Kitabı oku: «Willis Welt»

Yazı tipi:


Birte Müller

Willis Welt

Der nicht mehr ganz

normale Wahnsinn


Vorwort

Willis Welt. Wie alles begann

Gefangen in der Extremnormalität

Sondermodell Willi

Um uns zu verstehen: Diagnose-Check

Herzlichen Glückwunsch: Ihr Kind hat Down-Syndrom!

Down-Syndrom? Ach du Scheiße!

Um sich alles besser vorstellen zu können: Ein ganz normaler Tag aus unserem Leben (Winter)

Wimmbad! Oder um sich alles besser vorstellen zu können: Ein ganz normaler Tag aus unserem Leben (Sommer)

Ohne Willi ist hier gar nix los

Very happy Welt-Down-Syndrom-Tag!

Noch mehr schlimme Diagnosen: das Auto-Syndrom (Aba-Aba-Störung)

Communitys!

Schmerzensgeldklage gegen Wolfgang Petry

Dancing Queen

Er will doch nur spielen …

Lebst du noch – oder funktionierst du schon?

Der neue Down-Syndrom-Bluttest ist lebensgefährlich

Hilfe, Wochenende!

Gebt mehr Küsse! Oder: Ich liebe meinen kaputten Mercedes

Gleiches Recht für alle!

Bei uns piepst’s total!

Was denn nun: normal, außerirdisch oder 100 Prozent glücklich?

Nur die Lüge einer Familie

Wischen oder blättern? E-Book versus richtiges Buch

Ganz exklusiv!

Inklusionserfahrungen: Vielen Dank für die Gleichbehandlung!

Spießertum

Eingeseift: Für die empfindliche Mongohaut

Völlig gestört

Schneewittchen und die sieben Willis

Stressige Eltern und Ökonazis

Verhandeln und verlocken – oder: Erpressung und Bestechung

Förderblödsinn

Hirnis, Kloppis und Behindis

Von Leistungsdruck, Witzen und Brot bitte

Wo ist eigentlich mein Mann?

Nachschlag

Für Matthias


Vorwort

Es ist März 2021. Vor mittlerweile vierzehn Jahren ist unser Sohn Willi auf diese Welt gekommen. Und vor sieben Jahren ist dieses Buch zum ersten Mal erschienen.

Nun wird es eine Taschenbuchausgabe von Willis Welt geben – das freut mich. Ich kaufe nämlich selber am liebsten Taschenbücher.

Das neue Buch soll auch ein neues Vorwort bekommen. Nun sitze ich hier und versuche zusammenfassen, wie es uns seitdem ergangen ist, ohne dabei ein weiteres Buch zu schreiben.

Als Erstes kann ich sagen: Willi geht es gut! Er scheint ein glücklicher Mensch zu sein. Auch seine kleine Schwester Olivia ist mit ihren zwölf Jahren eine großartige und starke Persönlichkeit, die sich bis heute auf keinen Fall mit weniger Aufmerksamkeit als ihr behinderter Bruder zufriedengibt.

Das Wort «Behinderung» ist übrigens nach wie vor das Wort meiner Wahl, wenn ich Willis Besonderheit benennen muss oder möchte. Dass Willi auch das Down-Syndrom hat, erwähne ich mittlerweile sehr selten, denn es bringt mich nach wie vor in eine Rechtfertigungsposition. Damit meine ich nicht unbedingt den Rechtfertigungsdruck für Willis Existenz, sondern vielmehr für seinen krass unterdurchschnittlichen Entwicklungsstand: «Solche Kinder» können doch normalerweise sprechen, gehen mit vierzehn schon lange selbstständig zur und auf die Toilette oder fahren sogar allein U-Bahn und gehen einkaufen. Aber Willi ist weder «typisch Trisomie 21» noch «typisch Autist» noch typisch sonst was, außer vielleicht typisch Willi. Es hat mir sehr gut gefallen, was Willis Lehrerin einmal zu mir sagte in Bezug auf Menschen mit bestimmten Behinderungen, nämlich: «Kennst du einen, kennst du einen.» Recht hat sie, und im Prinzip trifft das auf alle Menschen zu.

