Kitabı oku: «Ein fast perfekter Winter in St. Agnes», sayfa 7

Yazı tipi:

„Hat sie einen Parkplatz?“ Emma hatte Mühe, nicht laut loszulachen.

„Wegen dem Fluchtauto?“ Josie starrte sie mit großen Augen an.

„Nein, für Reddy“, konnte Emma nicht mehr länger die Unwissende spielen. „So heißt nämlich mein VW-Käfer.“

Mit verengten Augen starrte Josie sie an. Man sah förmlich, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, bis sie auf einmal zu lachen begann. Schallend wie ihre Freundin. „Das ist ja …“, stammelte sie prustend und wischte sich die Tränen weg, „ein Käfer!“

Auch Emma lachte mit, bis ihr selbst die Tränen kamen. Es tat so gut, fröhlich zu sein. Etwas Positives zu erleben und plötzlich war sie mittendrin in dieser Gemeinschaft, weil Josie lautstark das Missverständnis vor allen wiederholte. Die Menschen bogen sich vor Lachen, während ihr eine heiße Schokolade gebracht wurde, die sie nicht bestellt hatte.

„Lass sie dir schmecken“, rief ihr die ältere Frau zu, als sich alle beruhigt hatten. „Ich bin übrigens Minnie und der Kauz neben mir ist mein Mann Duncan.“ Kurz himmelte sie den Genannten an und zeigte dann auf die zwei, die ihr gegenübersaßen und sich zu Emma umdrehten. „Das sind Rose und Joseph.“

„Hermes und Trijn“, stellte sich ein anderes Paar vor, das eng umschlungen dasaß.

„Ricardo“, rief der südländisch wirkende Mann schräg gegenüber im blauen Neoprenanzug. Emma musterte ihn. Wie jeden Mann, der sich nach ihm mit diesem Anfangsbuchstaben vorstellte.

„Sally“, meldete sich schließlich Josies Freundin zu Wort. Erneut wurde Emma ein Lächeln zuteil, die von der Offenheit dieser Menschen überwältigt war. Leider hielt die Freude nur kurz.

Nach wie vor hatte sie keine Ahnung, wie sie ihren Dad finden sollte. Natürlich könnte sie ihre Geschichte erzählen. Wie im Fernsehen, wenn Menschen nach Angehörigen suchten. Aber mit welchem Ergebnis? Ihre Mom hatte erwähnt, dass ihr Vater gebunden gewesen war. Gut möglich, dass sie mit ihrer Suche eine Ehe zerstörte. Den Kindern ihre bis dahin glückliche Familie nahm, die sie als Halbschwester vermutlich in die Wüste schicken würden. Nein, sie musste auf anderen Wegen seine Identität herausfinden und im besten Fall würde er trotz der vielen Jahre an Silvester bei der Mine sein. Aus sentimentalen Gründen. Oder weil er an sein Kind denken wollte, das ihm dort am nächsten war. Ein irrsinniger Gedanke, trotzdem ließ Emma ihn zu. Obwohl sie Angst vor der Begegnung hatte. Keiner konnte sagen, wie er zu ihr stand. Gut möglich, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte oder gar nicht mehr lebte. All das schob sie aber vorerst in den hintersten Winkel ihres Herzens. Zunächst musste sie seinen Namen herausfinden. Die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das würde schwierig genug werden.

„Hast du Lust mit uns zu essen?“, erkundigte sich Josie. „Oder wollt ihr alleine sein? Du und Reddy?“ Sie grinste. Eine sympathische Frau, bei der Emma sofort das Gefühl hatte, als würden sie sich schon ewig kennen. Möglicherweise, weil sie Linda in ihrer Art sehr ähnlich war.

„Reddy und ich sind seit unserer Abreise aus London zusammen. Ich denke, fünf Stunden reichen“, ging Emma auf den Spaß ein. „Wenn ich nicht störe, würde ich gern mit euch essen. Ich habe ohnehin Hunger.“ Das anschließende Mittagessen war herrlich. Emma gönnte sich Cornish Pasties. Dazu tranken sie einen leichten Apfelwein aus der Region und waren im Nu in ein Gespräch vertieft. Josie erzählte aus ihrem Leben in Penzance und auf humorvolle Weise von ihrem Mann George und den drei Kindern. Nebenbei sang sie fast eine Lobeshymne auf ihre Nanny und zeigte sich begeistert darüber, dass sie wieder in ihrem Heimatdorf St. Agnes wohnte. Auch der Name Annie fiel einige Male. Josies beste Freundin, der dieser Sanders übel mitgespielt hatte. Seltsam, wie viele Parallelen es zum Unbekannten in London gab.

