Kitabı oku: «Schau nicht hin, schau nur geradeaus», sayfa 3
Ich finde es so schade, dass nun keine Schule mehr ist! Das Lernen hat mir richtig Spaß gemacht, vor allem das Lesen und Schreiben. Außerdem ist ja im Winter eh nicht so viel anderes Spannendes zu tun.
Hoffentlich ist der Krieg bald aus; dann kommt Papa wieder, und dann gibt es auch wieder Schule. Auch wenn die bei ihm bestimmt nicht so spaßig wird wie bei dem Fräulein. Egal.
Gestern hat es tüchtig geschneit, und Ari und Ekkehard können ihre Skier benutzen, um zur Schule nach Frankfurtoder zu laufen. Ari darf jetzt ja auch aufs Gymnasium. Sie finden das Skifahren ›kollosiv‹. Ich dagegen muss jetzt andauernd Mutti im Haushalt helfen, und das finde ich kollosiv ungerecht!
In fünf Tagen ist aber bereits Nikolaus, und darauf freue ich mich schon wie toll. Und danach kommt bald Weihnachten, und vielleicht kommt ja Papa auf Fronturlaub aus Frankreich. So als Überraschung! Wenn ich Mutti danach frage, macht sie immer ein komisches Gesicht. Deswegen glaube ich, dass sie etwas Großes für uns plant. Ich bin schrecklich gespannt und kann es kaum abwarten.
Ach, was freue ich mich auf Weihnachten!
Elisabeth
21. Dezember 1944
Vielleicht gehen wir am Wochenende. Oder doch besser schon morgen? Vollmond ist erst am 29. Dezember. Ich weiß es einfach nicht. Es ist so schrecklich kalt da draußen. Räumen tut auch schon lange keiner mehr.
Ich habe schon vor Tagen alles gepackt. Viel passt ja eh nicht in die drei Rucksäcke. Gerlinde ist noch zu klein, sie soll nichts tragen, sondern Ekkehards Hand halten im Dunkeln. Aribert hat erzählt, es sind Tannenzweige auf die Eisfläche gesteckt worden, da findet man sich hoffentlich auch im Dunkeln zurecht. Übermorgen ist Vollmond.
Wann soll ich die Kinder wecken? Oder soll ich sie einfach wach halten? Vor zehn Uhr abends traue ich mich nicht loszugehen, da läuft der alte Wittich manchmal noch die Hauptstraße entlang, wenn er aus dem Wirtshaus kommt. Trinken geht immer, sagt er. Und was soll er auch anderes tun an den langen Winterabenden, so allein, wie er ist? Seit seine Frau vor fünf Jahren gestorben ist, kommt er zwar leidlich zurecht. Gut, dass Jettchen das Elend nicht mehr mitkriegt, sagt er immer. Es tut mir leid, dass er schon wieder ein Weihnachtsfest allein erlebt. Zu uns kann er nicht kommen, die Leute würden reden. Außerdem bin ich zu nervös.
Obwohl die Kinder das wohl schön fänden. Wittich kann recht amüsante Sachen erzählen, wenn er dazu aufgelegt ist. Vor allem nach ein, zwei Hellen. Aber er würde es mir anmerken.
Es darf einfach niemand etwas mitbekommen, hat Willi mit Feldpost geschrieben. Das war schon ein Risiko für sich. Wir sollen so unauffällig wie möglich gehen. Nicht, dass noch einer was mitkriegt und uns wegen Zersetzung anschwärzt. Das hat er natürlich nicht so ausgedrückt, aber ich kenne meinen Bruder, und ich weiß immer, was er wie meint.
Gestern habe ich noch die Spanngurte aus der Garage geholt, damit können wir uns aneinanderbinden, falls nötig. Wenn nicht, dann gebrauchen wir sie für den Treck. Ich war erstaunt, dass sie überhaupt noch da waren. Von Bernhards Wagen ist nur noch das Chassis übrig. Alles andere haben sie in den letzten Monaten abgebaut. Erst nur die Räder; da haben sie sogar noch Bescheid gesagt. »Von Amts wegen konfisziert«, hieß es. Mit so einem abgestempelten Hakenhabicht haben sie mir vor der Nase rumgefuchtelt, als ich protestiert habe: dass der Lehrer, Küster, Organist und Standesbeamte von Matschdorf sein Fahrzeug doch braucht, wenn er wiederkommt! Wenn er denn wiederkommt.
