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Der Beginn der theoretischen und der empirischen Religionsethnologie
Während die erste Phase der Religionsethnologie stark vom Sozialevolutionismus geprägt war und es nur wenige Gegenstimmen gab, entwickelten sich Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Modelle, die dem evolutionistischen Fortschrittsglauben widersprachen. Aber auch sie suchten weiterhin nach dem Ursprung von Religion und konstruierten zahlreiche Theorien. Wilhelm Schmidt, Vertreter der Kulturkreislehre, entwickelte beispielsweise in seinem zwölfbändigen Werk Der Ursprung der Gottesidee (1926–1949) die Vorstellung des Urmonotheismus, nach der „frühe“ Kulturen an einen Schöpfergott glaubten, dieser Glaube dann aber zerbrach und sich erst später über den „Umweg“ des Polytheismus wieder entwickelte. Ähnlich wie seine Kollegen zu Beginn der Religionsethnologie versuchte er, seine These mit „empirischen Belegen“ aus gegenwärtigen Kulturen zu untermauern. Es hat sich später aber gezeigt, dass seine Kategorisierung eines Hochgottglaubens überaus fragwürdig war. Heute wird seiner Theorie nicht mehr gefolgt, obgleich sie zu seiner Zeit einen wichtigen Impuls in die Religionsethnologie brachte, denn sie versetzte dem entwicklungsschematischen Reihen einen Todesstoß (Münzel 2000). Die Stufenfolge von Animismus – Polytheismus – Monotheismus spiegelte lediglich eine europäische Gedankenkonstruktion wider, keinesfalls die empirisch belegbare Realität.
Einen Wendepunkt in der Entwicklung der Religionsethnologie leitete der französische Ethnosoziologe Émile Durkheim (1858–1917) ein. Er übte nicht nur einen heilsamen Einfluss auf die britische Ethnologie aus (Evans-Pritchard), die bis dahin hauptsächlich auf die Ansammlung und Sichtung von Details ausgerichtet war, ohne diese theoretisch zu hinterfragen (Evans-Pritchard 1981: 14), sondern veränderte die Religionsethnologie allgemein. Religion wurde zunehmend als menschliches Konstrukt angesehen, dessen Ursprung entweder im Individuum oder in der Gesellschaft lag, auch wenn die Gläubigen sich dieses Ursprungs nicht bewusst seien. Religion war eine Projektion einiger Attribute der menschlichen Natur, die – einmal vergegenwärtigt – eine autonome Existenz gegenüber ihren menschlichen Schöpfern einnahm (Thrower 1999: 126). Religion wurde demnach als kodifiziertes System betrachtet, mittels dessen Menschen über sich selbst sprachen, über ihre Hoffnungen und Ängste (ebd.). Die Aufmerksamkeit der Religionsethnologen begann, sich von der Untersuchung der Religionen als Quelle der frühen Stufen der menschlichen Entwicklung hin zur sozialen Funktion von Religion für Individuen und Gesellschaften zu bewegen. Durkheim war der Hauptvertreter der funktionalistischen Schule, wenn auch nicht der einzige. Durkheim widersprach biologistischen und psychologischen Interpretationen sozialer Phänomene. Religion war für ihn eine soziale Tatsache mit bestimmten sozialen Kennzeichen und Determinanten. Durkheim sah Religion aus diesem Grund nicht als Mittel zur Erklärung der Welt, sondern als Mittel, symbolische Aussagen über die Gesellschaft zu machen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Gruppen und nicht auf Individuen. So studierte er beispielsweise den Zusammenhalt von Religionsgemeinschaften bzw. dessen Mangel, aber nicht die Ansichten von einzelnen Gläubigen. Sein Hauptziel war die Erforschung der Funktionen von Religion für die Gesellschaft. Rituale etwa schaffen kollektive Identität, weil sie die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft vereinen. In der Religion sah Durkheim eine Projektion der sozialen Werte einer Gesellschaft.
