Kitabı oku: «Federspuren», sayfa 2
Ich sehe den Wolken zu

Guten Morgen, neuer Tag! Schön, dass du mir ein Lächeln schenkst. Du schickst mir ein paar zaghafte Sonnenstrahlen durch träge dahinschwebende Wolken. Die Luft ist noch frisch und unverbraucht, sie hat aufgetankt in der Stille der Nacht. Morgentau bedeckt die Welt um mich herum, doch schon bald wird die Sonne so kräftig scheinen, dass sich die wenigen Wolken auflösen und die kühle Frische einer flimmernden Hitze weicht. Es ist Sommer, kein Zweifel.
So träge, wie die Wolken am Morgen über das Land gezogen sind, so fühle ich mich auch. Mir ist heiß, zum ersten Mal in diesem Jahr steigen die Temperaturen auf über dreißig Grad. Die Luft scheint stillzustehen und ich wünsche mir eine Abkühlung.
Ein Flugzeug erzeugt in mehreren Tausend Metern Höhe einen Kondensstreifen. Wie eine Wunde, denke ich, die einen Körperteil zunächst verunstaltet, dann aber schnell verheilt und wieder verschwindet – als wäre sie nie da gewesen.
Wer kommt denn auf die Idee, in einer Wolke eine Wunde zu sehen? Wer kommt überhaupt auf die Idee, irgendetwas zu sehen, wenn er die Wolken betrachtet?
Viele Menschen tun das.
„Schau mal, Mama, ein Hund!“, hörte ich vor einiger Zeit ein Mädchen zu seiner Mutter sagen.
Die Mutter betrachtete die Wolke, auf die ihre Tochter zeigte. „Das ist ein Drache.“ Sie lachte. Welcher Hund hat denn so einen langen Hals?!“
Ich sah weder den Drachen noch den Hund. Ich habe meine eigenen Fantasien.
Wenn Wolken wie Watte dahingetupft sind, federleicht, rein weiß und leuchtend, dann denke ich an Situationen in meinem Leben, die mich positiv geprägt haben. Es ist schön, wenn ich mich leicht fühle und leuchtend. Dann stimmt meine Laune und ich kann entspannen, einfach mal gar nichts tun. Leise sein und allein auf dieser Welt. Ich brauche dann niemanden. Das Leben ist vollkommen, es gibt nichts, was mir fehlt. Die Stille beflügelt mich und ich werde kreativ.
Es gibt Tage, da veranstalten die Wolken ein Wettrennen. Sie hasten, wirken rastlos, überholen sich gegenseitig, überschlagen sich fast. Der Wind bläst von hinten in sie hinein und verleiht ihnen den nötigen Schwung.
Nein, diese Wolken sind gar nicht rastlos, sie sind übermütig! Die grau-weißen Gebilde legen dabei ein sagenhaftes Tempo vor und verändern im Sekundentakt ihr Bild.
Verläuft unser Leben nicht manchmal auch so?
Wir hasten durch den Alltag, hetzen von einem Termin zum nächsten und schauen dabei ständig auf die Uhr.
„Keine Zeit, keine Zeit!“
„Mach Platz da, lass mich durch!“
Was für ein Tempo hält die heutige Zeit eigentlich parat? Und wie lange halten wir das aus? Immer wieder lesen wir diese oder ähnlich lautende Fragen in Zeitungen und Gesundheitsratgebern.
Ach was, warum sollte Leben nicht auch Tempo sein? Wenn ich liebe, was ich tue, dann darf es gern die große Portion sein. Dann arbeite ich mit Freude stundenlang und ohne Wochenende und stelle dabei fest: Mensch, Mädchen, du legst aber ein ganz schönes Tempo an den Tag. Daran wären andere längst zerbrochen.
Warum bleibe ich dabei so gelassen und fühle mich eher übermütig als gehetzt? Ist es einzig und allein die Liebe zu dem, was ich tue?