Da hat sich doch dieser kleine Wichtigtuer vor mir aufgebaut und mich angeraunzt, ob ich noch immer nicht wisse, was auf dem Spiel stünde? Der Endsieg sei zum Greifen nahe und da müsste eben jeder Volksgenosse Opfer bringen.
»Kröppen Se sich ma nich so uff, junge Frau!«, hat er gemeint. »Se können ja sowieso nich fahren.«
So ein Hundertfuffzigprozentiger aus Pankow, der sich hier nun großtut! Zu Kaisers Zeiten hätte Mutter dem noch flinke Beine gemacht.
Jedenfalls haben sie dann erst nur zwei Räder mitgenommen. Als ob damit der Krieg zu gewinnen wäre. Beim zweiten Mal kam dann so ein Jungspund, der hat nur den Kopf zur Schultür reingesteckt und gefragt, ob wohl der Schuppen offen sei. Als hätte er bei uns Hausrecht! Wenig später ist er dann mitsamt Handkarre und den beiden Hinterrädern wieder verschwunden.
Na, und in den letzten vier Wochen haben dann die Scheinwerfer und die Vordersitze Beine gekriegt. Und so ganz en passant noch das ein oder andere nützliche Teil aus dem Schuppen. Dann die Seitenspiegel und letzten Mittwoch die Scheibenwischer. Gott weiß, was an denen kriegswichtig sein mag.
Die Gurte stecke ich in die Manteltasche, da habe ich sie dann gleich griffbereit. Wir können ja sonst kaum etwas mitnehmen. Wenn uns des Nachts doch noch jemand auf der Straße begegnet, müssen wir so tun können, als wollten wir bloß kurz nach Wiesenau, Festtagsbesuch bei Großvater Ernst, weil dem nicht gut ist. Oder was auch immer mir dann einfällt.
Ernst hat es ja wirklich mit dem Herzen, das weiß hier auch jeder, also ist das plausibel. Warum wir im Stockfinstern gehen, schon weniger. Aber darum mache ich mir Gedanken, wenn es dazu kommt.
Ekkehard hat schon im Herbst mein Aussteuersilber und Bernhards Erstausgaben in einen Blechkasten gepackt und hinten im Garten vergraben. Ich fand’s erst übertrieben …
»Die braven Volksgenossen List und Hinterlist, Mutti!«, hat er grinsend gemeint.
Gut hat er daran getan! Nun ist schon Gras drüber gewachsen – beinahe im Wortsinne. Und seit drei Wochen liegt hoch Schnee obendrauf.
24. Dezember 1944
Wir gehen heute Nacht. An Heiligabend bleiben nach dem Gottesdienst immer alle Leute zu Hause. So werden wir hoffentlich von niemandem gesehen. Den Kindern sage ich es nach der Bescherung. Erst essen wir noch den Karpfen, den Wittich uns vor zwei Wochen gebracht hat. Gerlinde wird Rotz und Dreierschnecken heulen, wenn ich ihn schließlich aus dem Badetrog hole. Wie jedes Jahr. Immerhin lenkt sie das vielleicht etwas ab.
* * *
Zieht so viel übereinander, wie ihr könnt!, sage ich um halb elf zu den Kindern.
Die Bescherung haben wir zuvor noch hinter uns gebracht; viel gab’s ja nicht dieses Jahr. Jetzt ist es allerhöchste Zeit.
Es ist bitterkalt da draußen. Gerlinde will keine zwei Paar Socken anziehen, weil ihr dann die Schuhe drücken. Ich zwinge sie dazu. Sie quengelt, ist müde, will, dass wir es uns ›gemütlich machen‹ und sie später dann auf dem Sofa einschlafen kann, wie sonst jedes Jahr und nur am Heiligen Abend. Jetzt will sie unbedingt ihre Susi mitnehmen und fängt an zu heulen. Ich lüge sie an und sage: »Die holen wir später, die hat doch Angst im Dunkeln!«
Die Zuckerstangen vom Baum dürfen sie mitnehmen, wir wickeln sie in Butterbrotpapier, und ich stecke sie Gerlinde in die Manteltasche. Pass gut darauf auf! Das ist jetzt deine Aufgabe, schärfe ich ihr ein. Sie nickt und beruhigt sich etwas.
Ari will seinen neuen Ranzen mitnehmen. Na gut, den kann er sich zusätzlich auf den Rücken schnallen. Ekkehard versteht natürlich schon, was jetzt kommt. Er ist sehr still und wirkt konzentriert, er macht mir keine Scherereien, wie sonst eigentlich stets.