Er verstand Religion als real, da die Auswirkungen real seien, auch wenn der soziale Ursprung verborgen und die religiösen Erklärungen und Glaubensvorstellungen falsch seien (Bowie 2006: 15). In Les Formes élémentaires de la vie religieuse (1912, auf Deutsch unter dem Titel Die elementaren Formen des religiösen Lebens veröffentlicht) ging es Durkheim um die Basiskomponente, die in allen Religionen anzutreffen sei. Er übernahm das Adjektiv élémentaire aus der Chemie, wo es ein chemisches Element beschreibt. Da er wie alle seine Zeitgenossen der Ansicht war, dass eine einfache Sozialstruktur auch eine einfache Religion bedinge, folgte Durkheim Tylor und kategorisierte ebenfalls die Glaubensvorstellungen der australischen Aborigines, die er als Totemismus bezeichnete, als diese elementarste Form von Religion („die primitivste und einfachste Religion […], die wir kennen“, 1994: 138). So wie Sauerstoff ein Element von Wasser ist, sah Durkheim Totemismus als Element von Religion. Damit setzte er sich von den Evolutionisten ab, denn er vertrat nicht deren Ansicht, dass Totemismus eine Urform der Religion sei, auf deren Basis sich die anderen Religionen entwickelt hätten. Vielmehr sah er im Totemismus einen Bestandteil aller heutigen Religionen. Mit Durkheim und Sigmund Freud wurden die australischen Aborigines trotz der außergewöhnlichen Komplexität ihrer Sozialorganisation und Sprache zum Symbol der Einfachheit. Durkheim widersprach allerdings Tylors Animismus-Theorie und definierte Religion als „ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinigen, die ihr angehören“ (Durkheim 1994: 75). Nach dieser Definition kann Totemismus als Religion kategorisiert werden (siehe Evans-Pritchard 1981: 96), wenngleich heutzutage davon allerdings nicht mehr ausgegangen wird. So erklärte Lévi-Strauss 1962 (1965 auf Deutsch) das Ende des Totemismus, da Totemismus als einheitliches System gar nicht existiere. Fragwürdig ist außerdem, wie ein Begriff aus einer nordamerikanischen Kultur zuerst extrahiert, dann generalisiert und schließlich auf andere Kulturen, weit entfernt von der ursprünglichen Kultur, übertragen werden konnte. Charlesworth beschreibt den Totemismus als eine der außergewöhnlichsten Erfindungen des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (1997: 61).
Sigmund Freud (1856–1939) schrieb ebenfalls über Totemismus und trug zusammen mit Durkheim zur „Hysterie“ (Lévi-Strauss) um Totemismus bei. Obwohl er kein Ethnologe war, beeinflussten einige seiner Ideen dennoch die Ethnologie. Freud war jedoch nicht der einzige, der sich mit der menschlichen Psyche beschäftigte. So vertrat beispielsweise Wilhelm Wundt einen völkerpsychologischen Ansatz (siehe Probleme der Völkerpsychologie, 1912). Verwoben in einem evolutionistischen Ansatz vertrat Wundt die Ansicht, dass mythisches Denken in emotionalen Prozessen wie z. B. Furcht entstand. Wundt begann sein Stufenschema mit dem Glauben an Magie und Dämonen. Religion stand auf der nächsten Stufe zusammen mit dem Totemismus. Anschließend folgten Ahnenkult, Heldenverehrung und Götterkult sowie am Ende das humanistische Zeitalter mit dem religiösen Universalismus. Freud ging einen anderen Weg. Seine Theorie basierte auf der Überzeugung, dass das Bewusstsein seiner neurotischen Patienten psychologisch dem der „Wilden“ entsprach, d. h. magische Riten würden den Zwangshandlungen der Neurotiker entsprechen (siehe z. B. Totem und Tabu, 1913). Freud begründete diese Entsprechung mit der Entwicklung der Individuen. Ein Individuum durchläuft nach Freud drei libidöse Phasen: Narzissmus, Objektfindung (charakterisiert durch die Abhängigkeit von den Eltern) und Reifezustand. Diese drei Phasen entsprechen der intellektuellen Entwicklung der Menschheit: Animismus (entspricht Magie), Religion und Wissenschaft. In der narzisstischen Phase kompensiert ein Kind die Tatsache, dass es vieles nicht kann, indem es mangelnde Aktion durch Denken ersetzt, genau wie ein Magier oder ein Neurotiker. In der zweiten Phase, der Objektfindung, entsteht die Abhängigkeit von den Eltern bzw., in Entsprechung zur Religion, von den Göttern. Das Vertrauen und die Abhängigkeit bezogen auf den Vater werden idealisiert und auf ein Gottesbild projiziert. Religion ist daher objektiv betrachtet eine Illusion. Aus der subjektiven Perspektive der Gläubigen, der adoleszenten Kinder, ist Religion allerdings real (siehe Die Zukunft einer Illusion, 1927). Wenngleich die Gleichsetzung der Psyche von „Wilden“, Kindern und Neurotikern in der Ethnologie von Anfang an weitgehend abgelehnt wurde und sich Freuds Theorie durch empirische Forschungen nicht belegen ließ, hatte Freud dennoch Einfluss auf die Ethnologen, beispielsweise auf Malinowski.