Es hat zwar in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer, gut gemeinter Ersatzwörter für «Behinderung» gegeben, aber mich hat keines überzeugt. Es kommt mir so ähnlich vor wie die ständige Debatte um die genderkorrekte Sprechweise. Während manche Leute sich exzessiv damit beschäftigen, dass man unbedingt «Innenpolitiker*innen» sagen muss, bleibt das eigentliche Problem – nämlich dass die meisten höheren Ämter weiterhin von Männern besetzt werden – ungelöst. So ähnlich empfinde ich die Debatte über das Wort «behindert».

Statt sich wirklich mit behinderten Menschen zu beschäftigen, wird ständig um die Sprache gefeilscht. Aber hübsche Wortschöpfungen lösen wirklich kein einziges unserer Alltagsprobleme – auch nicht, wenn sie englisch sind.

Ich habe einmal an einer Universität für Studierende der «Heilpädagogik» aus diesem Buch gelesen. Die Zuhörer erzählten danach, dass sie die Lesung besonders interessant fanden, da sie endlich einmal etwas über das echte Leben und Verhalten eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfahren hätten. Als ich erstaunt frage, womit sie sich denn im Studium sonst so beschäftigten, stellte sich heraus, dass sie sich zwar ausgiebig mit Themen wie «Behinderung als rein gesellschaftliches Konstrukt» auseinandergesetzt hatten, aber nie damit, was «Behinderung» konkret für Menschen bedeutet. Und wirkliche Begegnungen mit «solchen Menschen» hatten die wenigsten gehabt – und wenn, dann nur im privaten Bereich.

Für mich als Mutter eines schwerbehinderten Kindes scheint es dagegen ziemlich irrelevant, ob nun Akademiker Behinderung als ein von der Gesellschaft erzeugtes Phänomen entlarven oder nicht, denn rein praktisch muss ich meinem Sohn dann immer noch selber den Hintern waschen. Ich hätte wirklich mehr davon, wenn jemand von den Studis mit Willi öfter mal einen Ausflug in den Zoo machen würde.

Meine persönliche Erfahrung zeigt mir immer wieder: Wer keine Berührungsangst mit dem Thema hat, muss auch keine Angst vor dem Wort haben. Und wo man allzu verkrampft versucht, dem Wort auszuweichen, versucht man oft auch, der Realität von Menschen mit Behinderung auszuweichen.

Das kann einem in diesem Buch auf jeden Fall nicht passieren!

Und wie ist denn nun unsere Realität heute? Es ist nicht immer einfach bei uns, aber das darf wohl jeder Mensch über sein Leben sagen.

Wir sind oft glücklich und oft erschöpft und brauchen auch oft Hilfe bei der Bewältigung unseres Alltags – und ich bin leider immer noch keine Großmeisterin darin, Hilfe einzufordern. Aber ich übe weiter. Zum Glück haben wir unsere Eltern,* die immer an unserer Seite sind, ganz ohne dass wir sie darum bitten müssen.

Es fehlt mir besonders, auch mal etwas Zeit mit Matthias allein zu verbringen. An Willis neuntem Geburtstag haben wir mit Champagner angestoßen und uns nur halb scherzhaft gegenseitig gratuliert: Die Hälfte haben wir geschafft.

Grundsätzlich finde ich allerdings, dass es mit den Jahren alles immer ein Stück leichter wird. Willi macht seine ganz kleinen Schritte, Olivia macht ihre ganz großen Schritte, und ich versuche mitzuhalten durch Akzeptanz für alles, was kommt (oder eben auch nicht).

Hier zum Abschluss vielleicht einfach eine kleine Liste erstaunlicher Gegebenheiten aus unserem Leben, die ich mir vor sieben Jahren nicht hätte vorstellen können:

– Willi trägt tagsüber keine Windel mehr und sagt Bescheid, wenn er auf die Toilette muss.

– Olivia findet alles peinlich, was rosa ist oder glitzert, und ihre Wunschfrisur ist eine Haarlänge von 3 mm (was sie auch bereits auf der einen Seite ihres Kopfes trägt).

– Willi läuft nicht mehr weg!

– Mein Mann vergisst immer noch die Einkaufszettel und weiß bis heute nicht, welchem Kind welche Jogginghose gehört.

– Willi hat nicht die Zahlen gelernt, außer der «Eins» (was bei ihm wie «ass» klingt). Darum ist es besonders lustig, wenn er zählt. Er legt fünf Karten auf den Tisch und spricht dazu konzentriert: «Ass, ass, ass!»

