Kitabı oku: «Herr Spiro», sayfa 3
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Um 4:32 hatte es heute angefangen, Anna konnte sich genau erinnern. Jetzt zeigte der Wecker 5:13 und die bluthungrige Zimmergenossin hatte sich immer noch jedes Mal erfolgreich unsichtbar gemacht, wenn die Nachttischlampe angegangen war.
Anna wollte sich nicht mehr weiter von diesem surrenden Untier traktieren lassen, sie stand auf und setzte sich im ersten Licht des Tages an den Wohnzimmertisch.
„Du und deine Puzzles“, hatte ihr Ex-Mann immer gesagt. „Etwas Sinnloseres als das kann ein Mensch doch gar nicht mit seinem Tag anfangen! Da stanzt eine Maschine ein wunderschönes Poster in Sekundenbruchteilen in tausendfünfhundert Teile und du mühst dich anschließend tagelang ab, bis es nicht annähernd wieder so gut aussieht wie vorher.“
Dieser Mann hatte noch viel mehr nicht verstanden.
Anna saß am Esstisch und spürte den Flow. Der Himmel wurde, Teil für Teil. Blau und leicht bewölkt, darunter im Meer die Segelyacht, die schon seit vorgestern fertig geworden war, gleich nach dem Rand.
Ja, es war Arbeit, aber dieses Mal würde sie das Puzzle nicht wieder einpacken, sondern mit Kleber einstreichen, auf ein Brett ziehen und an die Wand hängen. Genauso wie die anderen Motive aus den fünf Schachteln, die sie im Keller in Salzburg wiederentdeckt hatte. Mit Joe und Lisa war sie anderen Hobbys nachgegangen, ohne diese Beschäftigung zu vermissen, aber jetzt schien die Zeit der Suche wieder angebrochen zu sein. Außerdem waren die Bücher aus.
Nur noch fünf Teile, dachte sie nun schon zum dritten Mal, dann machst du dir Frühstück.
Und wieder blieb sie hängen, bis ihr Magen sie anknurrte.
Sie löste sich schweren Herzens.
Draußen dämmerte es, sie konnte das Licht löschen. Bei Tageslicht war es ohnehin einfacher, die richtigen Teile zu finden. Nach dem Croissant und dem Milchkaffee würde der Endspurt kommen. Die letzten hundert gingen immer am Stück, da konnte sie jedes einzelne Teil so lang in der Hand behalten, bis es irgendwo passte, soviel wusste sie noch.
Und auch das wusste sie: Joe hatte zu ihr gepasst wie das besagte Puzzleteil. Sie war angekommen, und den Gedanken, jemals wieder suchen zu müssen, hatte sie an seiner Seite ad acta gelegt, wie Clara es versprochen hatte. Joe war die Liebe ihres Lebens gewesen, ihn hatte sie jeden Tag ein Stück mehr geliebt.
Obwohl ich nie geglaubt hätte, dass das geht, dachte Anna und wollte tapfer bleiben, doch es war ein ungleicher Kampf. Tränen aus diesem Grund ließen sich von einem solchen Vorsatz noch nie beeindrucken.
Aack ack ack ack …
Durch die geschlossenen Fenster hörte Robert das gleiche Möwengeschrei wie in den letzten zehn Tagen, aber heute knüllte er das Kissen nicht zurecht und drehte sich nicht noch einmal um. Sie hatten ihn soweit: Er stand auf und zog sich an.
Angesichts der menschenleeren Lobby griff er in seine Hosentasche und vergewisserte sich, dass er seine Hotelkarte dabei hatte.
Es war frisch, eine Jacke über dem Pulli hätte ihm nicht geschadet. Ein Lkw mit Rechen musste über den Sand gefahren sein, das Reifenprofil gefiel Robert nicht, aber es tröstete ihn, dass schon in ein paar Stunden nichts mehr davon übrig sein würde, durch konturlose Fußspuren verwischt.
Die Strandkörbe zeigten ihm ihre schwarzen Nummern, kein Mensch war weit und breit zu sehen, nur ein paar Möwen zogen übers Wasser.
Es war sechs Uhr früh, Robert setzte sich in den Sand und sog die kühle Luft tief ein. Ohne Reue. Ein paar Cumuli hoben sich vom Blaugrau des Himmels ab. Noch ein paar Minuten.