Als wir das Haus verlassen, ist draußen alles totenstill. Leider ist es wolkenverhangen, und wir sehen trotz zunehmendem Mond kaum die Hand vor Augen. Ari soll Gerlinde bis zum Ufer bei der Hand halten und sie unter keinen Umständen loslassen, das schärfe ich ihm ein.
Die Taschenlampe dürfen wir erst in Ufernähe benutzen. Der Schnee liegt knöchelhoch, unsere Spuren wird man morgen früh wohl sehen. Sei’s drum. Ist ja nicht verboten, mit seinen Kindern zu Verwandten zu gehen. Nur gefährlich ist es. Unverantwortlich, werden einige sagen. Aber dann sind wir weg.
Unverantwortlich ist es wohl eher, hierzubleiben.
Die große Brücke Richtung Frankfurt haben sie schon vor vier Wochen gesprengt. Wahrscheinlich in Erwartung des nahenden Endsiegs? Was für eine Posse! Sie nehmen damit billigend in Kauf, dass alle hier im Dorf zu Kanonenfutter werden, wenn der Russe kommt.
Dahinten ist die lange Reihe Pappeln zu erkennen, die den Uferstreifen säumt. Ich bete, dass wir gleich die Tannenzweige erkennen, die unsere Treppenterrier [2] vorgestern auf dem Eis gesteckt haben. Sie sollen markieren, wo die Eisfläche schon dick genug ist, um eventuell mit dem Fuhrwerk darüberzufahren. ›Für alle Fälle‹! Ausprobiert hat das natürlich noch niemand. Nicht überall war das Eis auf der Oder letzte Woche bereits dick genug. Es wird ja auch überall eingeleitet. Und an solchen Stellen kann man jederzeit einbrechen. Letzte Woche ist noch der Hund von Kranskes verschwunden, wahrscheinlich auch in der Oder ertrunken.
Immerhin hat es seither jede Nacht gefroren. Aber eben auch geschneit. Wenn wir die Zweige nicht finden, müssen wir umkehren. Ich werde nicht das Leben meiner Kinder aufs Spiel setzen. Obwohl ich das auch tue, wenn wir in Matschdorf bleiben.
Die Kinder sind nicht schwer, Gerlinde ist ein Fliegengewicht, ich bin auch nicht gerade eine Rubensfigur. Das wird schon.
Mir klopft das Herz bis zum Hals, als wir in die Nähe des Ufers kommen. Ekkehard macht die Taschenlampe an. Wir sehen: nichts. Dass hier ein Flussbett ist, man kann es nur ahnen, weil der Boden etwas abschüssig ist. Die Tannenzweige sehe ich auch nicht, Himmelherrgott!
Der Schnee ist nun schon kniehoch. Gerlinde kann hier nicht mehr laufen. Ich sage Ekkehard, dass er sie von jetzt an tragen muss. Er murmelt etwas wie: »Tragen und Leuchten geht nicht, Mutti.«
Also nehme ich die Taschenlampe an mich. Wir gehen vorsichtig den kleinen Abhang hinunter. Unmöglich zu erkennen, wo der Fluss bzw. die Eisfläche anfängt und das Ufer aufhört. Ich glaube zu wissen, dass wir uns weiter rechts halten müssen, das ist aber nur so ein Gefühl. Die Kinder sind ganz still, und wir hören nur unseren Atem und das Knirschen unserer Schuhe im Schnee.
Auf einmal sacke ich ein, unter mir ist nichts als, ja was? Ich befürchte, jeden Moment durch die Eisfläche zu brechen, sind wir denn schon auf dem Wasser? Ich bin verwirrt und verliere die Taschenlampe. Bis zum Hals stecke ich in einer Schneewehe fest und kann mich nicht bewegen. Es ist stockfinster. Gerlinde beginnt zu schreien: »Mutti! Wo bist du?«
Ekkehard schnauzt sie an, sie soll still sein.
»Mutti?«, ruft nun auch er leise nach mir.
»Ich bin hier«, sage ich. »Ich glaube, ich bin in eine Schneewehe gesackt.«
Ekkehard setzt Gerlinde ab und bedeutet ihr, sich nicht vom Fleck zu rühren. Sie beginnt wieder zu weinen.
»Wir müssen Mutti ausgraben«, sagt Ekkehard zu Aribert. »Stell deinen Rucksack neben Gerlinde ab!«
Beide robben nun auf dem Bauch auf mich zu und beginnen um mich herum mit bloßen Händen zu schaufeln wie die jungen Hunde. Gerlinde jammert, heult und ruft nach mir.