Bronislaw Kaspar Malinowski (1884–1961) war neben Durkheim einer der wichtigsten Vertreter des Funktionalismus und entwickelte Durkheims Theorie der kollektiven Funktionen von Religion weiter. Vor allem brachte er einen verstärkten individualistischen Blick in den Funktionalismus ein. Beeinflusst von Freud warb Malinowski für einen emotionalistischen Zugang zur Religion. Für Malinowski brauchte jeder Mensch eine Form von Glauben. Wer keine Religion habe, glaube an die Ideen der Aufklärung. Malinowski ist vor allem für seinen methodischen Beitrag zur Ethnologie berühmt geworden. Viele markieren den Beginn der modernen Ethnologie mit dem Wechsel von der theoretisierenden Armsessel-Forschung hin zur intensiven Feldforschung, die u. a. von Malinowski vorangetrieben wurde. Seine theoretischen Beiträge gelten dagegen als eher mager. Dennoch möchte ich hier seine Arbeiten über Religion und Magie erwähnen, mit denen er sich von seinem Lehrer, James Frazer, absetzte. In seinen Monografien über die Trobriander (z. B. in Argonauts of the Western Pacific, 1922, auf Deutsch 1979, und Coral Gardens and Their Magic, 1935, auf Deutsch 1981) beschreibt Malinowski ausführlich die verschiedenen Funktionen der magischen Riten sowie ihre Beziehung zu den Mythen. Er widersprach dem evolutionistischen Abfolgeschema von Frazer und schrieb, dass er nie ein Volk ohne Religion und Magie sowie nie ein Volk ohne eine Form von wissenschaftlicher Haltung getroffen habe (in Magic, Science and Religion, 1948). Ähnlich zu Durkheim trennte Malinowski zwischen dem Sakralen und dem Profanen in einer Gesellschaft. Magie und Religion gehören zum sakralen Teil, während Wissenschaft zum profanen zählt. Der Unterschied zwischen sakral und profan ist, dass sakrale Handlungen mit Ehrfurcht und Verehrung ausgeführt werden. Magie und Religion sind auch psychologisch gesehen gleich, da beide kathartische Funktionen erfüllen und in Situationen emotionaler Bedrohung funktionieren. Die Ausführung von religiösen Riten hilft den Menschen, Angst und Spannungen zu überwinden. Magie ist dagegen eher eine Ersatzhandlung aufgrund ungenügenden Wissens über empirische (d. h. wissenschaftliche) Mittel. Die Funktionen von Magie und Wissenschaft ähneln sich deshalb: beide sind Mittel, die Welt zu erklären und zu kontrollieren. Im Unterschied dazu ist die Funktion von Religion, wichtige Erlebnisse im Leben, die rites de passage, mit Bedeutung und Wert zu versehen. Auch wenn Religion nach Malinowski vor allem eine kollektive Funktion übernimmt, erkannte er dennoch – im Unterschied zu Durkheim –, dass Religion eine wichtige Rolle im Leben eines Individuums spielt. Thrower hebt angesichts dessen hervor, dass die Aufgabe der Religionsethnologie seit Malinowski in erster Linie darauf gerichtet sei, die Rolle von Religion im Leben der Menschen zu verstehen, anstatt weiterhin der Frage nachzugehen, wie einzelne Glaubensvorstellungen entstanden seien (1999: 116).[15]
Mit Malinowski begannen die religionsethnologischen Feldforschungen. Evans-Pritchard hebt beispielsweise R. H. Lowie und Paul Radin hervor, beide US-amerikanische Ethnologen, die in nordamerikanischen Kulturen arbeiteten und sich auf Glaubensvorstellungen konzentrierten. In Großbritannien ist vor allem Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881–1955) zu nennen, der u. a. für die Verbreitung von Durkheims Schriften in Großbritannien und Australien (er lehrte von 1920 bis 1931 in Sydney) verantwortlich war (Charlesworth 2005: 7). David Gellner bezeichnet seine Monografie The Andaman