Er dachte an Herrn Spiro, der nun endlich ein Gesicht hatte und eine Gestalt. Mittlerweile war Robert froh darüber, dass er keine Flasche von Zuhause mitgenommen hatte, um Kais Helden als erste Urlaubstat im Meer auszusetzen. Diese Märchengestalt war kein Ballast, den man abwerfen musste. Es würde eine andere Lösung geben. Robert wusste noch nicht welche, nur dass.
So, wie die Fahrt auf dem Schiff gestern wider Erwarten noch etwas gebracht hatte. Der Kapitän hatte am Königsstuhl ohne Vorwarnung gewendet, der Perspektivwechsel war Robert zu schnell gegangen, aber er hatte nicht wie die meisten anderen Passagiere die Seite gewechselt, sondern war auf seiner Bank geblieben.
Nur wer alte Ufer verlässt, kann neue erreichen, hatte er gedacht und bis zur Ankunft am Steg aufs offene Meer geschaut.
Heute war die See ruhiger, es passten viele kleine Wellen in eine gefühlte Minute. Nicht zuletzt, weil Robert in den vergangenen Tagen gut gegessen und endlich wieder geschlafen hatte. Er war eben doch ein Meermensch, der die Weite brauchte, und nicht der Bergfex, den Fiona immer in ihm hatte erkennen wollen.
Robert sah aufs Wasser und das Stück Horizont, das sich zunehmend rosa färbte. Er hatte die Alpensinfonie von Richard Strauss im Ohr, die Spannung in den letzten Sekunden vor dem Sonnenaufgang. Genau so fühlte es sich gerade an.
Ein glutroter Punkt tauchte von einem Moment zum anderen aus dem Meer auf und wurde binnen Sekunden zum Kreissegment. Die Cumuli färbten sich, Pastelltöne beherrschten das Bild. Eine Möwe kreischte, das Wellenplätschern blieb die einzige Antwort.
Robert konnte seinen Blick nicht von dem roten Ball abwenden. Es wurde wärmer und heller, das Rot zu einem gleißenden Orange.
Wenn du jetzt deine Sonnenbrille aufsetzt, ist die Magie des Augenblicks dahin, dachte er und stand auf.
Dieser hier war ein Morgen, an dem man barfuß am Strand entlanglaufen und das Meerwasser bis zu den Knöcheln spüren wollte, den Sand zwischen den Zehen. Und dann, wenn keiner es sah: Run down the beach, kicking clouds of sand. Bis man nur noch nach Luft schnappen konnte.
Er ließ es bleiben.
Am Ende des Abgangs zum Strand sah er eine Frau stehen. Sie wischte sich mit dem Daumenballen über die Augen, als er sich näherte. Sie verstanden einander ohne Worte.
Ausziehen wollte Robert seine Schuhe jetzt nicht, zum Laufen waren es die falschen.
Noch.
Er ging zum Hotel zurück.
In der Lobby duftete es nach Kaffee, Croissants und Rührei. Robert hatte Hunger, aber er wollte auch laufen. Sollte er sich das Leben unnötig schwer machen? Er ging in den Frühstücksraum und steuerte auf einen der Tische mit Blick aufs Meer zu, die sonst schon immer besetzt waren. Das frühe Tageslicht gab dem Raum einen neuen Charme, die dunkle Holzvertäfelung wirkte wärmer und das Weiß der Tischdecke nicht so steril.
Er bestellte Milchkaffee und ging zum Büffet. Unberührt standen die Teller mit Käse und Wurst da. Der Obstkorb duftete in seiner bunten Pracht. Zum ersten Mal in diesem Urlaub war Robert nach einem Schluck Sekt, er wollte diesen Moment feiern, sein Glas erheben und Aufs Leben! denken.
Robert saß vor dem, was er sich als Frühstück vorgenommen hatte.
Laufen wirst du danach erst mal länger nicht, dachte er schmunzelnd und ließ es sich schmecken.
Währenddessen sah er aus dem Fenster und immer wieder auf den Stuhl gegenüber. Wie es wohl wäre, wenn die Frau vom Friedhof jetzt dort säße? Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen?
Die wenigen Worte, die sie bisher miteinander gewechselt hatten, waren für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Auch der eine Moment vor dem Musikladen, in dem in ihren Augen etwas aufgeblitzt und verglüht war wie eine Sternschnuppe. Ein Hoffnungsschimmer, dass in ihrem Leben noch einmal alles gut werden könnte?
Erst in den vergangenen Tagen war ihm bewusst geworden, dass er sie nichts gefragt hatte. Er, der Kriminalkommissar, der sonst nie umhin kam, nachzuhaken.