»Bleib, wo du bist!«, raunzt Ekkehard sie flüsternd an.
»Muttiii«, schluchzt sie jetzt etwas leiser und umso jämmerlicher.
Ich versuche, irgendwie mitzuhelfen beim Buddeln. Doch ich stecke wie in einem Kokon verpackt im Schnee fest. Nach ein paar Minuten haben sie mich bis zur Hüfte ausgegraben. Doch noch immer komme ich nicht raus aus dem Loch, das mein Körper in den Schnee gedrückt hat. Meine Söhne schnaufen vor Anstrengung. Ekkehard japst: »Wir haben es bald!«
Nach einer gefühlten Ewigkeit kann ich meine Beine wieder anheben und robbe ebenfalls bäuchlings in Richtung des Weges, auf dem wir gekommen sind. Die Jungs sind fix und fertig, sie keuchen vor Anstrengung. Wir kehren zu Gerlinde zurück, die sich an mein Bein klammert und nun wieder lauter heult.
»Das war die falsche Stelle«, sage ich, überflüssigerweise.
»Los. Probieren wir es weiter in Richtung der ehemaligen Brücke.«
»Ich will nach Hause«, weint Gerlinde.
Ekkehard nimmt sie wieder auf den Arm.
»Das geht jetzt nicht, Lili«, sagt er zu ihr. »Wir müssen doch zu Großvater!«
»Warum können wir das denn nicht tagsüber machen?«
»Es soll eine Überraschung werden«, antwortet er ihr.
»Aber Großvater schläft doch bestimmt schon, wenn wir kommen!«, jammert Gerlinde, die man nicht so leicht hinters Licht führen kann.
»Na, aber morgen früh, wenn er aufsteht, sind wir schon da«, improvisiert Ekkehard. Er weiß, dass wir zu Mutters Hof gehen, nicht zu Schwiegervater Ernst.
»Was meinst du, wie der sich freut!«
Ich bin ein bisschen stolz auf meinen 16-Jährigen. Er versucht, der Mann im Haus zu sein, seit Bernhard an der Front ist. Viel zu erwachsen ist er. Und gerade in dem Alter, wo sie ihn vielleicht doch noch ziehen. Dem einen ist er halt ein Jungscher, dem anderen schon Volkssturm.
Auch deshalb müssen wir weg, bei all dem Rekrutierungs-Wahnsinn, den sie jetzt noch verzapfen.
Nachdem wir alle ein bisschen verschnauft haben, versuchen wir – nun ohne Taschenlampe – den Weg auf die Eisfläche zu finden, dort, wo sie angeblich markiert sein soll. Gottlob lichten sich die Wolken ein wenig, so dass der Mond uns etwas Licht schenkt.
»Da!«, sagt Ekkehard. »Da vorne ist es!«
Und tatsächlich, im Zwielicht sieht man die eine glatte, unberührte Schneefläche und darauf eine doppelte Linie dunkler Punkte, die im Abstand von etwa zwei Metern eine Art Schneise markiert. Wie ein Kettelsaum, denke ich und schelte mich zugleich, dass mir jetzt dieser dumme Vergleich einfällt. Ich muss mich konzentrieren.
»Bleibt hinter mir!«, beordere ich Ekkehard.
»Du hältst ab jetzt immer etwa drei Meter Abstand zu mir!«
Wenn ich einbreche, müssen die Kinder weit genug weg sein. Das mit den Gurten war eine Schnapsidee. Abstand ist sicherer als Anleinen. Mir bricht trotz der Kälte am ganzen Körper der Schweiß aus. Warum habe ich auch so viel in den Rucksack gepackt! Er zieht an meinen Schultern, und ich hoffe, dass ich damit nicht zu schwer bin. Ich setze vorsichtig einen Schritt vor den anderen und lausche auf das Knacken der Eisfläche unter mir.
»Wenn’s knackt, ist das ein gutes Zeichen«, hat Bernhard vorletzten Winter gemeint, als wir alle auf der Eilang Schlittschuh laufen wollten. Aber die friert ja auch viel schneller zu, ist ja ein Rinnsal, verglichen mit der Oder.
In Richtung des markierten ›Saumes‹ (warum werde ich jetzt dieses Bild nicht mehr los?) sind Spuren im Schnee.