– Willi ist ein großer Kenner klassischer Musik geworden. Er hört alle sechs Teile des Weihnachtsoratoriums von Bach konzentriert am Stück und liebt zum Beispiel die Carmina Burana von Carl Orff und Opern (alles parallel zu «Alle meine Entchen» und Co.).

– Olivia kann ohne ihren Nönö schlafen. (Der Nönö war über zehn Jahre ihr absolut lebensnotwendiger Schnuffellappen.)

– Willi ist in die Pubertät gekommen, und er bekommt schon Schambehaarung. (Ich weiß, es ist sehr indiskret, das zu schreiben; aber da sein körperliches Reifen für uns ein komplett verblüffendes Phänomen ist, tue ich es trotzdem.)

– Mein Mann scheint dagegen aus der Pubertät nie wirklich herausgekommen zu sein (die beiden amüsieren sich jetzt gemeinsam prächtig über ihre Pupse).

– Ich kann mit Willi in einen Supermarkt gehen, ohne dass er Dinge aus den Regalen reißt. (Er beißt nur ab und zu mal in eine Gurke, damit kann ich leben.)

– Letztes Wochenende habe ich bis 9.30 Uhr (in Worten: «halb zehn»!) geschlafen!

– Ein neuartiges Virus legt seit über einem Jahr unser Leben lahm. Da Willi sich weder an Abstandsregeln noch an das Tragen eines Mundschutzes halten kann, sind wir zuhause eingesperrt. Trotzdem musste noch keiner von uns in eine Einrichtung eingewiesen werden (das ist wahrscheinlich das Erstaunlichste in meinem Leben überhaupt).

Viel Spaß beim Lesen!

* Und «Oma» und «Opa» sind mit Abstand die Worte, die Willi am verständlichsten und am häufigsten spricht!

Willis Welt. Wie alles begann


Eines Tages fragte mich der Leiter des Verlags Freies Geistesleben, ob ich nicht für das Lebensmagazin a tempo einen Artikel schreiben möchte. Ich hatte gerade für den Verlag ein Buch illustriert, in dem die Hauptfigur Denni (so wie mein Sohn Willi) das Down-Syndrom hat. Ich wusste zwar nicht genau, was ein Lebensmagazin ist, aber weil ich gern über Willi schrieb und mir das Heft gefiel, sagte ich zu (und gut bezahlt wurde ich sogar auch noch dafür). Mein Auftrag war recht frei umrissen: Es sollte um unser Leben mit einem behinderten Kind und das neue Buch gehen. Herausgekommen ist Sondermodell Willi, ein Text, der sich einzig und allein mit der Existenzberechtigung meines Sohnes auseinandersetzt – das neue Kinderbuch allerdings blieb unerwähnt.* Das war die Geburtsstunde von Willis Welt, einer Kolumne, die ich die folgenden zwei Jahre für a tempo schrieb. In diesem Buch finden Sie alle Kolumnen in gnadenlos ungekürzter Form. Willi war in dieser Zeit zwischen vier und sechs Jahre alt. Ein paar in dieser Form bisher unveröffentlichte Texte sind noch dazugekommen, denn ich möchte Ihnen die absolut grenzwertige Zeit vor Willis viertem Lebensjahr nicht ganz unterschlagen. Viel Spaß im Irrenhaus!

* Deswegen möchte ich es wenigstens hier nennen: Der Titel lautet Denni, Klara und das Haus Nr. 5 und die Autorin ist Brigitte Werner.

Gefangen in der Extremnormalität


Wenn ich anderen Müttern glauben darf, ist bei uns zu Hause alles ganz normal, eben so wie bei allen anderen Familien auch. Allerdings hätte ich meinen Mann und mich schon vor der Geburt unserer Kinder als nicht ganz normal bezeichnet, deswegen passt es wohl auch ganz gut, dass gerade wir ein Spezialkind bekommen haben.

Willi schafft es tatsächlich, sich noch bekloppter zu verhalten als wir selbst. Mein Mann und ich sind alberne Menschen, aber wir haben wenigstens meistens einen erkennbaren Grund dafür, wenn wir loslachen. Willi bringt seine Lachattacken ganz ohne ersichtlichen Anlass zustande – Respekt! Da mag man denken: Die arme kleine Schwester Olivia, die kurze Zeit später ebenfalls noch in diese Familie gekommen ist!