Und noch etwas war ihm eingefallen. Ein Satz von Bea, den sie gesagt hatte, als sie es noch konnte: „Ich wünsche mir, dass du weiter spielst und immer besser wirst. Egal, wo ich dann bin, ich höre dich.“
Ja, er würde sich wieder ans Cello setzen, das wusste er jetzt. Zu oft war er hier bei den fünf Cellisten gewesen, hatte ihnen zugehört und zugesehen. Er konnte es, wenn er ehrlich war, kaum noch erwarten, wieder damit anzufangen und malte sich aus, dass er Fionas Sachen kurz vorher in die Aschentonnen befördern würde. Einen Sack nach dem anderen.
Robert nahm einen Schluck Sekt und stellte sich wieder die hübsche, junge Frau vom Friedhof vor. Wäre sie hier mit ihm glücklicher als daheim?
Er schüttelte den Kopf. Wie kam er auf solche Gedanken?
Robert sah auf die Uhr. Über eine Stunde saß er nun schon hier beim Spazierendenken.
Meine Güte, du musst Urlaub haben, dachte er und merkte, dass die Vertäfelung an der Wand hinter dem Büffet und die Tischdecken jetzt wieder so wirkten wie in den letzten Tagen. Er nahm es als Zeichen und wartete nicht mehr ab, bis die erste Aufzugladung Lärm in den Frühstücksraum kam und sich wortlos über seine vereinzelte Anwesenheit an einem Vierertisch ärgern konnte.
Robert faltete die Serviette, trank den letzten Rest Sekt aus und stand auf.
Ja.
4
Robert griff noch vor dem Ausgang des Hallenbads nach seiner Zigarettenschachtel. Die zweite Arbeitswoche lag hinter ihm und heute früh hatte er sich schon aufraffen müssen, überhaupt ins Schwimmbad zu gehen. Mit dem Ergebnis war er aber zufrieden, denn jetzt verhielt es sich wieder umgekehrt: Er spürte zwar jeden Muskel, konnte dafür aber wieder entspannt denken.
Der Automat schluckte seine Karte, Robert schob das Drehkreuz mit dem Oberschenkel an und sah hinaus.
Es regnete.
Den rotblauen Schirm, den die Frau an der Eingangstür wie einen Rammbock vor sich hielt, ehe sie ihn zusammenklappte, erkannte er. Es war der vom Friedhof. Die Schirmspitze verfehlte Robert deutlich, er sprang trotzdem zur Seite.
„Oh, Entschuldigung.“ Sie wurde rot.
„Guten Morgen“, sagte er und steckte die Zigaretten wieder ein. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“
Sie runzelte die Stirn. „Tatsache! Jetzt hätte ich Sie beinahe nicht erkannt. Guten Morgen.“
Er sparte sich den Griff ans Kinn. Es wunderte ihn nicht, dass sie einen Moment gebraucht hatte.
„Lange her.“ Sie nickte, als bräuchte sie Bestätigung.
„Ich hätte eine Frage an Sie, Frau …“, sagte er.
Sie legte den Kopf etwas schief.
„Lesen Sie gern?“
„Sehr. Warum fragen Sie?“
„Es geht um eine kleine Geschichte. Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören.“
„Eine Geschichte von Ihnen? Gerne“, sagte sie. „Mein Name ist übrigens Wehner. Anna Wehner.“
„Robert Lohwald.“ Er gab ihr erst die Hand, griff dann in seine Jackentasche und reichte ihr die beiden gefalteten Blätter. „Zu treuen Händen, Frau Wehner“, sagte er und war dann einen Moment lang nicht sicher, ob er gerade einen Fehler beging. Indem er seinem Instinkt vertraute, auf den er sich während seiner Zeit als Ermittler – bis auf die eine fatale Ausnahme – immer hatte verlassen können?
„Ihr Vertrauen ehrt mich“, sagte sie leise und sah ihm dabei in die Augen.
Seine Zweifel verflogen.
„Darf ich fragen, worum es geht?“, fragte sie.
„Ich möchte nicht zu viel verraten, nur, dass es mir wichtig ist, Ihre Meinung zu kennen. Rufen Sie mich an? Meine Nummer steht drauf.“
„M-h. Mache ich. Und danke.“
„Bis bald“, sagte er. „Genießen Sie das leere Bad.“
„Danke. Und Sie den Tag.“
Er sah Frau Wehner nach, wie sie ihre Zehnerkarte herausholte, an der Kasse vorbeiging und hinter dem Drehkreuz verschwand. Nach dem zu urteilen, was er spürte, war das gut so. Der stechende Schmerz in der rechten Seite, den er schon kannte, schwoll an. Robert schaffte es gerade noch zum Auto.