Sally beteiligte sich ebenfalls an ihrer Unterhaltung, die etwas trockener war als Josie, trotzdem nicht weniger nett. Einzelheiten aus ihrem Leben ratterte sie herunter, als würde sie ein Telefonbuch vorlesen, doch als sie von ihrem Porzellan- und dem Tätowiergeschäft erzählte, begannen ihre Augen zu glänzen. „Wenn du Lust hast, komm vorbei“, bot sie an. „Was hat dich eigentlich nach St. Agnes verschlagen?“

Die Frage kam unvermittelt. Emma rutschte in ihrem Stuhl hin und her. „Ich … ähm … brauche dringend eine Auszeit, weil ich vor einigen Tagen meinen Job verloren habe“, zog sie sich aus der Affäre.

„Das tut mir leid.“ Josie schaute sie bedauernd an. „Vor allem die Tatsache, dass ich nach Hause muss. Ausgerechnet jetzt. Aber melde dich bei mir im Büro, dann ziehen wir Mädels um die Häuser.“

„Gerne“, erwiderte Emma.

„Ich muss ebenfalls los.“ Sally erhob sich. „Meine Eltern warten. Hoffentlich bis bald, Emma.“ Ein letztes Lächeln, bevor die Freundinnen das Lokal verließen, das sich allmählich leerte, bis Emma der einzige Gast war.

Das zarte Klirren von Gläsern ertönte beizeiten, während Amber zusammenräumte. Bald würde sie das Aloha schließen, um ebenfalls zu ihren Liebsten nach Hause zu gehen.

Emma spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen und blickte aus der großen Glasfront. Über St. Agnes lag die Nachmittagssonne, die den Ort regelrecht mit ihrem Licht überflutete und die Weihnachtsdekoration funkeln ließ, die ihr sofort bei der Ankunft aufgefallen war. Nun ja, manchmal musste man Kompromisse in Kauf nehmen. Immerhin wurde sie vom imposanten Anblick der rauen Klippen entschädigt, in die das Dorf idyllisch eingebettet lag. Darüber spannte sich ein graublauer Himmel, wie Emma ihn nie zuvor gesehen hatte. Ohne Sonne hätte er düster gewirkt, so hatte er etwas Mystisches.

Blitzartig schrak Emma aus ihrer Betrachtung hoch, da sich die Tür öffnete. Ein Mann kam mit einem Kind in den Armen herein. Als er Amber erblickte, lächelte er glücklich. Erst recht, als sie ihn übermütig küsste, bevor sie das Kind an sich nahm und es liebevoll festhielt. Ein Bild, das Emma mitten ins Herz schnitt. Weil sie sich nie einsamer gefühlt hatte als in diesem Augenblick. Nie ungeliebter und verlassener.

Umso entschlossener stand sie auf. Sie sollte gehen, bevor sie zu weinen begann. Just in dem Moment stürmte die ältere Frau von vorhin atemlos und mit zerzaustem Haar herein. Minnie, sofern sich Emma richtig entsann.

Als die Ältere sie erblickte, zeigte sie eine erleichterte Miene und eilte auf sie zu. Jetzt trug sie einen Faltenrock mit Schottenmuster und hatte sich ein Tuch um die Schulter geschlungen, das wie eine Decke aussah. In der Hand hielt sie einen Teller. Eingewickelt in Silberfolie. „Gott sei Dank, Sie sind noch da, Emma“, ließ Minnie keuchend verlauten, als sie vor ihr stehen blieb. „Unser Auto springt nicht an. Dabei wollte ich zu Doris. Wissen Sie, ich verteile jedes Jahr Kekse an meine Freunde und bin in den letzten Tagen überall gewesen. Nur nicht bei ihr. Dabei wartet sie bestimmt auf mich. Könnten Sie mich mitnehmen?“

„Natürlich.“ Ein Notfall, der zur rechten Zeit kam. Obwohl Emma ahnte, dass die Einsamkeit zurückkehren würde. „Mein Wagen steht gleich in der Nähe. Soll ich Ihnen den Teller abnehmen?“ Emma schnappte sich den Rucksack, der am Tischbein lehnte.