Sieht aus wie von einem Reh, sagt Aribert, und ich schöpfe Hoffnung. Denn die Spuren führen direkt auf die Eisfläche, geradewegs zu den Tannenzweigen. Kluges Tier, denke ich flüchtig. Und kalkuliere, dass ein ausgewachsener Bock weit über 100 Kilo wiegen muss. Also deutlich mehr, als die Kinder oder ich einzeln auf die Waage bringen. Selbst mit Rucksack. Allerdings verteilt er sein Gewicht auch auf vier Hufe. Ist das jetzt gut oder schlecht? Mein Kopf dröhnt, ich kann nicht mehr denken, geschweige denn rechnen.
»Das ist gut!«, sage ich laut und betont munter in Richtung der Kinder.
»Lasst uns sehen, ob die Spuren in etwa an der gesteckten Strecke entlangführen.«
Das tun sie, jedenfalls für ein paar Meter. Dann schieben sich Wolken vor den Mond, und wir können kaum noch die Hand vor Augen sehen. Die Kinder werden wieder schneller. Sie schließen zu mir auf.
»Abstand halten!«, kommandiere ich über die Schulter nach hinten.
»Aber ich kann Mutti nicht mehr sehen!«, jammert Gerlinde.
Ihr Stimmchen bricht mir fast das Herz.
»Wir haben es gleich geschafft«, sagt Ekkehard zu ihr.
Er atmet schwer, trägt sie jetzt ja schon eine ganze Weile auf dem Arm.
»Setz Gerlinde ab!«, rufe ich ihm zu. »Haltet euch an den Händen!«
Sie tun, was ich sage. Meine Füße tasten sich langsam weiter vor, die Rehspuren sind verschwunden, aber ich kann die Tannenzweige wieder sehen. Wir müssen schon mehr als die Hälfte hinter uns haben, denke ich, als es unter uns einen dunklen, nachhallenden Knall gibt, als wäre tief im Boden ein Stahlseil gerissen. Gerlinde schreit auf und beginnt panisch nach mir zu rufen. Die Jungs sind wie festgenagelt stehen geblieben.
»Das ist ein gutes Zeichen!«, rufe ich ihnen zu. »Das Eis ›arbeitet‹, hat Papa gesagt. Das Knallen macht es immer, wenn es wächst!«
Ich mache mir damit selbst mindestens ebenso viel Mut wie den Kindern. Nach etwa zehn Minuten spüre ich, wie der Schnee tiefer wird und unter meinen Füßen ein etwas anderes, irgendwie kompakteres Geräusch macht.
»Ich glaube, ich bin drüben!«, rufe ich den Kindern zu, woraufhin sie schneller zu werden beginnen.
»Langsam und hintereinander!«, schnauze ich sie an. Meine Nerven liegen blank, ich sollte positiver klingen, nicht so panisch. Reiß dich zusammen!
Kurz darauf erreichen wir die andere Uferseite und kämpfen uns erneut durch den hohen Schnee, diesmal die Böschung hinauf. Oben angelangt, bin ich einerseits völlig erledigt, andererseits wie aufgezogen und merkwürdig euphorisch. Trotz der Kälte kleben mir die Unterkleider schweißnass an der Haut.
»Das habt ihr gut gemacht!«, lobe ich und wische der schniefenden Gerlinde mit dem Handschuh über die Wange. Alle drei sind vollkommen fertig und die beiden Kleinen total verängstigt.
»So«, sage ich kurz entschlossen, »wir lassen jetzt alles Gepäck hier liegen und gehen nur mit der Taschenlampe nach Wiesenau zu Großvater. Jetzt nur noch zwei Kilometer Straße, und dann sind wir da.«
Gerlinde greift nach meiner Hand und lässt sie bis zu Mutters Hofpforte nicht wieder los.
[1] Damaliger propagandageschuldeter Sprachgebrauch
[2] Spöttische Bezeichnung für die von der NSDAP eingesetzten ›Blockwarte‹
Schau nicht hin
Gerlinde
15. Januar 1945
Vor Omas Sobbels’ Scheune stehen fünf Pferdegespanne. Alle mit einem großen Wagen dahinter. Und mit dicken Planen drüber. Wir haben auch einen, da sind jetzt all unsere Sachen drauf. Na ja, jedenfalls die, die wir mitnehmen können. Mutti sagt, wir müssten vielleicht bald damit wegfahren, alle zusammen. Deshalb haben sie, Oma Sobbels und die anderen Frauen die Wagen schon seit Wochen gepackt und im Heuschober untergestellt. Das hat keiner von uns mitbekommen! Wir haben uns nur gewundert, warum Mutti so oft zu Oma gegangen ist.