Die wellenlose Wasseroberfläche war nach ihrem Geschmack gewesen und die Kraulerei hatte ihr gut getan. Jetzt war sie zwar fertig, aber zufrieden, und als sie wieder auf die Straße trat, hatte es aufgerissen und war wärmer geworden, wie vom Wetterbericht versprochen.
Es zog sie heim.
Dort nahm Anna die Seiten aus der Tasche. Würde sie jetzt endlich Herrn Spiro kennenlernen, von dem sie bisher offiziell nichts wissen durfte?
Zwischen Tür und Angel hatte ihr noch nie jemand eine Geschichte überreicht. Eine, die sehr wichtig war, wie es schien.
Anna dachte an Lohwalds wundersame Verwandlung. Er hatte sich nicht nur wie ein Gentleman benommen, ohne Bart sah er jetzt auch wie einer aus.
Sie stellte die Kaffeetasse auf das Tischchen neben dem Sofa und hätte sich dazu die erste diesjährige Schachtel Oblatenlebkuchen vorstellen können, auch wenn erst September war.
Beim nächsten Einkauf vielleicht, dachte sie, streckte sich lang aus und begann zu lesen.
Die Lampe
In der schmalen Gasse stand zwischen mehreren anderen ein bescheidenes Haus, das große Zufriedenheit ausstrahlte. Es gehörte Herrn Spiro.
Der war ein geselliger Mensch und lud sich gerne Gäste ein. Wer zu ihm kam, fühlte sich wohl und wer es vermochte, brachte zu essen und zu trinken mit für ein gemeinsames Mahl.
Wenn die Dämmerung einsetzte und zur Nacht wurde, entzündete Herr Spiro seine wunderschön verzierte Lampe, die inmitten des Tisches stand. Sie erhellte mit ihrem Licht den ganzen Raum und sorgte für warme Behaglichkeit. Auch seine Freunde wussten das zu schätzen. Stets blieben sie lange, redeten und spielten Karten.
Wieder allein gelassen, saß Herr Spiro oft noch eine geraume Zeit neben seiner Lampe und sah ihr mit Bewunderung zu, wie beständig sie brannte und dabei doch frei von Ruß und Patina blieb.
Der Händler, der ihm die Lampe verkauft und versprochen hatte, das besondere Öl vom Stand nebenan könne in ihr spurlos verbrennen, schien recht zu behalten. Bis jetzt hatte es keine Veränderung gegeben, nichts verdunkelte den Blick auf die Flamme, die Wärme, die von ihr ausging, war immer noch dieselbe wie am Anfang, und Herr Spiro freute sich jeden Abend darauf, heimzukehren.
Wurden zum Sommer hin die Tage länger, wartete er geduldig, bis es dunkel genug war und es sich geziemte, die Lampe zu entzünden. Als Verschwender wollte er keinesfalls dastehen, doch ohne die Momente im Alltag, die er mit ihr teilte, wollte er nie mehr sein.
Das war der Grund, warum Herr Spiro die Vorräte des kostbaren Brennstoffs in seinem Keller aufbewahrte und den immer sorgfältig versperrte. Er war sich des Wertes dieser Flaschen wohl bewusst und auch, dass er nie ein anderes Öl als dieses in die Lampe füllen würde.
Eines Abends erwartete er wiederum Freunde, die mit ihm ein Abendbrot und den Wein teilen wollten. Er ging, von Vorfreude auf seinen Besuch beseelt, hinunter in seinen Keller, um zur Sicherheit noch etwas Öl zu holen, und erstarrte, als er die Flaschen im Regal sah.
Sie waren allesamt leer.
Herr Spiro fiel auf die Knie. Er konnte nicht begreifen, wie sein gutes Öl ausgegangen sein sollte. So viel davon hatte er nicht verbraucht, er war sicher. Er suchte den ganzen Keller ab und fand keine weiteren Flaschen.
Sein Besuch würde bald kommen, er musste wieder hinaufgehen. Er nahm Stufe um Stufe, und jede kam ihm höher vor als die vorherige, bis er schließlich oben ankam.
