. Spannende, traurige, abenteuerlustige oder welche aus längst vergangener Zeit.
„Hi. Ist Camilla da?“, erkundigte sich Emma, die an den Kassatresen trat. Eine ihr unbekannte junge Frau blickte von ein paar Unterlagen hoch. Sie trug kleine Kristallohrringe, die wie Schneeflocken aussahen, einen roten Pullover und eine Weihnachtsmütze. Eine ähnliche hatte ihr Camilla früher auch aufgeschwatzt. Emma hatte sie mit dem Gefühl getragen, als hätte sie Läuse.
„Eben war die Chefin noch hier.“ Die Frau deutete zur Treppe. „Ich glaube, Camilla wollte nach oben. Eine Kundin hat ihre Tasche vergessen. Soll ich nachschauen, wo Mrs. Porter ist?“
„Nein, danke. Ich werde sie schon finden.“ Emma lächelte. Die Frau lächelte zurück, bevor sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrierte.
Die Buchhandlung verlief über vier Etagen. Mit einem Sortiment, das als das Beste der Stadt galt. Hier betrat man ausschließlich die Welt der Bücher - von Weihnachten natürlich abgesehen - und wurde Teil dieser ganz eigenen Atmosphäre unzähliger Worte, knisternder Seiten und lebendig werdender Protagonisten.
Der Teppichboden schluckte Emmas Schritte. Ob auf der breiten geschwungenen Treppe oder in den Gängen. Das sanfte gelbe Licht strahlte Gemütlichkeit aus und die Ölgemälde alter Meister verliehen den Räumen eine gewisse Erhabenheit. Es hatte sich kaum etwas verändert. Sogar die alten Klassiker befanden sich immer noch im selben Regal.
Allerdings ließ Emmas Kondition zu wünschen übrig. In der vierten Etage schnaufte sie wie nach einem Sprint und überlegte, welchen Gang sie nehmen sollte.
„Emma! Was für eine schöne Überraschung.“ Mit ausgebreiteten Armen eilte Camilla plötzlich auf sie zu und drückte sie im nächsten Moment an ihre Brust. „Wie komme ich zu der Ehre?“
„Ich wollte dich sehen.“ Sie lösten sich voneinander. „Und die Buchhandlung habe ich auch vermisst. Es hat sich nichts verändert.“
„Außer meine Wenigkeit. Leider wird niemand jünger, nicht wahr?“ Lächelnd drehte sich Camilla um die eigene Achse. Die graublauen Augen sprühten wie eh vor Lebenslust und waren in kleine Fältchen gebettet, die davon zeugten, dass sie ein fröhlicher Mensch war. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen strahlte Würde aus, die schlohweißen kinnlangen Haare verliehen ihr eine gewisse Vornehmheit und verleiteten viele dazu, sie mit der Hollywood-Schauspielerin Helen Mirren zu vergleichen. „Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben?“ Sie zog den Hosenbund höher. Seit Emma ihre Tante kannte, trug sie ausschließlich Stoffhosen im Marlene-Dietrich-Stil und wie üblich die Lesebrille an einer goldenen Kette.
„Ein Jahr?“, überlegte Emma
„Wir sind eine schlimme Familie.“ Ihre Tante hob tadelnd den Zeigefinger. „Zu viel Arbeit schadet der Gesundheit.“ Das sagte die Richtige! Auch Camilla lebte förmlich für ihren Job und war nie verheiratet gewesen. „Da wir dabei sind: Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus.“ An ihre direkte Art hatte sich Emma längst gewöhnt. Das war allemal besser, als dass jemand hinter dem Rücken tuschelte. „Wie geht es Brandon? Hast du ihn mitgebracht?“ Suchend blickte sie sich um.
„Ich war gerade bei einer Scheidungsanwältin.“
„Im Ernst?“ Ihre Tante zog sie mit sich in den rechten Gang. An dessen Ende stand ein kleiner Tisch mit verschnörkelten Füßen und Biedermeier-Stühlen vor dem runden Fenster. Während sie darauf zugingen, stahl sich ein Sonnenstrahl herein, der die vielen Staubpartikel glänzen ließ, die in der Luft schwebten. „Erzähl“, bat Camilla, als sie Platz genommen hatten, und schob den roten Teller mit den Zimtkeksen und der Zuckerglasur zu Emma.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Brandon hat eine andere und das schon seit Monaten. Ich bin gestern dahintergekommen.“
„An deinem Geburtstag?“ Die Falte auf ihrer Nasenwurzel vertiefte sich. „Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Er wirkte immer so nett.“
„Vielleicht ist es besser so.“ Emma blickte zum Regal, in dem sich Liebesromane aneinanderreihten. „Danke übrigens für deinen Anruf gestern.“
„Gern geschehen. Mein Geschenk bekommst du noch. Leider lässt es auf sich warten.“
Emma war das peinlich. Seitdem sie ihrer Tante als Jugendliche das Herz ausgeschüttet hatte, erhielt sie jährlich eine Aufmerksamkeit. Obwohl Camilla ihr auch sonst bei den wenigen Besuchen im Elternhaus etwas mitgebracht hatte wie den großen schneeweißen Bären. Grinch war mehr als ein Stofftier gewesen. Sie konnte sich an ihn kuscheln, wenn sie sich in den Schlaf weinte und ihm alles erzählen. Bis er eines Tages aufgeschnitten auf dem Bett lag. Angeblich wollte Tiff wissen, womit er gefüllt war. Leider konnte ihr Lieblingsbär nicht mehr gerettet werden, womit sie ihren größten Halt verloren hatte. „Du musst mir nichts schenken.“