Weg müssen wir aber nur, wenn der Russe wirklich kommt. Damit keiner merkt, was Mutti und die anderen hier in Wiesenau planen, sind wir mitten in der Nacht weg aus Matschdorf. Am Heiligen Abend! Das war schrecklich. Ich habe einmal wirklich geglaubt, Mutti ist tot! Sie ist in einer Schneewehe versackt. Man konnte sie nicht mehr sehen, und ich dachte, sie erstickt. Und dann hat das Eis so furchtbar geknackt, ich hatte solche Angst, dass wir alle sterben!
Als wir dann auf dem Hof von Oma Sobbels ankamen, anstatt bei Großvater, hat sich auch keiner richtig gefreut, so wie Mutti und Ekkehard das versprochen hatten. Alle waren ganz ernst und sahen traurig aus. Und von Großvater Lilie keine Spur.
Mutti und Tante Klara haben mir erklärt, dass uns nichts passiert, weil wir ja die Wagen haben und rechtzeitig damit wegfahren, wenn der Russe über die Oder kommt. Und dass die deutschen Soldaten den Russen sowieso vorher aufhalten. Man hört aber schon seit Sonntag so ein Gerumpel und Gedonner. Und Tiefflieger sind gestern auch über uns hinweggeflogen!
»Die deutsche Luftwaffe wirft jetzt wohl Bomben auf den Russen«, sagt Ekkehard. »Damit der nicht nach Matschdorf kommt. Oder vielleicht sogar über die Oder bis zu uns.«
* * *
Ari und ich haben schon mal ausprobiert, wie das ist, in den Plankarren zu schlafen. Eigentlich ist es recht gemütlich, wenn es nur nicht so furchtbar kalt gewesen wäre! Ekkehard meint, dass wir ja alle vier darin schlafen würden und dass wir uns dann gegenseitig warm halten. Und unsere Federbetten hätten wir dann auch dabei. Ich stelle mir das ganz kuschelig vor, aber auch ziemlich eng.
Ich bin eigentlich sehr gern bei Oma Sobbels auf dem Hof, aber es ist Winter, und ich darf nicht länger raus zum Spielen.
Weil du dir dann die Schuhe ruinierst, sagt Mutti.
Das ist so doof. Ich wäre so gern zu Hause in Matschdorf, da habe ich auch Gummigaloschen. Ich würde meiner Freundin Gitta meine Weihnachtsgeschenke zeigen. Und sie mir ihre. Und dann würden wir den ganzen Nachmittag damit spielen, und irgendwann käme dann Mutti und hätte eine heiße Schokolade für uns. Darüber bin ich am meisten traurig: Ich habe hier keine Freundin, nur Mizzi, meine kleine Cousine. Aber das ist nicht dasselbe, weil sie wirklich viel kleiner ist als ich. Na ja, und Palaschka. Aber die ist gleich viel älter als ich. Palaschka nehmen wir mit, wenn wir ›rausmüssen‹.
»Die hat solche Angst vor dem Russen, die würde sich wohl eher einen Strick nehmen«, hat Oma gestern gesagt.
Ich weiß nicht, was das mit dem Strick heißen soll, aber ich will unbedingt, dass Palaschka mitkommt, weil ich sie sehr lieb habe. Und was man gernhat, das lässt man nicht einfach so zurück. So wie meine Susi! Jetzt muss ich schon wieder weinen. Mutti hat mich richtig fies angelogen und gesagt, ich könne Susi nicht mitnehmen, die hätte Angst im Dunkeln, deshalb müsse ich sie zu Hause lassen. Aber das stimmt gar nicht, denn Susi hat ja viel mehr Angst, wenn sie allein ist! Warum hat Mutti denn nicht eher etwas gesagt, dann hätte ich meine Puppe doch schon früher mal mit zu Oma nehmen können. Dann könnte sie mit uns zusammen auf den Wagen, wenn wir wegmüssen. Stattdessen sitzt sie jetzt mutterseelenallein und furchtbar einsam in unserem Wohnzimmer und wartet darauf, dass ich wiederkomme. Und wenn der Russe kommt, dann macht er sie bestimmt kaputt! Der mag nämlich keine kleinen Mädchen, überhaupt mag der keine Kinder und Puppen schon mal gar nicht.
Ich bin so traurig. Und richtig wütend auf Mutti.
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