Tatsächlich denke ich das auch manchmal. Allerdings verhält auch sie sich so normal, wie Kleinkinder sich eben verhalten: nämlich eben gar nicht. So erklärt sie mir morgens, dass sie sich nicht die Schuhe anziehen kann, weil sie gerade endlich mal eine Pause macht, das sei ja wohl ihr gutes Recht. Und wenn ich ihr dann lang und breit erläutere, dass sie jetzt aber in den Kindergarten gehen soll, weil Mama arbeiten muss, um Geld zu verdienen für die ganzen Dinge, die wir immer kaufen müssen (wobei es sie nicht weiter zu interessieren scheint, dass wir sonst kein Essen hätten, aber sehr wohl beeindruckt, dass man dann auch keine Geburtstagsgeschenke bekommen würde), und sie am Ende meines Monologes sagt: «Danke für das Gespräch, Mama!», dann weiß ich: Genau diese Tochter hatte uns noch gefehlt!

Und so wundere ich mich gar nicht erst, wenn ich den Klodeckel öffne und die Toilette bis oben hin mit Quietscheentchen gefüllt ist. Jedem meiner Hausgenossen traue ich zu, für die Enten im Klo verantwortlich zu sein. Ich frage nicht einmal, wer es war, sondern mache den Deckel schnell wieder zu und freue mich lediglich, dass anscheinend noch keiner draufgemacht hat.

Ich möchte gerne denken, dass wir eine ganz normale Familie sind, mit Höhen und Tiefen, nur dass unsere Tiefen mit Willi ein Albtraum sind und unsere Höhen vielleicht deswegen umso mehr herausragen. – Es ist wohl so, dass wir wirklich die gleichen Probleme haben wie alle anderen Familien (und Gummitiere im Klo sind ganz sicher ein kleineres). Aber warum darf man sich eigentlich nicht über Dinge beklagen, die die anderen auch haben? Und was ist das für ein komischer Wettbewerb unter den Müttern nach dem Motto «Wer hat es schwerer mit seinem Kind»? Weil ich kein Spielverderber sein will, mache ich da nicht mit, denn wir sind in vielen Bereichen einfach unschlagbar (oder kennen Sie ein Kind, das wie Willi acht eitrige Mittelohrentzündungen im Jahr schafft?). Denn selbst die vielen «Normalokinder», die wie mein Sohn Willi ganz normal zur Logopädie gehen, können im Gegensatz zu Willi wenigstens überhaupt etwas sprechen! Und natürlich haben auch «normale» Vierjährige Brillen, Hörgeräte, Paukenröhrchen, Windeln, Ergotherapie, Atemwegsinfekte und werfen den Teller an die Wand oder ziehen sich nicht selbst an und aus. Aber wir sind anscheinend in einer Art Hypernormalität gefangen! Wenn auf ein Kind all diese Dinge gleichzeitig zutreffen, dann nennt man das eben nicht mehr normal, sondern behindert. Warum etwas gleichreden, was nicht gleich ist? Ich persönlich kann den Blödsinn nicht mehr hören: Alle Kinder sind doch verschieden, das eine ist blond, das andere trägt eine Brille und noch ein anderes ist eben behindert (wobei das Wort natürlich nicht direkt ausgesprochen wird). Für mich ist das wie Äpfel mit Birnen vergleichen.

Von unserem Leben in der Extremnormalität möchte ich Ihnen in diesen Texten hier erzählen. Ich werde über unseren Alltag mit Willi und Olivia schreiben, über meinen tollen Ehemann rumnölen, mich über besondere Begegnungen freuen, mich immer wieder über blöde Kommentare auslassen, selbst politisch Unkorrektes schreiben und bekennen, dass ich manchmal völlig überfordert bin und der schönste Moment des Tages dann der ist, wenn beide Kinder schlafen.