Islanders (1922) als erste religionsethnologische Arbeit auf der Basis einer Feldforschung (Gellner 1999). Radcliffe-Brown war ebenfalls ein Vertreter des Funktionalismus, allerdings in strukturalistisch-funktionalistischer Ausrichtung. Ähnlich wie Malinowski untersuchte Radcliffe-Brown die Funktionen, die religiöse Elemente in der Gemeinschaft erfüllen. Im Unterschied zu Malinowski schrieb er jedoch auch über die Gefühlswelt. In Structure and Function in Primitive Society (1952) beispielsweise beschrieb er die Funktion von Riten als „the regulated symbolical expression of certain sentiments“, Riten erfüllen folglich eine soziale Funktion in einer Gemeinschaft, „when, and to the extent that, they have as their effect to regulate, maintain, and transmit from one generation to another sentiments on which the constitution of society depends“ (1952: 157).[16]
Während diese Richtung der Religionsethnologie, die vor allem die britische Sozialanthropologie prägte, Religion mit Vernunft erklären wollte, entstand fast zeitgleich eine Richtung, die einen anderen Weg einschritt, indem sie den irrationalen Aspekt von Religion betonte. Obwohl sie einige Zeit ignoriert bzw. bekämpft wurde, scheint sie durch die kognitive Richtung seit einiger Zeit wieder aus dem Dunklen hervorzukommen. Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939), der dem französischen Surrealismus der 1920er und 1930er Jahre nahestand, argumentierte in seinem Hauptwerk Les fonctions mentale dans les sociétés inférieures (1910, auf Deutsch 1921), dass es zwei Formen des Denkens gäbe, eine rationale, die in scheinbar entwickelten Gesellschaften vorherrsche, und eine prälogische, mystische in scheinbar einfachen Gesellschaften. Es sei allerdings möglich, die logischen Gegensätze zu überwinden, unter anderem mittels der Partizipation, der Teilhabe, ohne die jegliche Kreativität verkümmert. Kreativität entsteht folglich außerhalb der Vernunft. Lévy-Bruhl wollte mit seiner Theorie über die „primitive Mentalität“ keineswegs die Vorstellungen der anderen Kulturen diskreditieren, sondern er wehrte sich gegen die Versuche seiner Zeitgenossen, Vorstellungen und Handlungen anderer Völker anhand eigener Denkprozesse zu erklären. Bereits die Frage, was jemand etwa anstelle der Aborigines tun würde, sei ebenso sinnlos wie der Aufbau ganzer auf dieser Annahme beruhender Theorienkomplexe, denn die Mentalität eines Individuums gehe, wie Evans-Pritchard Lévy-Bruhl zusammenfasst, aus den Kollektivvorstellungen seiner Gesellschaft hervor (1981: 122). Sobald sich die Gesellschaft und ihre sozialen Strukturen verändern, verändern sich auch die Vorstellungen des Individuums. Lévy-Bruhl war ein Theoretiker, der sich auf die ihm damals zur Verfügung stehende Literatur stützte. Demzufolge sind zahlreiche Missverständnisse und Fehlinterpretationen in seinen Ausführungen enthalten, die oft mit fehlender Sprachkompetenz der Beobachter zu erklären sind. Er hat auch keineswegs versucht, seine Theorie empirisch zu belegen, im Gegenteil, seine krasse Gegenüberstellung der beiden Mentalitätsformen basierte ja gerade auf einer konstruierten Polarisation. Dennoch weist Lévy-Bruhl die aufmerksamen Leser seiner Schriften, die sich nicht durch die ungewohnte und mitunter altertümliche Wortwahl ablenken lassen, darauf hin, dass Religion nicht rational erklärbar ist, und dass ein Verständnis der anderen Denkform dennoch möglich sein kann. Lévy-Bruhl rückt mit seinen Aussagen in die Nähe des Theologen Rudolf Otto (1869–1937) und seiner Idee über Das Heilige (1917).