Als Herr Spiro an diesem Abend seinen Gästen die Tür öffnete, erschraken sie. Ob es ihm nicht gut gehe, er sähe so bleich aus, fragten sie ihn. Ob er krank sei und sie wieder nach Hause gehen sollten. Doch er verneinte und bat sie herein. Hoffend, dass das Öl, das sich noch in der Lampe befand, für diesen Abend reichen würde.
Sie setzten sich alle an den Tisch, wie immer. Ebenso brannte die Lampe, wie immer. Und doch wusste Herr Spiro, dass dieses Mal alles anders war.
Von Stunde zu Stunde wurde er unruhiger, sah so oft wie nie zuvor nach, ob die Flamme noch in derselben Höhe brannte oder ob sie schon aufflackerte.
Er merkte, dass er seinen Gästen gegenüber unaufmerksam war, und er schämte sich dafür. Doch sein Herz war schwer und sie spürten es, ohne dass sie darüber sprachen.
Früher als sonst brachen sie auf, verabschiedeten sich mit Gesichtern, in denen große Besorgnis stand. Doch Herr Spiro sagte kein Wort über das, was ihn bedrückte.
Er überlegte, ob er nun die Lampe löschen sollte und sie am nächsten Tag noch einmal entzünden. Aber nachdem er gesehen hatte, dass nur noch der Boden der Lampe mit Brennstoff bedeckt war, beschloss er auszuharren.
Herr Spiro wollte zusehen, wie der letzte Tropfen Öl verbrannte. So setzte er sich an den Tisch. Die leuchtend gelbe Flamme wurde kleiner und kleiner. Herr Spiro merkte, dass ihn Wehmut erfüllte, je näher das Ende des Lichtes rückte. Sein Herz schlug immer schneller, er hoffte darauf, aus diesem Albtraum erwachen zu dürfen. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht.
Ein bläuliches Flämmchen war nur noch zu sehen, ein Saum, der nicht mehr lange währen würde, und Herr Spiro hielt den Atem an, bis die Lampe schließlich verlosch.
Das Kostbarste, was er jemals besessen hatte, war unwiederbringlich dahin. Herr Spiro starrte seine Lampe an und sah sie doch nicht. Seine Gedanken waren wie erstickt. Vom Boden stieg eine eisige Kälte zu ihm auf, die ihn erstarren ließ; er spürte es nicht.
So saß er die halbe Nacht an seinem Tisch vor der wunderbaren Lampe, in stummer Verzweiflung, dass sein Leben nie wieder so werden würde, wie es vorher gewesen war.
Weiche, ungespitzte Bleistifte brauchte sie jetzt, nichts anderes. Anna stand auf, in der Schreibtischschublade waren passende. Sie wollte die leere Seite nutzen, die Lohwald für eine Illustration vorgesehen hatte.
Mit einem zweiten Milchkaffee setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann zu skizzieren. Eine Wohnstube, der Tisch, ein Gedeck.
Sollte sie Herrn Lohwald anrufen?
Warum nicht?
Sie wollte ihm Bescheid geben, doch vorher hätte sie noch gerne etwas anderes gewusst.
In der Kommodenschublade lag ein Telefonbuch, das drei Jahre alt war, die Vormieterin hatte es hinterlassen. Wie viele Lohwalds wohl in Münchens Innenstadt wohnten? Anna wurde fündig, die Nummer stimmte mit der von der letzten Seite der Geschichte überein. Lohwald, Robert und Fiona, Asam 23. Robert, das war klar gewesen. Und Fiona.
Der Kaffee schmeckte ihr nicht mehr. Anna stellte die Tasse beiseite, nahm den weichen Bleistift und skizzierte weiter. Mit den Grautönen fühlte sie sich am wohlsten. Die Lampe war dran.
So lang war die Geschichte nicht. Hätte sich Frau Wehner nicht längst melden können?
Viel schlimmer: Warum hatte Robert diese Seiten nicht in der Schublade behalten, wo sie gut aufgehoben gewesen wären?
Hatte er Kai damit verraten?
Auf alle Fälle war es jetzt zu spät für solche Überlegungen, Herr Spiro war aus Kais und Roberts Welt in die von Frau Wehner getreten. Aber wahrscheinlich lag die Geschichte in ihrem Schwimmrucksack und konnte dort in aller Stille in Vergessenheit geraten.
Mit dem Gedanken wollte Robert sich jetzt schnell anfreunden. Dinge, die sich von selbst erledigten, waren selten genug. Was würde sein zweites Problem machen, das ihm Kopfschmerzen bereitete? Die Nierenkolik war langsam gekommen, aber gewaltig.