Ja, ich glaube, das ist die Erklärung. Das Glas ist halb voll und nicht halb leer – ihr wisst, was ich meine.
Nicht immer ist das Leben das sprichwörtliche Wunschkonzert. Nicht immer ist alles leicht, beschwingt oder gar übermütig. Stattdessen türmen sich Probleme auf wie Wolken in einem schweren Herbststurm. Das Leben wird zur grauen Masse und erscheint bedrückend, lähmend. Dunkel und bedrohlich lasten Probleme auf den Schultern derer, die keinen Ausweg sehen. Tränen sind wie Tropfen aus regenschweren Wolken, die sich unaufhaltsam ihren Weg suchen und ein erster Versuch sein können, Trost zu finden.
Ich hatte nie Angst vor Gewitter. Auch wenn es manchmal nur so kracht, blitzt und donnert. Ich muss mich der tödlichen Gefahr eines Gewitters nicht aussetzen und weiß, wo ich mich sicher fühlen kann. Wie oft schon habe ich mir, wenn ich vor stickiger Hitze nicht schlafen konnte, gewünscht, es würde endlich ein Gewitter kommen und der Luft die Schwüle nehmen, sie reinigen und abkühlen. Es ist faszinierend, der Urgewalt beizuwohnen, die sich entlädt und in Form eines Blitzes zur Erde zischt.
Was wäre denn unser Leben ohne Gewitter? Ein Leben ohne Streit, wäre das überhaupt denkbar? Wir Menschen sind zu verschieden, als dass wir stets und ständig in Frieden miteinander leben könnten. Meinungsverschiedenheiten werden lautstark ausgetragen und enden nicht selten in Handgreiflichkeiten, Schlägereien, Krieg. Auch mit Worten, Fäusten oder Waffen entladen sich Urgewalten oder besser gesagt: Aggressionen. Nicht selten herrscht anschließend eine nie geahnte Stille und die Luft ist gereinigt, alles ist gesagt. Die Basis für einen Neustart ist geschaffen, auch wenn der Weg aus den Trümmern mühsam erscheint. Mit dem ersten Zwitschern eines Vogels nach Blitz und Donner erwacht die Welt zu neuem Leben.
Wolken nehmen die kuriosesten Gestalten an. Sie ziehen über das Land und lassen sich nicht aufhalten. Wolken sind weder planbar noch vorhersehbar. Sie gehorchen eigenen Gewalten. Stets verändern sie ihr Bild und beflügeln die Fantasie des Betrachters. Nie wird er zweimal dasselbe sehen, wenn sein Blick gen Himmel geht.
Ich habe meine eigenen Fantasien, meine eigenen Träume. In einem dieser Träume werde ich vom Wind hinaufgetragen und stehe vor einer Wolke, die wie ein Fahrrad aussieht. Ich steige auf, trete in die Wolkenpedale und passiere Stationen meines Lebens.
Wo werde ich mein Wolkenfahrrad abstellen? Und wo wird meine Fahrt enden?
Ich sehe den Wolken zu und stelle fest, sie malen mein Leben an den Himmel …
Einen Augenblick nur
will ich ruhn
nichts wollen
nichts tun
Einen Augenblick nur
will ich bei mir sein
Ich sehe den Wolken zu
wie sie gemächlich
am Himmel ziehn
auf ihrer luftigen Reise
vom Woher zum Wohin
Für einen Augenblick
nehmen sie mich mit
und ich vergesse
mich zu sorgen
Lebensspur

Er hatte alles falsch gemacht. Er hatte sein Leben vertan. Seit Tagen ließ ihn dieser Gedanke nicht zur Ruhe kommen.
Schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel und ging in die Küche. Am Haken neben dem Kühlschrank hing noch ihre Schürze. Seine Hand zitterte, als er den Stoff streichelte. Wie ein Schlag traf ihn die Trauer und er schluchzte laut auf. Weinend vergrub er sein Gesicht in der Schürze.