Ich werde mich angreifbar machen, weil ich offen zugebe, nicht jede Therapie für meinen Sohn mitzumachen, und weil ich «trotzdem» arbeite und auf Lesereisen ins Ausland fahre. Ich mache mich bei den Eltern anderer behinderter Kinder unbeliebt, weil ich nicht glaube, dass nur die Gesellschaft mein Kind behindert, sondern dass er eben einfach auch behindert ist. Ich stelle meine Mitmenschen vor die Herausforderung, meinen Willi in all seiner Andersartigkeit zu nehmen und zu lieben, wie er ist. Ich nehme mir das Recht heraus, jeden noch so winzigen Fortschritt meines Sohnes wild zu feiern und daneben dem Wunder der normalen Entwicklung meiner Tochter zu huldigen. Und ich werde rumjammern über die Dinge, die den Alltag von allen Familien so schwer machen, aber über die man sonst nicht jammern darf, weil es ja jedem so geht!

Sondermodell Willi


Mir ist in letzter Zeit immer häufiger aufgefallen, dass Kinder als «Anschaffung» bezeichnet werden. Eigentlich ein komplett unpassender Ausdruck, der laut Definition einen entgeltlichen Vorgang bezeichnet, bei dem ein Wirtschaftsgut von einem Eigentümer auf einen anderen übergeht. All das trifft zum Glück bei einem Kind nicht zu!

Mein Mann und ich haben unser erstes Kind vor gut vier Jahren «angeschafft». Die Anschaffung unseres Sohnes Willi war vollkommen kostenfrei, wir hatten ihn zwar nicht bestellt, uns über die pünktliche Lieferung zum Stichtag aber gefreut und waren dann einigermaßen überrascht, dass er ein «Sondermodell» war. Eine Bedienungsanleitung lag nicht bei.

Willi hat ein winzig kleines Chromosom mehr in jeder seiner Zellen als die meisten anderen Menschen. Er hat das Down-Syndrom und das West-Syndrom, eine schwere Form der Epilepsie. Seine Augen sind leicht schräg gestellt, sein Mund steht meistens offen und seine Zunge ist zu sehen. Unser Willi kann kein Wort sprechen, er kann sich weder selbst an- noch ausziehen, nicht aufs Klo gehen, nicht richtig mit einem Löffel essen, er kann niemals ruhig sitzen oder stehen und er kann sich selten länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren.

So würde ein Außenstehender vielleicht meinen Sohn beschreiben. Wir Mütter behinderter Kinder nennen diese Sichtweise «defizitorientiert», da sie hauptsächlich benennt, was unsere Kinder nicht können.

Jetzt das Ganze mal aus anderer Sicht: Willi ist ein gesunder, fröhlicher Junge mit wunderschönen Mandelaugen! Er kann ihm bekannte Menschen erkennen, er kann eine ganze Reihe Gegenstände (besonders Essbares) auf Bildern zeigen und mit Gebärden benennen. Willi kann unsere Hand nehmen und uns zum CD-Spieler führen, wenn er Musik hören möchte. Willi kann selbstständig die Mütze absetzen und (leider) den Reißverschluss seines Schneeanzuges öffnen. Willi kann laufen (und macht das auch den ganzen Tag) und Willi hält einen konsequenten Sitzstreik durch, wenn er in die Richtung laufen soll, die ein anderer bestimmt.

Für mich ist das alles normal, auch wenn ich weiß, dass irgendwie nichts von alldem wirklich normal ist. In der Öffentlichkeit fallen wir oft auf. Wir sind lauter, wir sind irgendwie «doller» als die anderen – in jeglicher Beziehung. Als Willi knapp zwei Jahre alt war, da haben wir uns noch ein Kind «angeschafft». Willis kleine Schwester Olivia. Sie führt uns täglich das Wunder der normalen Entwicklung vor Augen. Auch sie fordert uns als Eltern heraus, aber trotzdem ist die Art der Anstrengung nicht miteinander vergleichbar.

Ich versuche damit aufzuhören, Außenstehenden die emotionale Belastung zu erklären, unter der wir leiden. Zu oft werde ich einfach nicht verstanden oder meine Äußerungen werden als ein Beklagen über unser Leben missgedeutet. Der Satz «… das hast du aber mit einem normalen Kind auch» macht mich manchmal richtig wütend. Und trotzdem habe ich immer wieder den Wunsch, man möge uns verstehen. Das Leben mit Willi ist (und bleibt es auch) in jeder Beziehung deutlich mühevoller – und oft sind wir überfordert. Aber unser Leben ist durch Willi auch viel intensiver. Jeden Tag fühle ich, dass wir wirklich leben. Wir haben so unvorstellbares Leid erfahren durch Willis Krankheiten und so unendliches Glück durch ein einziges Lachen von ihm! Wir leben seither in jeder Hinsicht extremer.