„Nicht nötig.“ Minnie lächelte zufrieden, als sich Emma aufrichtete. „Danke für Ihre Hilfe. Duncan wird mich in einer Stunde bei Doris abholen.“

„Ich dachte, Ihr Auto streikt?“

„Äh, genau!“ Röte überzog Minnies grobschlächtiges Gesicht, das Emma an die Anwältin erinnerte. Allerdings stand in Minnies mehr Herzenswärme und der Schalk blitzte aus ihren Augen. „Duncan kriegt es sicher flott. Wie immer.“

Emma schmunzelte. „Es ist gar nicht kaputt, oder?“

Minnies Schultern sanken herab. „Stimmt. Als wir gingen … Sie haben so verloren ausgesehen an diesem viel zu großen Tisch. Deshalb dachte ich mir, dass Sie sich vielleicht über etwas Gesellschaft freuen würden. Wenn Sie mögen, können wir bei Doris einen gemütlichen Kaffee trinken und meine Kekse genießen.“

Minnie hatte bestimmt Besseres vor, als sich um sie zu kümmern. „Ein netter Vorschlag, aber heute ist Weihnachten.“

„Eben. Da sollte niemand alleine sein“, erwiderte Minnie voller Wärme. Emma traten Tränen in die Augen. „Erst recht kein Mädchen aus der Stadt, das verloren wie ein aus dem Nest gefallenes Vöglein wirkt.“

4. Kapitel


Stolz blickte Roger auf das Hähnchen in der Glasschüssel. Seit einiger Zeit tobte er sich gerne in der Küche aus und hatte Kochsendungen für sich entdeckt. Die Dosensuppen und Fertigpizzas hingen ihm schon zum Hals heraus. Und seitdem ein bekannter Fernsehkoch vorgestern ein Thai-Hühnchen zubereitet hatte, wollte er das Rezept unbedingt ausprobieren. Obwohl er von der Hälfte der Zutaten nie etwas gehört hatte. Doch der Bioladen im Ort führte sogar diese komische Chili-Art namens Carolina Reaper. Der Fernsehkoch hatte zwar betont, nur eine winzige Menge zu nehmen, aber Roger liebte scharfes Essen. Unter Tränen und mit brennenden Fingern hatte er eine halbe dieser signalroten Schoten kleingehackt und dem Gemüse beigefügt.

Gerade als er das Huhn in das vorgeheizte Rohr schob, hörte er das Zuschlagen der Tür. Den klappernden Schritten zufolge musste es Doris sein. Sonst hatte ohnehin keiner einen Schlüssel.

„Hallo, Roger“, hörte er hinter sich und schloss den Backofen.

„Du bist zu früh.“ Er richtete sich auf. Im Wissen, dass sie ihm absagen würde. Immerhin hatte sie Gäste, die allerdings noch nicht gekommen waren, wenn er sich nicht täuschte. Oder hatte sich Emma umentschieden, weil ihr Reddy eine komfortablere Unterkunft vorzog? Dieser Typ war ihm schon jetzt unsympathisch. „Ich hoffe, du magst Thai-Hühnchen.“

„Leider muss ich darauf verzichten. Josie hat sich gemeldet und für eine Frau ein Zimmer reserviert.“

„Ein Doppelzimmer?“

„Ich habe nur Doppelzimmer“, erinnerte sie ihn an diese Tatsache. „Wie auch immer, für den Fall der Fälle sollte ich zuhause bleiben und eine Kleinigkeit kochen.“

„Wir haben ausgezeichnete Restaurants, Doris. Niemand kann von dir verlangen, dass du am Heiligen Abend für Gäste auftischst, die sich Knall auf Fall angesagt haben.“

„Ich bin froh, wenn ich an den Festtagen nicht alleine bin.“ Sie seufzte und er schluckte seine Bitterkeit hinunter. Doris’ Mann war vor vielen Jahren gestorben und einer ihrer Zwillingssöhne hatte sich das Leben genommen. Angeblich wegen Depressionen. Vor einiger Zeit hatte sie Roger Kinderbilder gezeigt und bei einem Foto fürchterlich geweint. Doris’ zweiter Sohn war nach St. Ives gezogen. Roger hatte ihn nie kennengelernt und sie sprach nicht über ihn. Vielleicht hatten sie sich zerstritten. Insofern war das Schicksal seiner Nachbarin ein Sturm gegen das Lüftchen seiner eigenen Gefühlswelt. Emma konnte tun und lassen, was sie wollte. „Ist nur zu hoffen, dass mein Gast nett ist. Bloß schade, dass ihr Reddy den halben Parkplatz brauchen wird. Deshalb musste ich einiges wegräumen. Ich sag’s ja, Rucksacktouristen sind mir lieber.“

So fett war der? „Hast du diesen Reddy schon gesehen?“, wunderte sich Roger.