Jeden Abend hatte sie die Schürze getragen. Jeden Abend, wenn sie gekocht hatte. Er sah ihre knotigen Hände, wie sie die Bänder der Schürze auf dem Rücken lösten. Schnelle, geübte Griffe, auch im Alter noch. Wenn sie die Schürze abgelegt hatte, war das Essen fertig gewesen. Dann hatte er die Zeitung zur Seite gelegt und sich aus seinem Sessel im Wohnzimmer erhoben. In dem Augenblick, in dem er sich an den Tisch gesetzt hatte, war sie mit der Schüssel in den Händen in das Esszimmer getreten. So war es gewesen, zweiundvierzig Jahre lang. Es kam ihm vor wie ein immerwährender Moment.
Er wischte mit der Schürze sein nasses Gesicht ab, hängte sie sorgsam an den Haken und schlurfte zurück ins Wohnzimmer. Als er sich in den Sessel fallen ließ, ächzte er, die Hüfte schmerzte. Seine Frau hätte noch nicht sterben sollen, sie war selten krank gewesen, hatte nie geklagt. All die Jahre hatten sie Angst um sein Herz gehabt, sinnlose, vergeudete Angst. Drei Infarkte hatte er hinter sich, der erste hatte ihn aus einer Gerichtsverhandlung gerissen. Danach hatte er die schwierigen Fälle seinem Nachfolger überlassen und war abends früher nach Hause gekommen. Seitdem wusste er, dass sie die Schürze ablegte, sobald sie mit dem Kochen fertig war.
Müde wischte er sich über die Augen. Seitdem sie tot war, schlief er schlecht. Sie hatte morgens neben ihm gelegen, auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, den Kopf zur Decke gerichtet, den Unterkiefer heruntergeklappt. Das eine Auge war halb geöffnet gewesen. Er hatte sofort gewusst, dass sie tot war. Ihre Atemzüge hatten ihn sein halbes Leben lang begleitet, zweiundvierzig Jahre, Nacht für Nacht.
Das Schlimmste war die Stille. Sie saß in jeder Ecke, verfolgte ihn und kroch ihm bis in die Knochen. Verfluchte, verdammte Stille. Umständlich holte er ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
Sein Blick fiel dabei auf die Anrichte, auf der seine Frau die Familienfotos abgestellt hatte. Die Kinder meldeten sich nicht mehr. Nach der Beerdigung waren sie sofort gefahren. Wie auf der Flucht, vor ihm und seiner Einsamkeit. Sollte er sie anrufen? Und dann? Was sollte er ihnen sagen? Er hatte es ein paarmal versucht, aber das war nur Quälerei gewesen.
Was erzählte man Menschen, die noch mitten im Leben standen? Er hatte die Ungeduld in ihren Stimmen gehört und gewusst, er stahl ihnen nur die Zeit.
Damals war er genauso gewesen, als er noch die Kanzlei gehabt hatte. Alles war wichtig gewesen, jeder noch so kleine Fall. Warum hätte er sich um seine Familie kümmern sollen? Das hatte seine Frau getan. Damals hatte er geglaubt, es würde immer so sein, sie würde immer da sein, die Kinder sowieso. Bitter dachte er an die Jahre in der Kanzlei zurück. Er hatte geglaubt, er würde stolz auf diese Jahre sein. Auf das, was er geschaffen hatte. An die größten Fälle erinnerte er sich noch, die anderen waren ihm längst entfallen.
Er war erstaunt gewesen, dass so viele Menschen zur Beerdigung gekommen waren. Die meisten kannte er nur vom Sehen. Früher war er froh gewesen, dass sie sich beschäftigte und ihn in Ruhe ließ. Damit hatte sie auch nicht aufgehört, als er nur noch zu Hause gewesen war. Es war nicht richtig gewesen, dass er sich aufgeregt hatte, wenn sie telefonierte oder wegging. Er wusste es, aber er hatte es nicht ändern können.
Nun saß er hier und flennte wie ein alter Mann. Was sollte das? Er war ein alter Mann. Alt, verschlissen, einsam, zu nichts zu gebrauchen.