Demnach müsste mein Sohn also voll im Trend liegen. Viele Menschen sind doch heute auf der Suche nach dem Kitzel des Extremen, nach großen Gefühlen und mehr Individualität. Diesen Menschen kann ich ein Kind mit Down-Syndrom nur ans Herz legen! Komisch eigentlich, dass die Abtreibungszahlen von Kindern mit Down-Syndrom trotzdem ständig zunehmen. In Deutschland liegen sie bei über 90 Prozent.

Mir scheint, als würden immer mehr Menschen versuchen, ihr Leben so unverbindlich wie möglich zu planen. Kinder sind wohl so ziemlich die einzige «Anschaffung», bei der man sich wirklich festlegen muss. Ein Kind lässt sich nicht so einfach wieder abschaffen, auch wenn der eine oder andere Elternteil durch das Verlassen der Familie eben genau das zu tun versucht. Willi, Olivia und ich haben das Glück, dass wir nicht wieder abgeschafft wurden. Nach den schwierigen Anfangsjahren haben wir nun unsere Normalität neben der Norm allmählich gefunden.

Ich hadere nicht mit unserem Schicksal. Ich denke, Willi ist genau das Kind, das zu uns passt. Und doch taucht in den Gesprächen mit meinem Mann immer wieder die Frage auf, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns damals doch für pränatale Diagnostik und dann für eine Spätabtreibung unseres Kindes entschieden hätten. Vor meinen Augen scheine ich es deutlich zu sehen: Wir wären keine glücklichere Familie! Wahrscheinlich wären wir heute gar keine Familie. Hätte ich mir dieses Kind aus dem Leib reißen lassen, hätte ich einen Teil meines Herzens mit verloren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Wunde jemals verheilt wäre. Vielleicht hätte ich die Gegenwart meines Mannes, den ich so liebe, nicht mehr ertragen, weil sie mich immer wieder an diese Verletzung erinnert hätte.

Und wie hätte ich damit umgehen sollen, wenn ich im Park einem kleinen Willi begegnet wäre, der laut schreiend vor Glück hinter ein paar Tauben herjagt? Es wäre der Beweis gewesen, dass das Leben nicht zu Ende ist, wenn man ein behindertes Kind bekommt, sondern eben noch einmal neu beginnt. Und doch muss es sie geben, die Mütter, die mit diesen und noch schlimmeren Verletzungen weiterexistieren. Auch mein Leben wäre irgendwie weitergegangen. Ohne Willi wäre es sicher einfacher, aber das würden wir nicht merken. Wir wären nicht glücklicher, im Gegenteil, wir wären so viel ärmer an Liebe. Egal, was Willi die Krankenkasse kosten mag, er bereichert unsere Gesellschaft wie jedes Kind um ein Vielfaches. Wir können an ihm lernen, ein besserer Mensch zu sein. Kann es etwas Großartigeres geben?

Die Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft liegt darin, dass wir tatsächlich Methoden entwickelt haben, um nicht normgerechtes Leben zu verifizieren und zu selektieren. Der Mutter wird dann die Entscheidung über Leben und Tod «frei» überlassen.

Eine Mutter, die die Diagnose einer Behinderung ihres Kindes erhält, steht unter Schock. Niemand verbietet ihr, dieses Kind auszutragen, aber es ist auch niemand da, der ihr sagt: «Egal, wie dein Kind ist, es wird auf dieser Welt willkommen sein!» Ganz im Gegenteil. Aus der Möglichkeit der pränatalen Diagnostik hat sich ein Automatismus entwickelt: Weil es möglich ist, wird es gemacht. Neun von zehn Menschen, die erfahren, dass mein Sohn das Down-Syndrom hat, reagieren mit der Frage: «Habt ihr das denn nicht getestet?» Den deutschen Gesetzgebern ist dabei kein Vorwurf zu machen. Sie haben es sich wahrlich nicht einfach gemacht bei der Festlegung der Bedingungen, unter denen eine Spätabtreibung stattfinden darf. Das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes ist abzuwägen mit dem Recht auf das (seelisch und körperlich unversehrte) Leben der Mutter. Tatsächlich weiß in Deutschland heute kaum einer, dass es verboten ist, ein Kind aufgrund seiner Behinderung abzutreiben! Lediglich die Unzumutbarkeit für die Mutter ist die Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch nach der zwölften Woche.