„Wie?“ Sie wirkte zerstreut. In der nächsten Sekunde zog sie ein weißes Kuvert aus ihrer nachtblauen Wolljacke, das sie auf den Tisch legte. „Mein Weihnachtsgeschenk für dich.“

„Wir schenken uns nichts“, erinnerte er sie an ihre Abmachung.

„Du Weihnachtsmuffel schenkst mir nichts. Das muss lange nicht für mich gelten.“

Skeptisch schaute Roger auf das Kuvert. „Sieht aus wie ein Geldumschlag. Jedenfalls hoffe ich nicht, dass ich recht habe. In dem Fall kannst du dein Geschenk gleich wieder mitnehmen.“ Fehlte noch, dass sie ihm ihr dringend benötigtes Geld in den Rachen warf!

„Glaubst du im Ernst, dass ich einem Banker Moneten spendiere?“ Sie sandte ihm einen ironischen Blick. „Im Kuvert sind lediglich ein paar Fotos und der Abschlussbericht des Privatdetektives, den ich angeheuert habe.“

„Ein Privatdetektiv? Wofür? Hat er die Gäste aufgespürt, die dich nicht bezahlen?“

„Sehr lustig“, zeigte sie sich unbeeindruckt, während sich Roger an die Arbeitsfläche lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich habe ihn für dich engagiert, Roger.“

„Wie bitte? Vermutest du, dass ich im Garten irgendwelche Leichen vergraben habe?“, regte er sich auf. „Nun, bisher habe ich davon abgesehen. Aber was nicht ist, könnte durchaus werden. Vor allem was Menschen betrifft, die ihre neugierige Nase ungefragt in mein Leben stecken!“

„Ich meine es nur gut.“ Ihre stoische Ruhe reizte ihn noch mehr. „Und der Detektiv hatte eine andere Zielperson als dich.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“

Doris ließ sich auf die Bank nieder. „Du weißt ja, dass mein Sohn Rick in St. Ives wohnt.“

„Davon hast du erzählt, jedoch nicht, warum er …“

„Das tut nichts zur Sache. Jedenfalls kennt er einen Top-Privatdetektiv mit dem klingenden Namen Blue Harry. Da ich meinen Sohn mit viel Liebe großgezogen habe, ist er mir einige Gefallen schuldig. Darauf kam ich vor kurzem zurück und bat ihn, Trish von besagtem Blue Harry beschatten zu lassen.“

„Trish?“ Allmählich wurde die Sache mysteriös.

„Genau die. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas faul ist. Abgesehen davon, dass Lucas nicht dein Sohn ist, machte mich die hohe Unterhaltsforderung stutzig. Und nun rate mal, was Ricks Busenfreund herausgefunden hat.“ Roger zuckte mit den Achseln, allerdings hatte sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit. „Trish traf sich nicht nur mit dir in London, sondern mit drei weiteren Kandidaten, die alle glauben, sie wären Lucas’ Vater. Zwei von ihnen zahlen brav, weil sie verheiratet sind. Einer hat sich bisher gedrückt und dich lässt sie nicht vom Haken, indem sie die Scheidung hinauszögert. Doch damit ist endgültig Schluss. Du hast genug Beweise gegen sie in der Hand und sofern sie nicht wegen Erpressung vor Gericht landen möchte, wird sie schneller Geschichte sein, als du bis drei zählen kannst.“ Erwartungsvoll schaute sie ihn an. „Das wäre übrigens der geeignete Zeitpunkt, um dich bei mir zu bedanken.“

„Danke“, erwiderte er beinahe tonlos.

„Bitte nicht so überschwänglich. Das kann ja kein Mensch ertragen.“

„Tut mir leid.“ Roger setzte sich zu ihr und zog das Kuvert zu sich. „Natürlich wäre ich froh, Trish los zu sein. Ich finde bloß den Gedanken schrecklich, dass Lucas einer Mutter ausgeliefert ist, die ihn eiskalt als Druckmittel einsetzt.“

„Na ja, du könntest um ihn kämpfen. Immerhin hättest du alle Trümpfe in der Hand.“

„Du meinst Erpressung? Dann wäre ich nicht besser als Trish. Hat Ricks Freund eigentlich herausgefunden, wer Lucas’ tatsächlicher Vater ist?“

„Er vermutet, dass es Lance ist. Du weißt schon, der aus dem Aloha.“

„Annies ehemaliger Chef, der nach Mallorca gezogen ist?“, entfuhr es Roger.