Mit seinem Ärmel wischte er sich über die nassen Augen. Warum war sie gegangen? Sie hätte etwas sagen können. Oder hatte sie es nicht mehr mit ihm ausgehalten? In den ersten Tagen war er wütend auf sie gewesen, weil sie ihn allein gelassen hatte. Er hatte überhaupt nicht gewusst, was er tun sollte – die Küche, die Wäsche, das Haus, das war immer ihres gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, dass es auch anders kommen könnte. Dass er übrig bleiben würde.
Müde schloss er die Augen. Er wollte nicht mehr. Nichts war ihm geblieben. Am meisten verbitterte ihn, dass er so viel Zeit in seine Arbeit gesteckt hatte. Wozu? Es interessierte keinen Menschen mehr.
Er versuchte, auf sein Leben zurückzublicken. Seine Lebensspur, wo war sie? Kurz vor ihrem Tod hatte sie ihm ein Buch gegeben, es ging um Lebensspuren. So ein Blödsinn, hatte er zu ihr gesagt und das Buch auf dem Tisch liegen lassen. Nie hätte er gedacht, dass die Spuren seiner Frau so tief gewesen waren. Sie, die niemals gearbeitet hatte, die nur zu Hause gewesen war.
Seine Spuren hatte die Zeit verweht. Er schüttelte den Kopf, der Gedanke kam ihm zum ersten Mal und lähmte ihn. Von ihm würde nichts bleiben, nur die Erinnerung an den Anwalt, der er längst nicht mehr war. Niemand kannte ihn und er kannte niemanden.
Er hatte alles falsch gemacht. Sein Leben vertan. Den Rest seiner Zeit musste er noch absitzen. Er konnte nur hoffen, dass es nicht mehr lange dauern würde.
Wieder schüttelte er den Kopf. Warten auf ein Ende. Das war alles, was ihm geblieben war.
Weißt du eigentlich, wie oft ich an dich denke? Ob ich will oder nicht, auf einmal bist du da. Ich muss nur etwas hören, sehen oder lesen, was mich an dich erinnert. Manchmal überfällt es mich geradezu und meine Gefühle geraten durcheinander. Dann spüre ich deine Nähe, drehe mich um, suche dich, suche deine Spur. Aber ich finde sie nicht, sie existiert nicht mehr. Nicht in diesem Leben.
Als du deine Spur noch täglich erneuert hast, verlief sie geradeaus, zielgerichtet und war stark und ausgeprägt. Du wusstest, was du wolltest und hattest immer eine Erklärung für die Wahl deines Weges. Die Menschen, denen du begegnet bist, erinnern sich an dich als einen fairen, optimistischen, geduldigen und liebevollen Menschen. Ihre Augen leuchten, wenn sie von dir sprechen. Die Erinnerungen sind stark.
Es gibt keine Lebensspur, die meiner so ähnlich ist wie deine. Dein Weg hat mich geprägt wie kein anderer. Warst du in meinen ersten Lebensjahren wie eine lenkende Hand, so gestaltete ich mein Dasein später nach deinem Vorbild.
Wir teilten zahlreiche Vorlieben und genossen gemeinsam – still und voller Ehrfurcht – jedes erreichte Ziel.
Den Blick zum Himmel gewandt stiegen wir auf Gipfel, uns lag die Welt zu Füßen und wir waren dem Schöpfer nah. Dein Wanderstab begleitete mich und verlieh mir die Liebe zur Natur. In diesen Momenten verliefen unsere Spuren parallel und dicht beieinander.
Über den Wolken einen einzigen Schritt ins Leere zu wagen, den freien Fall zu erleben, um dann, von der stillsten Stille umgeben, sanft zur Erde zu schweben, war eines der größten Gefühle, die uns je verbanden.