Otto definierte die Erfahrung des Numinosen (der Heiligen) als mysterium tremendum et fascinas. Aus dem Gefühl des „schauervollen Geheimnisses“ (mysterium tremendum, 1987: 13) entsteht das Sinnverwirrende, das „Sinnberückende, Hinreißende, seltsam Entzückende, das oft genug zum Taumel und Rausch sich Steigernde, das Dionysische“, das Fascinans (1987: 42). Die religiöse Erfahrung hat für Otto somit etwas Berauschendes, etwas Irrationales, das mit den Mitteln der Vernunft nicht erklärbar ist. Otto beschreibt in seinem Buch die Erfahrung eines Gläubigen, d. h. er liefert eine emische Erklärung von etwas, das die meisten Religionsethnologen bisher mit Vernunft und Logik erklären wollten.[17] Wenngleich wiederum viele Aspekte von Otto heute auf Ablehnung stoßen – vor allem seine evolutionistische Hierarchisierung religiöser Erfahrungen mit dem Christentum als der höchsten Stufe – bringt er doch eine interessante Wende in die Religionsethnologie, indem nun die Ergriffenheit der Menschen angesichts des Rituals in den Mittelpunkt der Forschung rückte. Leo Frobenius (1873–1938), Vertreter der Frankfurter Schule der Ethnologie, sah etwa im intensiven Spiel des Kindes den „Urquell aus heiligsten Grundwässern aller Kultur und aller großen Schöpfungskraft“ (Frobenius 1993: 24). Der Mensch kann sich vom Wesen der Erscheinungen derart ergreifen lassen, dass diese in sein paideumatisches Bewusstsein eintreten und neue Gestalt gewinnen, wie Frobenius anhand des Spiels von Kindern erklärt. Denn „in diesem Spiel tritt die Fähigkeit zutage, sich seelisch und in voller ‚Wirklichkeit‘ einer zweiten Erscheinungswelt hinzugeben, indem das Menschlein oder der Mensch sich von einer Erscheinung, die außerhalb seiner natürlichen Beziehungen und ihrer selbstverständlichen Ursachen liegt, ergreifen läßt.“ (Frobenius 1993: 24, Hervorhebung von L. F.). In diesem Stadium der „Ergriffenheit“ offenbaren sich die kulturellen Rollen der Einzelnen oder der Gemeinschaft. Für Adolf Ellegard Jensen (1899–1965) ist die Ergriffenheit die „Triebkraft zum Aufbruch jedes Kulturkreises“ (Münzel). Zentraler Aspekt seiner religionsethnologischen Studien ist das Verhältnis der Menschen zur Natur. In der Einleitung zu Mythos und Kultur bei Naturvölkern (1951) kritisiert Jensen an früheren Schriften, dass diese durch ein Zerrbild von der Natur des frühen Menschen beeinflusst waren (Jensen 1992: 20). Während Ethnologen auf Gebieten wie Technik und Wirtschaft eingesehen hätten, dass die vermeintlich fehlende Komplexität bei frühen Kulturen fehlerhaft dargestellt war, überdauerte die Missachtung der Leistungen auf den Gebieten der Kunst und Religion. Nach Jensen ist es am „bedauerlichsten und folgenschwersten“, dass sogar die Feldforschung bei gegenwärtigen Völkern fremder Erdteile „noch immer weitgehend von dieser Theorie ausgeht.