„Getürmt trifft es wohl eher. Zumindest vermute ich das. Er wollte sicher dem Gerede aus dem Weg gehen. Irgendwann kommt jede Wahrheit ans Licht“, orakelte Doris. „Der Detektiv hat nämlich ein Telefongespräch zwischen Trish und einer gewissen Senta abgehört. Es kann sich nur um die Hexe handeln, die Jack und Annie auseinanderbringen wollte. Jedenfalls prahlte deine Ex damit, dass keiner von euch weiß, dass Lance der Vater ist. Da auch er zu den Zahlenden gehört, muss man kein Detektiv sein, um die einzig richtige Schlussfolgerung daraus zu ziehen.“

„Lance und ich waren nie die dicksten Freunde. Aber dass er …“ Roger öffnete das Kuvert. „Das hätte ich nie von ihm gedacht.“ Er starrte auf das erste Bild. Es zeigte ihn und Trish. Rechts unten standen die Uhrzeit und das Datum. Beides änderte sich, wie die Männer auf den Fotos. Auf dem dritten war Lance abgelichtet. Nur Trish und das Lokal blieben gleich. Scheinbar hatte sie sich an einem Tag mit allen potentiellen Vätern getroffen. Was für eine Schlange! „Wir müssen den anderen Bescheid sagen.“

„Ich habe Rick bereits darum gebeten. Er kommt übrigens Ende Dezember.“

„Das muss er nicht. Die Bilder erklären sich von selbst. Außerdem hast du von Aufzeichnungen gesprochen.“ Er deutete auf den Zettel, der halb aus dem Kuvert ragte.

„Rick kommt nicht deinetwegen, sondern besucht mich. Wie jedes Jahr.“

Roger blickte hoch. „Tatsächlich? Ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Ist das ein Wunder? Seitdem du neben mir wohnst, warst du dauerbesoffen. Außerdem verlässt Rick meine Pension kaum und fährt am Silvesterabend wieder nach Hause. Für ihn ist St. Agnes nach wie vor mit dem Tod seines Bruders verbunden, weshalb er nie lange bleibt. Die beiden hatten eine sehr enge Bindung. Leider lässt er mich nicht an sich ran. Es tut weh, ihm nicht helfen zu können.“ Sie lächelte unter Tränen. „Wechseln wir das Thema, ehe ich sentimental werde.“

„Wäre das so schlimm? Du kannst über alles mit mir reden. Ich hoffe, das weißt du.“

Doris wirkte nicht überzeugt. „Fragt sich nur wie lange. Ich muss dir nämlich etwas beichten: Rick hat meine Bitte ein wenig missverstanden oder Blue Harry war so enthusiastisch, dass er dir ebenfalls gefolgt ist. Wer ist denn die hübsche Frau, die du in London mitten auf der Straße geküsst hast?“ Sie machte den Eindruck, als hätte sie alles bisher Gesagte nur darauf aufgebaut, um endlich diese eine Frage stellen zu können. Eine, die Roger völlig aus der Bahn warf, der sich wie vom Schlag getroffen die weiteren Fotos ansah.

Sie zeigten ihn mit Emma in seinem Honda, wie sie auf ihren Mann und die Frau im roten Umhang zuging, den Augenblick, als Roger neben ihr vor Brandon stand, den Imbisswagen, ihren Spaziergang und … den Kuss im dichten Schneegestöber. Das Bild wurde vor Rogers Augen lebendig und er glaubte ihre zarten Lippen zu spüren, ihren warmen Körper. „Das ist Emma“, sagte er abwesend.

„Emma. So, so.“ Doris grinste ihn an. „Sie scheint dich schwer beeindruckt zu haben.“

„Wie kommst du auf diese absurde Idee?“ Als hätte er sich die Finger verbrannt, warf er die Fotos auf das Kuvert.

„Wie komme ich bloß darauf?“, zog sie ihn offensichtlich auf, „vielleicht, weil die Sektflasche auf deinem Tisch steht. Laut den Bildern hat die gute Emma den Inhalt förmlich in sich hineingeschüttet.“

„Sektflaschen gibt es wie Sand am Meer.“

„Auf dem Foto ist die Marke lesbar. Zumindest mit der Lupe. Dieses eingestanzte By Eclaires ist mir nicht geläufig. Die Flasche hat demnach Seltenheitswert.“

Doris war schlimmer wie ein Piranha! Gott sei Dank enthob ihn ein lautes Geräusch von jeder weiteren Erklärung. „Klingt ohrenbetäubend“, stellte Roger fest, obwohl er nur an Emma denken konnte und daran, dass sie in St. Agnes war. Nahe und doch unerreichbar fern. Hatte ihr der Abend denn gar nichts bedeutet? Oder war Reddy nur ein Notnagel?