Deine Spur, so stark sie auch war, zeigte irgendwann auf ihr Ende. Der Tag, an dem du deinen Wanderstab abgeben würdest, war nah. Die Fäuste geballt, gegen das Unausweichliche kämpfend, gingst du deinen letzten Weg. Deine Spur endete trotz ständig neuer Hoffnungsschimmer abrupt mit einer Träne auf deiner Wange. In dieser Sekunde übernahm ich deinen Wanderstab und ging meinen Weg weiter. Und immer wieder sah ich deine Fußstapfen dicht bei mir.
Und ich sehe sie heute noch. Wenn ich unter meinem – oder besser: deinem – Baum stehe, seinen inzwischen mächtigen Stamm umfasse und die Sonne durch sein kühlendes Blätterdach blinzeln sehe, dann bist du es, der mich anschaut.
Wenn ich deinen lange in der Versenkung verschwundenen Brief vor mir halte, den du mir vor drei Jahrzehnten zu meinem achtzehnten Geburtstag übergeben hast, dann höre ich deine vertraute Stimme, die das Geschriebene vorträgt. Und ich vernehme Worte, die ich ganz genau so formuliert hätte, wie du es getan hast. Und schon sehe ich wieder deine Fußstapfen, in die ich noch immer trete, und deine Spur wird wieder sichtbar. Du gehst also auch heute immer neben mir und schaust mir dabei zu, wie ich mein Leben meistere.
Deinen Wanderstab führe ich stets bei mir, und ich weiß auch schon, an wen ich ihn weitergebe, wenn meine Lebensspur einmal endet.
Ich danke dir, dass du mich zu dem geformt hast, was ich geworden bin. Du warst der beste Vater, den ich mir vorstellen kann.
Wasser

Haben Sie schon mal eine Katze Cola trinken sehen oder Ihren Lieblingskaktus mit Bier begossen?
Schauen Sie nicht so ungläubig, ich meine diese Fragen durchaus ernst.
Sie möchten sicher wissen, warum ich so etwas frage, wenn ich doch schon weiß, dass ich kein Ja von Ihnen hören werde.
Ich habe nur eben über die Katze und den Kaktus nachgedacht – nicht zum ersten Mal übrigens. Fragen dieser Art stelle ich mir häufiger, und zwar immer dann, wenn ich so wie heute Morgen im Supermarkt stehe und die Wunschliste meiner Familie abarbeite: diverse Sixpacks Apfelschorle – null Komma fünf Liter, für die Schule –, zwei Kisten stilles Mineralwasser für den großen Durst, eine Kombikiste Cola – schmeckt ja so lecker! –, ein Pfund Kaffee und eine Dose kakaohaltiges Getränkepulver für den Frühstücksdurst. An der Kasse angekommen, verrät mein Blick in den Einkaufswagen, dass wieder einmal mehr als die Hälfte aller Einkäufe Getränke sind. Auch auf dem Bon, den mir die Kassiererin nach dem Bezahlen in die Hand drückt, ist der Posten für Flüssiges nicht gerade unbedeutend. Bis zu zweihundert Euro vertrinkt meine Familie im Monat. Und ich kaufe fast nur im Discounter ein. Wenn ich das auf ein Jahr hochrechne, könnten wir vier von dem für Flüssiges verwendeten Geld in der Nebensaison drei oder vier Wochen Urlaub in Dänemark machen …
Ich darf einfach nicht rechnen, dabei wird mir ganz anders. Bin ich eigentlich verrückt, diese Wünsche, die mir meine Lieben auf meinen Einkaufszettel kritzeln, immer wieder zu erfüllen? Ich trinke doch auch die meiste Zeit des Tages nur Wasser – und zwar aus dem Wasserhahn, jawohl! Okay, dann und wann darf es auch ein Milchkaffee sein. Aber ansonsten: Kein Kistenschleppen und nur Pfennigbeträge, so trinke ich mich durchs Leben. Wäre das schön, wenn ich meine Familie mit dieser Gewohnheit anstecken könnte. Ich sage nur: Dänemark!