Dadurch wird das eigentliche Grundmaterial, auf dem alle ethnologische Arbeit beruht, von vornherein entstellt oder gar verfälscht, zumindest aber nicht rein phänomenologisch dargeboten“ (Jensen 1992: 20). In Mythos und Kultur bei Naturvölkern setzt sich Jensen mit der zu seiner Zeit vorherrschenden religionsethnologischen Theorie auseinander und kritisiert deren Umgang mit den Religionen fremder Völker, die er als im Zustand der Erstarrung befindlich charakterisiert. Wichtig sei daher, den ursprünglichen schöpferischen Akt, der zu der Erscheinung geführt habe, zu ermitteln und den ursprünglichen Sinn zu begreifen (1992: 24). Religiöse Praktiken treten uns im Anwendungsstadium entgegen; Religionsethnologen müssen nun den ursprünglichen Sinn erforschen, auch wenn die Verfahren schwierig und mitunter missverständlich sein können (1992: 25). Zur Illustration führte Jensen das Konzept der Dema-Gottheiten in die Religionsethnologie ein, das für einige Kollegen eines der wichtigsten Beiträge der deutschen Religionsethnologie ist. Basierend auf Mythen aus Südamerika, Afrika, Indonesien und Ozeanien entwickelte Jensen eine Theorie der Dema-Gottheiten, die sich vom Hochgottglauben, den beispielsweise Andrew Lang vertrat, unterschied. Dema ist ein Begriff der Marind-Anim Sprache (gesprochen in Neuguinea) und wird für Urzeitwesen verwendet. Dema bezeichnet die Gesamtheit der Urzeitwesen sowie die göttlich-schöpferischen Gestalten unter ihnen (Jensen 1992: 135). Dema werden sehr unterschiedlich beschrieben, mal in Menschengestalt, mal als Tier- oder Pflanzenwesen. Die Dema-Gottheiten unter ihnen kreieren „das Seiende und die Seinsordnung“ und beenden so die Urzeit. Der schöpferische Prozess ist allerdings nach Jensen sehr verschieden von unseren Vorstellungen von Schöpfung. Es wird nicht etwas erschaffen und dann beseelt, vielmehr wird die Schöpfung hervorgerufen durch den entscheidenden Vorgang der Tötung der Dema-Gottheiten (Jensen 1992: 136). Die getöteten Dema-Gottheiten verwandeln sich dann in Nutzpflanzen, wie beispielsweise Maniok, Yams und Kartoffeln, und an die Stelle der Unsterblichkeit der Urzeit tritt das Nahrungsbedürfnis, die Fortpflanzung und Sterblichkeit, denn die getöteten Dema-Gottheiten verwandeln sich selbst in das Totenreich. Die Tötung der Dema-Gottheiten ist wichtig für die Schöpfung der Menschheit, für den Beginn der Welt. Jensen beschreibt die religiöse Haltung der Menschen als „sich des göttlichen Ursprungs dieser Ordnung bewusst“ sein und bleiben. Kultische Handlungen seien daher dramatische Aufführungen der Urzeitvorgänge (1992: 136). Jensen entdeckte in Mythen von zahlreichen landwirtschaftlichen Kulturen weltweit ähnliche Themen wie die Tötung der Dema-Gottheit in Neuguinea. Er interpretierte deren Rituale dann im Kontext der neuguineischen Mythen mit dem Argument, dass in diesen Ritualen ähnliche mythische Schöpfungsprozesse beobachtet werden können, die zu modernen Strukturen geführt haben. In der Wiederholung der Rituale bestätigen die Menschen die Weltordnung. Nach Jensen haben alle Religionen eine ordnende Logik, die aus der Naturbeobachtung folge und rational fassbar sei. Wenn sich das Verhältnis zur Natur verändere, verändere sich auch die Weltordnung, von der jeder Kulturkreis ergriffen sei. Jensen widersprach somit einer getrennten Untersuchung von Mythen, Ritualen und Sozialordnung und kann als früher Vertreter der Kontextualisierung von Theorien betrachtet werden. Davon aber später mehr.