„Ich will es aber. Obwohl du immerzu dasselbe bekommst: ein Buch.“
Emma lächelte. „Das stimmt nicht ganz. Jedes Buch ist anders.“
„Wie wahr.“ Camilla lehnte sich zurück und überkreuzte die Beine. Ihr sanft gewelltes Haar leuchtete regelrecht in der Sonne. Seltsam, dass eine Frau wie sie alleinstehend war. Emmas Tante erklärte es regelmäßig damit, dass sie in jungen Jahren keine Fesseln wollte und nunmehr zu alt dafür sei, um Männern ihrer Generation Tabletten in den Mund zu stopfen, zum nächsten Orthopäden zu fahren oder sich um sonstige Wehwehchen zu kümmern. Jüngere seien nicht viel besser, die Camilla gern mit ihrem Hund Barbados verglich. Zu halbstark, zu kostenintensiv, zu oft müsse man mit ihnen vor die Tür. „Und was hast du jetzt vor? Bleibst du im Haus oder wollt ihr es verkaufen?“
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mrs. Porter, aber ich habe die Tasche gefunden.“ Die junge Frau vom Erdgeschoss kam mit einer schwarzen City-Bag auf sie zugeeilt. „Sie lag unter dem Waschbecken auf der Toilette.“
„Wunderbar. Vielen Dank.“ Camilla nahm die Tasche entgegen und stellte sie neben sich auf den Boden. Die Frau eilte wieder davon. „Jedenfalls, lass dich von der Sache mit Brandon nicht unterkriegen.“
„Ich glaube, unsere Ehe war schon lange vorbei“, bekannte Emma. „Nur wollte ich es nicht wahrhaben, denn ich bin ein Gewohnheitstier. Obwohl ich mich natürlich hintergangen fühle. Das tut weh. Doch meine Tränen sind getrocknet und eigentlich sollte es anders sein.“
„Hinterfrag das nicht. Sei lieber froh darüber.“
„Das bin ich.“ Komisch. Es fühlte sich mit jeder Stunde mehr an, als würde sich ein riesiger Stein von Emmas Brust lösen. „Meine Eltern werden aus allen Wolken fallen.“
„Und wenn schon. Sie führen ihr Leben, du das Deine. Habt ihr übermorgen wieder das traditionelle Weihnachtsessen? Falls ja, serviere ihnen die Neuigkeit zum Nachttisch. Ehe Claire und Ben sie verdaut haben, machst du die Biege.“
„Warum soll ich es ihnen überhaupt auf die Nase binden? Irgendwann werden sie es schon erfahren“, entgegnete Emma. „Außerdem geht der Kelch gottlob an mir vorbei. Mom und Dad wollen über Weihnachten in die Karibik. Das Essen ist abgesagt.“
Camilla tätschelte ihre Hand. „Und bis sie wiederkommen, ist Gras über die Sache gewachsen.“ Sie deutete auf die Tasche. „Die gehört übrigens deiner Mom.“
„Mutter war hier?“
„Wir hatten eine Vormittags-Lesung. Dornenvögel. Du weißt ja, wie sehr Claire die Geschichte liebt.“ Das wusste Emma in der Tat. Wie oft ihre Mom darin gelesen hatte, konnte sie nicht sagen und auch die Verfilmung schaute sie sich mindestens zweimal im Jahr an. Der einzige Anlass, bei dem Emma sie jemals weinen sah. „Oh, da vorne ist eine wichtige Kundin. Ich muss kurz zu ihr und bin gleich zurück.“ Als Camilla aufstand, warf sie die Tasche um. Ein Buch rutschte heraus, der Schlüssel, ein Kamm und anderer Kleinkram. „Bist du so lieb?“, bat ihre Tante, bevor sie der Frau im wollweißen Cape entgegenrauschte.
Emma bückte sich, stellte die Tasche auf und griff nach dem nur allzu bekannten Buch. Auch sie hatte Dornenvögel gelesen und musste zugeben, dass die große Liebe zwischen Meggie und Pater Ralph sehr zu Herzen ging. Vermutlich trug die Mutter den Roman aufgrund der Lesung mit sich herum. Allerdings hatte Emma das Lesezeichen nie gesehen, das herausragte. Es schillerte türkis. Wie ein glasklares Meer. Neugierig zog Emma es heraus. St. Agnes stand in großen Lettern auf der Vorderseite. Handschriftlich war in der unteren Ecke eine Telefonnummer vermerkt. Die geschwungene Schrift stammte allerdings nicht von ihrer Mutter.
Emma drehte das Lesezeichen um. Als sie die wenigen Sätze las, begann ihr Herz zu rasen. Gleichzeitig trocknete ihr Mund aus, während es fieberhaft in ihr arbeitete …
„Bist du sicher, dass die Summe stimmt?“ Roger starrte auf die Unterlagen, die ihm Larissa soeben gebracht hatte.
„Wir haben alles geprüft. Der finanzielle Rahmen ist ausgeschöpft. Doris schreibt laufend rote Zahlen und überzieht ständig ihren Dispo. Leider sind in den letzten Monaten kaum Einkünfte eingegangen. Auch die Einnahmen ihres kleinen Handwerksladens fehlen, seitdem der Mieter gekündigt hat.“
„Über kurz oder lang wird sie bestimmt jemanden finden. Mehr Sorgen mache ich mir wegen der Pension. Sie wirft kaum einen Cent ab. Dabei redet Doris ständig davon, dass sie ausgebucht ist und sich allmählich eine Aushilfe nehmen sollte.“
Die vollbusige blonde Bankangestellte spielte mit dem obersten Knopf ihrer schwarz gepunkteten Seidenbluse. „Kann es sein, dass du ihr nicht zugehört hast? So, wie du das bei keiner Frau tust?“