Apropos Leben: Der Mensch muss trinken, weil er sonst nicht überlebt. Ist doch so, oder? Überall, wo wir hinhören, heißt es, wir sollen täglich acht Gläser Wasser trinken. Und alle nicken dazu. Ob Kaffee denn auch dazu zählt, wurde ich in meiner Eigenschaft als Ernährungsberaterin immer wieder gefragt. Schließlich besteht Kaffee zu fast hundert Prozent aus Wasser. Die paar unbedeutenden Kaffeepulveranteile machen den Kohl doch nicht fett. Nein, das nicht, aber sie machen das Wasser zu einem ungesunden Lebensmittel.
Jetzt habe ich aber etwas gesagt: Lebensmittel. Drehen wir das doch mal um: Mittel zum Leben. Ohne Wasser kein Leben. Wasser erfüllt ein Grundbedürfnis des Körpers.
Und was macht der Mensch aus diesem Bedürfnis? Er erfindet das Rad neu, kreiert zum Beispiel Wellness-Getränke. Doch steigern die das Wohlbefinden, wie der Name es vorgaukeln mag? Vielleicht das Wohlbefinden derer, die daran verdienen – einschließlich des Zahnarztes. Der Körper wird allerdings nicht das Gefühl haben, dass diese Art von Getränken sein Grundbedürfnis erfüllt. Ihm wird Zucker zugeführt, und das nicht zu knapp. Vielleicht auch noch Farbstoffe und andere dubiose Zutaten. Aber warum trinken wir so etwas? – Weil wir glauben wollen, dass es uns guttut? Wo „Wellness“ draufsteht, kann doch nichts Schlimmes drin sein.
Wer braucht schon Wellness-Getränke?
Der Mensch braut Bier und brennt Schnaps und macht sich selbst davon abhängig.
Wer braucht schon Alkohol?
Der Mensch röstet Kaffeebohnen, damit er den Tag ohne Durchhänger übersteht.
Wer braucht schon Kaffee?
Der Mensch erfindet die tollsten Erfrischungsgetränke in den originellsten Geschmacksrichtungen. Aus Wasser, Zucker, naturidentischen Aromastoffen und ein paar Gramm Früchten werden Fruchtsaftgetränke, die zu einem günstigen Preis zum Kauf verführen. Energydrinks, Iso- oder Gurana-Getränke, Alkopos – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Doch wer braucht das alles? Wer braucht gut sortierte Getränkemärkte?
Ah, ich höre Protest.
„Kaffee tut so gut!“
„Ich brauche ein großes Glas Cola zum Essen.“
„Milch ohne Kakaopulver schmeckt doch nicht.“
„Ein Bier am Abend …“
„Auf Reisen wirkt ein Energydrink Wunder!“
„Wasser ist langweilig.“
Wasser ist langweilig? Ist es das wirklich? Wenn ich die Argumente betrachte, dann trinken wir uns doch nur quer durch den Getränkemarkt, weil wir uns etwas gönnen wollen, weil es gut schmeckt, weil die anderen das auch tun, weil uns ganz einfach danach ist. Wir befriedigen damit aber nicht das Grundbedürfnis des Körpers, der uns im Gegenzug Gesundheit und Lebenskraft schenkt, nein, wir befriedigen den Durst unserer Seele – auch wenn es uns im Grunde gar nicht guttut.
Und da sind wir wieder bei der Katze oder dem Kaktus. Diese Lebewesen sind mit dem gleichen Grundbedürfnis ausgestattet wie wir Menschen. Sie brauchen Wasser, um zu leben. Und sie geben diesem Bedürfnis nach. Menschen, die Pflanzen oder Tiere versorgen, tun das ganz automatisch, indem sie Wasser in einen Napf füllen oder in die Gießkanne. Niemand wird sich die Frage stellen: Geben wir Katerchen heute mal ein Schlückchen Kakao, ein Wellness-Wasser oder lieber ein kühles Hefeweizen? Völlig absurd, diese Gedanken. Stimmen Sie mir zu? Wir behandeln unsere Haustiere und unsere Zimmerpflanzen so, wie sie es verdienen. Wir geben ihnen, was sie brauchen. Das danken sie uns mit gesundem Wachstum und Zufriedenheit.