Das Getöse näherte sich unaufhaltsam. Ein Traktor mit kaputtem Auspuff?

Im nächsten Augenblick rückte ein knallroter VW-Käfer in sein Sichtfeld, der in Doris’ Parkplatz einfuhr. Rogers Puls begann zu rasen, als Emma ausstieg. Komischerweise verließ Minnie auf der Beifahrerseite den Wagen. Dass von diesem Reddy nichts zu sehen war, hob seine Stimmung.

„Du liebe Güte, Minnie!“ Doris klang, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Ihre Miene glich sich dem harmonisch an. „Sie bringt mir sicher ihre Weihnachtskekse.“

„Freu dich. Damit gehörst du im Gegensatz zu mir offiziell zu ihren Freunden.“

„Freunde? Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber ich bringe dir gerne eine Kostprobe vorbei. Der Begriff Stahlkekse kommt nicht von ungefähr, glaub mir.“


Begeistert blickte Emma auf das heimelige Cottage mit dem Reetdach und der schön gestalteten Firstabdeckung. Der Parkplatz war auf beiden Seiten vom Garten umgeben, in dem allerlei Weihnachtselemente und ein geschmückter Weihnachtsbaum standen. Sogar die alte Traubeneiche mit der weißen Bank davor war mit roten Kugeln behängt, die das schwindende Tageslicht einfingen. Hinter dem Haus sowie weiter vorne erstreckte sich ein Wald und außer einem weiteren Cottage war man hier ganz allein. Josie hatte nicht zu viel versprochen. Die einsame Umgebung war genau das, was Emma suchte.

„Da kommt Doris“, informierte Minnie sie und zeigte zum Nachbarhaus, aus dem eine schmale Frau in einem nachtblauen Kittelkleid trat, wie man es in den Sechzigern getragen hatte. Die Pumps wiesen dieselbe Farbe auf. Allerdings sah diese Doris aus der Ferne jünger aus. Je näher sie kam, desto älter wurde sie.

Ob Emma auf Doris denselben Eindruck machte, die wenige Meter vor ihr stehen blieb und sie anstarrte, als hätte sie einen Geist gesehen?

„Emma?“, fragte sie verdutzt. Wie seltsam sie ihren Namen aussprach.

„Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ Nach wie vor ruhte der Blick dieser Frau auf ihr.

„Oh … ähm … Josie hat ihn am Telefon genannt.“ Langsam kam sie näher. „Haben Sie gut hergefunden?“

„Da ich dabei war“, sprang Minnie munter ins Geschehen, „erübrigt sich die Frage.“

„Stimmt. Du bist ja auch noch da.“ Im Vorbeigehen nahm sie Minnie den Teller aus der Hand. „Danke für die Kekse. Ich werde mich revanchieren, sollte mir demnächst beim Kochen etwas anbrennen.“

„Die Kekse sind nicht verbrannt!“

„Dann sind sie aus der vorletzten Saison? Oder schockgefroren?“

„Natürlich. Wie immer, wenn sie dich sehen“ Minnie hob die Folie an. „Schauen Sie, Emma. Sind das nicht Prachtstücke?“ Ein beleidigter Blick traf Doris. „Meiner Freundin fehlt leider das Auge dafür.“

Emma wusste nicht recht, ob sich die beiden mochten oder nicht. Doch wie von Minnie gewünscht trat sie näher und schaute sich die Kekse an, die aufdringlich nach Lakritze rochen. Ansonsten war nichts an ihnen auszusetzen. Sie wirkten wie normale Spekulatius. „Mir fällt nichts Negatives auf“, behielt Emma die Sache mit dem Geruch für sich.

„Das kommt spätestens, sobald Sie die Dinger im Mund haben“, meckerte Doris. „Und jetzt genug geredet. Lassen Sie uns reingehen, damit Sie Ihr Zimmer beziehen können. Du kannst von mir aus ein paar Minuten bleiben, Minnie.“ Als sie voranging, strich sie über Reddys Motorhaube. „Hübsches Auto. So einen fuhr mein Mann früher.“ Ihr Tonfall hatte plötzlich einen traurigen Klang. „Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie gleich Musik hören, Emma. Ich lasse sie immer eingeschaltet. Dann ist es nicht so still, wenn ich nach Hause komme.“ Als sie die dunkelgrüne Pforte mit dem weihnachtlichen Türkranz öffnete, schallte Emma tatsächlich ein Lied entgegen. Ein Evergreen, begleitet vom typischen Knistern, wie man es von früheren Schallplatten kannte. „Dean Martin“, ließ Doris sie wissen, „Die Originalversionen hat mir mein Sohn auf CD gepresst, damit ich sie in Dauerschleife laufen lassen kann.“

Emma ahnte, dass ihre Vermieterin etwas mit dem Sänger verband. Wie jeder eine Geschichte oder Erinnerungen an Musik knüpfte. „Es gefällt mir“, verlieh sie ihrem Gefühl Ausdruck.