Etwa zeitgleich zu Frobenius in Frankfurt begann mit Franz Boas (1858–1942) an der Columbia University in New York die nordamerikanische kulturanthropologische Schule, die sich, ähnlich wie die Kulturkreislehre, ebenfalls gegen den Evolutionismus wandte und einen historischen Partikularismus proklamierte. Auch Boas versuchte nicht, die sozialen Funktionen zu ermitteln, sondern die kulturellen Unterschiede zu verstehen. Durch seine Forschungen bei den Inuit und den Nordwestküsten-Indianern kam er zu dem Schluss, dass materielle Kultur und Persönlichkeit zusammen einen kulturellen Stil charakterisierten, der einzigartig für jede Kultur sei (siehe z. B. Race, Language and Culture, 1982, im Original 1940 erschienen). Seine Betonung der individuellen, einzigartigen Aspekte einer Kultur, die die Basis des Kulturrelativismus bildet, ist nach Bowie sein wichtigster Beitrag zur Ethnologie (2006: 93). Er widersprach jeglichen Versuchen, allgemeine Behauptungen über Kulturen zu machen. Ethnologen sollen Kulturen innerhalb ihres jeweiligen Kontextes studieren und verstehen lernen. Übertragen auf die Religionsethnologie bedeutet das, dass wir uns hüten sollten, Begriffe aus unserer Kultur, wie beispielsweise Gott oder Seele auf andere Kulturen zu übertragen, vielmehr sollten wir Begriffe aus den Kulturen, die wir studieren, verwenden und dann deren Bedeutung erklären.
In Boas Kulturrelativismus zeigt sich eine deutliche Kritik an den funktionalistischen Interpretationen von Religion, welche die Sozialanthropologie seiner Zeit dominierten. Denn bei allen Deutungen über die möglichen Funktionen von Magie und Religion, von Riten und Hexerei ist stets zu bedenken, dass es sich hierbei lediglich um Interpretationen handelte. Viele werden heutzutage nicht mehr vertreten bzw. nur unter Vorbehalt. Wie Evans-Pritchard schreibt, beruhen Malinowskis Beobachtungen, anhand dessen er seine Theorie über Magie und Religion entwickelte, zum Teil auf Riten, die eigens für ihn veranstaltet wurden. Somit wurden sie außerhalb der üblichen Zeit veranstaltet, so dass sich „kaum annehmen [lässt], dass eines dieser zur Schau gestellten Gefühle von Spannung oder Frustration hervorgerufen war“ (Evans-Pritchard 1981: 83). Wenn wir uns auf Theorien dieser Zeit beziehen, müssen wir stets die Frage nach der repräsentativen Macht stellen, d. h. wir müssen uns einer Kritik stellen, die später mit der feministischen Wende bzw. dann vor allem mit der postkolonialen Wende die Ethnologie veränderte. Wie die Darstellung der Ursprünge der Religionsethnologie bereits zeigte, müssen wir uns mit der Wissenschaftsgeschichte beschäftigen, um zu erkennen, wie stark unser Vokabular durch Machtpositionen geprägt ist. Kategorisierungen wie Magie und Religion oder Debatten um die Definition von Religion deuten bereits auf spätere Diskurse hin, die unser Fach weiterhin prägen. So entspricht die Begrenzung der Religionsethnologie auf ethnische Religionen (bzw. autochthone Religionen, Naturreligionen, Elementarreligion, primäre Religionen oder Stammesreligionen) der Debatte in dieser ersten großen Phase der Religionsethnologie.[18] Wenngleich Bowie schreibt, dass die Differenzierung zwischen Weltreligionen und primären Religionen (sie verwendet den Ausdruck primal) nicht völlig wertlos sei, spiegelt sie doch meines Erachtens eine Hierarchisierung religiöser Phänomene wider, die dem heutigen Wissensstand nicht mehr entspricht. Genauso wurden am Ende der kolonialen Phase die Trennung von Magie und Religion und die Debatte um Totemismus oder Animismus als vorreligiöse Stadien fallengelassen.
Diese Kritik bedeutet aber nicht, dass die andere europäische Richtung in der Religionsethnologie überdauerte, ganz im Gegenteil. Die Beschäftigung mit dem Irrationalen und die Suche nach dem Mythischen sind schon lange aus der Religionsethnologie verdrängt und als schwärmerische Begeisterung diskreditiert. Dennoch bringen sie uns heute wichtige Impulse für eine postmoderne Religionsethnologie.