Und was tun wir uns an?
Lieber nicht so viel nachdenken, man könnte ins Grübeln kommen.
Katze müsste man sein – oder Kaktus.
Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Langsam gleite ich mit einem Schwarm bunter, fast durchsichtiger Fische, die mich an Schmetterlinge erinnern, durch das Schiffswrack. Wir ziehen vorbei an den zellenartigen Kabinen, in denen früher Menschen geschlafen haben. Vielleicht haben sie auch an dem kleinen Tisch gelesen, sich auf den Pritschen geliebt oder ihre Kinder in den Schlaf gesungen.
Die Eisengestelle der Pritschen ragen in den Raum, wie Skelette, die von einem früheren Leben zeugen. Es gab Zeiten, da habe ich mir jeden Tag eine andere Kabine vorgenommen, habe mich liegend an der Pritsche festgehalten, damit das Wasser mich nicht fortzieht, und mir ausgemalt, wer diese Kabine bewohnt haben könnte. Ich erschuf die Passagiere aus meiner Erinnerung, grub aus meinem Gedächtnis Personen aus, die ich irgendwo einmal gesehen hatte, zog ihnen Kleider an und ließ sie in meiner Vorstellung lebendig werden.
Am liebsten mochte ich die Luxuskabinen, obwohl kaum noch etwas von ihrer Einrichtung übrig ist. Vermutlich waren sie mit Holzbetten eingerichtet, die längst verfault sind. Nur die Kronleuchter haben den Untergang überstanden, die wenigen noch verbliebenen trüben Glassteine schaukeln im Wasser, und an den mit Algen überzogenen Armen hat sich ein Schwamm breitgemacht. Es ist absurd, dass ausgerechnet diese Lüster, die ich früher als Ausgeburten des Luxus verteufelt hätte, mich an mein Menschsein erinnerten. Den Passagieren dieser Kabinen stellte ich eine teure Garderobe zusammen, manche bekamen sogar Bedienstete, die ich in den kleinen Zellenkabinen unterbrachte.
Diese Reise in mein altes Leben, das verzweifelte Erinnern und Erschaffen von Menschen, die nur in meinem Kopf existieren, hat mich davor bewahrt, wahnsinnig zu werden. Denn wenn ich meinen Verstand nicht mehr gebrauchen kann, werde ich mich nicht mehr von denjenigen unterscheiden, die mit mir im Meer leben. Vor nichts habe ich mehr Angst, als eines Tages einem dieser hirnlosen Fischlebewesen mit den blöde glotzenden Augen zu ähneln.
Ich schwimme weiter in die Kapitänskajüte, die erstaunlich klein ist. Mein Kapitän ist dicklich und klein, ich habe ihm Wurstfinger verpasst und eine zu enge Gala-Uniform. Er ist ein Wichtigtuer und Feigling und muss die Rolle des Bösewichts übernehmen. Ihm ist Geld wichtiger als alles andere, und Schmuggel wird gut bezahlt. Heimlich hat er Chemikalien an Bord genommen, die explodiert sind. Am Untergang des Kreuzfahrtschiffes ist natürlich er schuld.
Während ich mich in eine Ecke drücke, um nicht von der Strömung fortgetrieben zu werden, spinne ich seine Geschichte aus. Je länger ich hier unten lebe, umso schwieriger wird es, Details zu finden. Manchmal fällt mir nicht einmal mehr ein, wie rosige Haut aussieht oder wie sich trockene Haare anfühlen.
Die einzige Brücke zu der Welt, in der ich einmal gelebt habe, ist meine Erinnerung. Wenn ich sie verliere, höre ich auf zu existieren.