Doris’ überraschter Blick streifte sie. „Das freut mich. Die meisten Gäste können wenig damit anfangen und rümpfen schon beim Reingehen die Nase.“

„Aber die Musik passt zu Ihrem Haus“, stellte Emma fest, die sich beinahe ehrfürchtig im Inneren umschaute und sich vorkam, als wäre sie in die Gründerzeit zurückgereist. Eine Holztreppe mit kunstvollen Säulen führte in den ersten Stock hinauf. Daneben erstreckte sich ein langer und dunkler Korridor, in dem ein alter Schrank, ein schmales Tischchen und eine Kommode standen. Alles war vollgestellt mit vielen kleinen Dingen wie Kugelschreibern, Spruchkalendern, Gläsern, Muscheln, Notizzetteln, Schneekugeln und mehr. Es wirkte wie ein völliges Durcheinander und trotzdem hatte es Charme.

„Da ist das Frühstückszimmer“, erklärte Doris und zeigte zur Tür neben der Pforte. „Am Ende des Ganges finden Sie die Küche und hier geht es ins Wohnzimmer. Sie können es gerne mitbenutzen.“ Doris ging voraus.

Eine braune Tapete mit schimmernden Ornamenten schmückte die Mauern wie die vielen alten Aufnahmen in wahllos zusammengewürfelten Rahmen. Ob rund oder eckig, aus Porzellan oder antik - es fand sich jede Variante. Sogar auf dem Klavier in der Ecke standen gerahmte Bilder, ebenso auf den Wandregalen oder dem kleinen runden Tisch, der von zwei fliederfarbenen Armsesseln flankiert wurde. Auf dem Boden lag ein Perserteppich, auf der schmalen sonnengelben Couch neben dem Klavier stapelten sich Zeitschriften, Lesebrillen oder Teile eines Teeservices in einem Plastikbehälter. Und wo noch Platz war, fanden sich verstaubte alte Fransenlampen. Emma wusste kaum, wo sie hinschauen sollte und wurde von der Ahnung erfüllt, dass dieses Haus die Geschichte eines ganzen Lebens beherbergte, wenn nicht sogar mehrerer.

„Ich weiß, es sieht konzeptlos aus, doch alles hat seine Ordnung“, deutete Doris ihren Blick falsch. „Allerdings fehlt mir der Platz für den Weihnachtsbaum, wie man unschwer erkennen kann. Egal, ich habe ohnehin einen vor der Tür.“

„Ich finde Ihr Haus bezaubernd.“

Die Freude über das Kompliment war Doris anzusehen. „Schön. Umso mehr wünsche ich mir, dass Sie sich wie zuhause fühlen. Und nun mache ich mich kurz frisch. Minnie, du kennst dich ja aus. Zeig Emma bitte das Zimmer. Es ist das erste gleich links.“

„Warum gibst du ihr nicht eins zur anderen Seite hin? Dann hätte sie nicht ständig das Nachbarhaus vor Augen.“

„Lass das meine Sorge sein.“ Schon war sie draußen. Emma holte ihren Rucksack und den Koffer aus dem Auto. Beides stellte sie im Zimmer ab, das Minnie ihr zeigte, die wieder nach unten ging.

In den nächsten Tagen würde das also ihr Reich sein. Der Raum war geräumiger als gedacht, mit hübschen weißen Stores und Vorhängen mit pastellfarbenem Blumenmotiv, das sich in der Tapete wiederholte, vor der ein wuchtiger Kleiderschrank stand. Zum dunklen Holzbett mit der hohen Vertäfelung auf der Kopfseite passten die erhabenen Nachtkästchen mit den goldenen Deckchen darauf. Zwei grüne Fransenlampen rundeten das Bild ab wie ein Schreibtisch unter dem Fenster, vor dem ein Schneemann hing. Doris hatte sichtlich Freude an Weihnachten, was sie hinunterschluckte angesichts der günstigen Unterkunft, die sie sich einige Zeit leisten konnte. Emma hatte nämlich keinen blassen Schimmer, wie lange sie sich in St. Agnes aufhalten würde, und musste unvermittelt an die Mutter denken. Seit ihrer Begegnung im Hyde-Park herrschte Funkstille. Nicht zuletzt deswegen, da sie sich mittlerweile in der Karibik sonnte. Mit Sicherheit ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden. Von Ben war es nicht anders zu erwarten, aber sie war immerhin das leibliche Kind ihrer Mom. Es tat weh, dass sie ihr sogar in dieser Lage jegliche Unterstützung versagte!