Heilige Scheiße, hatte er nur noch gedacht, war froh um den nahen Parkplatz gewesen und hatte es gerade so geschafft, den Autoschlüssel aus der Manteltasche zu fischen und die Tür noch hinter sich zuzuziehen.
Irgendwann, nach unendlich langen Minuten, hatte der Schmerz nachgelassen, Robert war wieder zu Atem gekommen und hatte sich die Schweißperlen von der Stirn gewischt.
Geht jetzt das Theater wieder los?, fragte er sich seitdem in einer Tour.
Er schloss die Augen, um zu rechnen. Mehr als ein dreiviertel Jahr hatte er Ruhe gehabt. Eine Zeit, nach der man normalerweise davon ausgegangen wäre, dass man einen Nierenstein losgeworden sein könnte.
Was war das heute Vormittag dann gewesen? Ein neuer? Abwarten.
Das Andere wiederum hätte er am liebsten nicht abgewartet, aber das Telefon schwieg. Es war gut, dass er Frau Wehner nicht gleich alle drei Geschichten gegeben hatte. Was, wenn er sie durch Herrn Spiro in ein Tief riss? Die herbstliche Jahreszeit würde vielleicht den Rest dazu liefern.
Robert wusste noch, wann Im Bergwerk entstanden war. Er und Kai hatten an dem Abend telefoniert. Sven, der Krankenpflegepraktikant, war am Nachmittag mit seinem Kaffeebecher zur Parkbank gekommen und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als Kai vom Suizid seines Vaters zu berichten. Kai war wütend gewesen, dass der Junge danach den Kaffee neben der Bank ins Gras geschüttet hatte.
„Neben meine Bank, die bis dato kaum einer kannte. Jetzt bin ich nicht mal mehr da sicher, wenn der Knabe mir ab heute immer hinterherschleicht. In dem Scheißladen ist man nirgends allein! Das wäre aber das Einzige, was ich mir noch wünsche. Meine Ruhe, meine gottverdammte Ruhe.“
„Ich muss dir das jetzt so deutlich sagen, verzeih mir: Was Svens Vater getan hat, war feige. Wir müssen weitermachen, solange wir können. Wir dürfen nicht aufgeben. Nie.”
Kai hatte eine lange Pause gemacht und geantwortet: „Sei mir nicht böse. War ein anstrengender Tag, die Nacht davor auch schon …“
So hatte Kai es immer umschrieben, wenn die Trauer mit ihm durchgegangen war.
„Ich bin müde, verstehst du. Einfach nur müde.“
Roberts Nackenhaare hatten sich aufgestellt, er wäre gerne ruhig geblieben, aber es war ihm nicht gelungen. „Ich höre es, ja. Aber du machst keinen Blödsinn, hörst du?! Keinen Blödsinn! Versprich es mir …“
Kais Schweigen war erdrückend gewesen.
„Soll ich vorbeikommen?“
„Brauchst du nicht.“ Kai hatte sich um eine festere Stimme bemüht. „Ehrlich.“
„Darf ich dir das glauben?“
„Darfst du.“
Robert hatte es dabei belassen und gehofft, dass seine Worte angekommen waren.
Sie waren es. Das konnte er jedes Mal wieder in der Bergwerksgeschichte lesen, der letzten vollständigen Episode über Herrn Spiro. Würden ihr jetzt noch weitere folgen?
Robert wusste nicht, ob Kais Wunsch eines Tages in Erfüllung gehen konnte. Er wusste nur, dass heute ein Weißbierabend angesagt war, denn für Nierenprobleme fehlte ihm die Zeit. Erst einmal musste er in der neuen Abteilung als neuer Kollege Fuß fassen. Bis jetzt war er nur der Mann, der aus dem Kommissariat für vorsätzliche Tötungsdelikte aus persönlichen Gründen ins Dezernat für Prävention und Opferschutz gewechselt hatte.
Drei Halbe und der Grieß dürfte weg sein, hatte sein Internist damals gesagt. Robert solle nicht mehr allzu lang damit warten, denn wenn sich erst einmal Steine gebildet hätten, würde er mit dieser Rosskur das Gegenteil erreichen und unter Umständen seine Niere aufs Spiel setzen.
Wann er beim Arzt gewesen war, fragte sich Robert. Und als Nächstes, wie schnell bei ihm aus Grieß Nierensteine geworden waren, die zum Ausspülen zu groß waren.
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