Ich möchte nicht in die Abgründe der seelischen Verletzungen der Mütter blicken, die diese Entscheidung getroffen und die grausame Prozedur einer Spätabtreibung erlebt haben.

Und dann kommen Menschen auf der Straße daher, schauen mein Kind an und fragen mich allen Ernstes: «Warum habt ihr das denn nicht testen lassen?» Das ist doch ein Mensch und dazu noch mein Kind. Und kein Test der Welt hätte seine Behinderung verhindern können. Von den hehren moralischen Zielen der Politiker, welche die Spätabtreibung erlaubt haben, ist bei den Bürgern offensichtlich nicht viel angekommen.

Viele Frauen gehen in der Schwangerschaft zu diesen «Tests», ohne über die möglichen Ergebnisse und vor allem die daraus zu ziehenden Konsequenzen in irgendeiner Weise informiert worden zu sein. Der Feindiagnostik-Ultraschall in der Schwangerschaftsvorsorge ist zu einer Art «3D-Baby-watching-Event» geworden. Aber für einen Gendefekt gibt es keine Möglichkeit der «Vorsorge», das Baby kann höchstens «entsorgt» werden!

Es ist genau diese «Warum-habt-ihr-das-denn-nicht-getestet-Einstellung», welche den Müttern (und auch Vätern) eine Art Eigenverantwortung, ja sogar Schuld an der Behinderung ihres Kindes aufbürdet. Das hart erkämpfte Recht auf eine Abtreibung wird plötzlich zu einer sozialen «Pflicht» zur Abtreibung.

Wer hat die Schuld an der Behinderung meines Sohnes? Niemand! Schuld ist doch immer etwas Negatives. Schuld entsteht, wenn jemand absichtlich gegen ethische oder gesetzliche Wertvorstellungen verstößt. Aber an der Existenz meines Sohnes ist nichts Schlechtes, es ist eine Spielart des Lebens, wie es sie immer gegeben hat – und hoffentlich immer geben wird. Soll dieser Mensch etwa nicht existieren, weil er uns mehr Arbeit macht und mehr Hilfe benötigt? Weil er wahrscheinlich kein Abitur machen kann? Oder weil er im Café anderen Menschen auf die Nerven geht, weil er zu laut ist? Das alles ist doch lächerlich im Vergleich dazu, dass Willi leben darf! Es ist wahr, dass ich weniger Zeit zum Vertreiben habe als andere Mütter. Aber immerhin muss ich keine Zeit verlieren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der war bei Willi im Lieferumfang enthalten.

Finanziell hat sich übrigens die Anschaffung beider Kinder aufgrund der hohen Nebenkosten nicht gelohnt, aber wir haben eine sehr positive Lach- und Liebesbilanz. Diese Kinder sind für mich (auch wenn es pathetisch klingt), jedes auf seine Weise, ein Geschenk. Und schon in der Schwangerschaft habe ich es (diesmal ganz unpathetisch) mit dem Volksmund gehalten, der besagt: «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!»

Ja, manchmal bin ich auch traurig, dass Willi nicht die Möglichkeiten hat wie normale Kinder – und mir blutet das Herz, wenn ich sehe, dass man ihn ablehnt, ignoriert oder auslacht. Aber da muss sich doch nicht mein Sohn ändern, sondern eben die anderen!

Ich kann mit Überzeugung sagen, dass es richtig war, diese Sonderbabylieferung, die da vor vier Jahren zu uns kam, einfach anzunehmen und nicht zu viel zu fragen. Oft haben wir seitdem gewitzelt, dass wir ihn nach dem «Fernabnahmegesetz» innerhalb der ersten zwei Wochen bestimmt zurückgegeben hätten, wenn wir ihn nur irgendwie wieder zurück in die Originalverpackung bekommen hätten … Heute könnte uns nichts mehr trennen!


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205 s. 59 illüstrasyon
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9783772543722
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