Seufzend verließ Emma das Zimmer und fand Doris alleine vor, die im Armsessel saß und in einem Album blätterte. Als ihre Vermieterin auf sie aufmerksam wurde, schlug sie das Buch zu und legte es auf den Tisch.

„Ist Minnie schon weg?“ Emma zeigte auf den zweiten Sessel. „Darf ich?“

„Natürlich. Und von Minnie soll ich Ihnen schöne Grüße bestellen. Sie musste los, weil es für die Christmette einiges vorzubereiten gibt. Wir schenken immer Tee und Kuchen aus.“ Doris trug inzwischen ein bequemes graues Hauskleid. Eine Perlenkette zierte ihren faltigen Hals und sie hatte blauen Lidschatten nachgelegt. „Bis vor einigen Jahren habe ich mitgeholfen. Bedauerlicherweise lässt mein Alter manches nicht mehr zu.“

„Wenn Sie zur Mette möchten, könnte ich Sie fahren.“

„Das ist nett, Emma. Allerdings bleibe ich lieber bei Ihnen.“

„Keine gute Entscheidung. Ich bin nicht die beste Gesellschaft. Außerdem möchte ich nicht, dass Sie sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen.“

„Doris Mitchell hat ihren eigenen Kopf, das könnte Ihnen jeder in St. Agnes bestätigen. Vor allem mein Mann.“ Ihr Blick verlor sich. „Seit vierzig Jahren vermisse ich Clark“, gestand sie, während aus dem Röhrenradio mit Echtholz-Gehäuse der nächste Klassiker erklang. Das neue Gerät wurde scheinbar den alten nachempfunden. Einen CD-Player hatte man jedenfalls früher mit Sicherheit nicht gehabt. „Return to me“, klärte die alte Dame Emma mit einem seligen Lächeln auf. „Clark war ein wundervoller Tänzer, den ich wie andere Bergarbeiter-Frauen viel zu früh verloren habe.“

„Das tut mir sehr leid, Mrs. Mitchell.“

Doris legte ihre von Adern durchfurchte Hand auf Emmas. Die Geste fühlte sich unendlich vertraut an, obwohl es verrückt war. „Nennen Sie mich Doris. Für Förmlichkeiten fühle ich mich zu jung, denn egal wie zerknittert die äußere Hülle ist, das Innere altert nicht.“ Sie lachte auf und löste die Berührung. „Früher hätten Sie mich sehen sollen. Jeder Mann drehte sich nach mir um. Man verglich mich sogar mit Sophia Loren und ich galt als das schönste Mädchen in St. Agnes, was ich nicht zuletzt meiner Mutter zu verdanken hatte. Sie brachte mir bei, immer auf mich zu achten und sagte oft: Selbst wenn Krieg herrscht, soll sich eine Frau Zeit für ihr Äußeres nehmen.“

Bei jedem anderen Menschen hätte sich Emma betroffen gefühlt, denn ihre Kleidung ließ in üblicher Manier zu wünschen übrig. Aber in Doris’ Worten schwangen nur Erinnerungen mit, ohne jegliche Anspielung oder Wertung. „Warum war ihr das so wichtig?“

„Weil sie davon überzeugt war, dass man gerade in schwierigen Zeiten einige Dinge selbst in der Hand behalten soll, und sei es nur das Äußere. Es schenkt Normalität und das Gefühl, dass sich gewisse Dinge nie ändern, auch wenn sich alles um einen herum verändert. Ich beherzige ihren Rat bis heute. Obwohl mir im Spiegel eine alte Frau entgegenblickt, blieb manches seit meiner Jugend gleich. Das ist beruhigend.“ Sie fuhr sich ordnend über das Haar, auf das jede junge Frau neidisch wäre. „Verzeihen Sie, an Weihnachten werde ich schrecklich melancholisch und schwelge gern in früheren Zeiten.“

„Ich höre Ihnen gerne zu“, versicherte Emma. „Insbesondere, da ich meine Großeltern nie kennengelernt habe.“ Die Eltern ihrer Mom starben vor ihrer Geburt. Bens lernte sie nie kennen. Er war als Waisenkind aufgewachsen. Ob die Eltern ihres leiblichen Dads noch lebten? „Wie war das Leben früher?“ Emma machte es sich im Sessel gemütlich.

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