Früher habe ich meine Gedanken schriftlich festgehalten, aber hier unten kann ich nicht schreiben, das schmerzt mich noch immer. Mit allem anderen habe ich mich abgefunden, mit der Einsamkeit und der Aussicht, nicht mehr auftauchen zu können. Nicht einmal die langsame Erkenntnis, nie wieder sprechen und singen zu können, macht mich so traurig wie die Feststellung, nicht mehr schreiben zu können.
Als ich noch oben lebte, dachte ich, das Reden sei wichtig, damit teile ich den anderen mit, was ich fühle, was ich denke. Doch hier unten wurde mir bewusst, dass das Schreiben viel wichtiger war. Es war mein Herz, das sprach, das mich aufschreiben ließ, was ich nicht sagen konnte. Ich war im Schreiben zu Hause, es war ein weites Land, und ich war dennoch darin geborgen.
Nur hier in dem Schiffswrack, an diesem einzigen menschlichen Ort im endlosen dunklen Ozean, kann ich meine Erinnerungen lebendig halten. Ich versuche so zu tun, als würde meine alte Welt noch existieren, als gäbe es meine Geschichte noch und als würde ich sie aufschreiben. Satz für Satz und Wort für Wort.
„Eines Tages bin ich im Meer aufgewacht“, lautet der erste Satz. Während ich ihn in Gedanken formuliere, sehe ich mich in meinem Zimmer unter dem Dach am Schreibtisch sitzen. Ich fahre fort mit meiner Geschichte: „Um mich herum ist Wasser, meine Arme und Beine stoßen ins Leere. Erst glaube ich, es ist ein Traum, ich schlage um mich, versuche zu schreien, in der Hoffnung, ich werde aufwachen. Schon während ich den Mund zum Schrei öffne, ist mir bewusst, dass es unmöglich ist. Das Schreien und das Sprechen sind mir abhandengekommen.
Dann bekomme ich Panik. Ich habe Angst, ich werde ertrinken. Ich muss atmen! Luft holen! Obwohl ich den Mund nicht öffne und nach Luft ringe, atmet es in mir. Dann versuche ich, nach oben zu schwimmen, bis ich erkenne, es gibt kein Oben und Unten. Alles um mich herum ist blau, ist Wasser. Ich bin eingeschlossen in diesem unendlichen Meer.
Am Anfang habe ich oft darüber nachgedacht, was mit mir passiert ist. Ich bin immer noch ein menschliches Wesen, nur dass ich mich plötzlich im Meer bewegen kann. Ist es ein Traum? Ein nicht enden wollender quälender Traum? Liege ich in Wirklichkeit in meinem Bett? Oder bin ich wahnsinnig geworden und bilde mir alles nur ein?
Vielleicht habe ich einen Unfall gehabt und kann mich an nichts mehr erinnern? Bin ins Koma abgetaucht und komme nicht wieder an die Oberfläche? Vielleicht gibt es Menschen da draußen, die um mich kämpfen, die mich rufen und zurückholen wollen, doch ich sehe und höre sie nicht. Ich lebe in meiner eigenen Welt.
Schwerelos gleite ich seitdem durch das Wasser. Am Anfang begleitete mich ständig die Angst, vor allem vor den Raubfischen, bis ich merkte, dass sie sich nicht für mich interessieren. Als wäre ich auch für sie nicht existent.
Es gibt hier unten keinen Tag, keine Nacht und keine Zeit. Wie lange ich schon hier bin, weiß ich nicht. Meistens lasse ich mich treiben, und es passiert mir immer öfter, dass ich nichts mehr denke, dass ich mich dem Sog des Wassers überlasse und einfach nur da bin. Ein menschliches Wesen, eingeschlossen im Wasser, frei von allen Zwängen und Pflichten, nur sich und seiner Einsamkeit überlassen.
Die Bilder in meinem Kopf verblassen und die Worte verstummen. Deswegen bin ich heute wieder in dem Wrack, meinem Zufluchtsort, an dem ich in die Vergangenheit reise.
Auch wenn ich nie wieder auftauchen sollte, will ich weiterleben. Ich will mich daran erinnern, wer ich gewesen bin.“
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