Kitabı oku: «Zu Keynes passt das nicht»

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BJÖRN FRANK


Zu Keynes passt das nicht

Vom Leben und Sterben großer Ökonomen


Wenn ich dann höre, dass eine Shaw-Biographie in vier Bänden gibt, mit 2000 Seiten, dann sage ich, mein lieber Freund, das ist ja gründliche Arbeit, vielen Dank, aber du hättest es eher auf den Punkt bringen können, durch Weglassen.

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Jede Biographie ist ein Roman, der seinen Namen nicht zu sagen wagt.

ROLAND BARTHES

Vorwort: Über dieses Buch und warum es nicht dicker ist

Cantillons letztes Problem

Bentham: Keine schöne Leiche (aber nützlich)

Lists letzter ökonomischer Triumph

Thünen und seine Grabsteinformel

Tschajanow: Tod in der Hölle

Keynes: Der unter anderem auch Ökonom war

Stackelberg: Der Bundesverdienstkreuzträger

Schumpeter betet zu den Hasen

Von Neumann und der Preis atomarer Abschreckung

Schmölders’ Traum von Amerika

Vickreys sehr kurze Freude über den Nobelpreis

Coase und die ökonomischen Probleme ewigen Lebens

Variationen über Themen von Friedrich List: Henri de Saint-Simon, Alexander Hamilton, Elizabeth Boody Schumpeter, Karl Marx und Rosa Luxemburg

Anmerkungen und Quellen

Literatur

Vorwort: Über dieses Buch und warum es nicht dicker ist

Am 9. Juni 2013 wurde der schwedische Biochemiker Alf Stefan Andersson, Professor an der Universität Houston (Texas), von seiner Freundin mit dem Stiletto-Absatz ihres Schuhs erschlagen. Auch eine Möglichkeit, als Wissenschaftler in die Medien zu kommen, dachte ich damals. Aber doch sinnlos – eine Nachricht war das, keine Geschichte. Über Biochemie lernt man daraus nichts.

Mir fielen die Ökonomen ein, die ein romanhaftes Leben gelebt hatten, als hätte es sich jemand ausgedacht: nicht nur wie sie lebten, sondern auch wie sie starben. Ob sie sich nun umbrachten, umgebracht wurden, ihren Tod vortäuschten oder elend an Krankheiten zugrunde gingen – immer schien es, als hätte ihr Werk damit zu tun. Das gilt zum Beispiel für Jeremy Bentham, der »das größte Glück der größten Zahl« wollte und damit das philosophische Fundament der Wirtschaftswissenschaft legte. Oder für Friedrich List, der für Freihandel kämpfte, für Schutzzölle und die Entwicklung der Eisenbahn. Und auch für John Maynard Keynes, den Schöngeist unter den Ökonomen. Über sie wollte ich so schreiben, als seien es keine Biografien, sondern Erzählungen, die in einen Tod münden, der ein letztes Schlaglicht auf ihr Leben und ihr Werk wirft.

Es ist mir ganz recht, wenn Sie sich beim Lesen fragen: Kann das wirklich sein? Die Antwort ist in jedem Fall ja, denn ich habe mir nichts ausgedacht. Höchstens ein bisschen ausgewählt, aber es ist alles wahr und belegt (fast alles – die wenigen Passagen, in denen ich ein bisschen spekulieren und meine Phantasie bemühen musste, sind als solche erkennbar). Noch eine Regel habe ich mir gegeben: Ein eigentümlicher Tod reicht nicht aus. Alle Ökonomen, die in diesem Buch vorkommen, sind bedeutend. Einige, wie zum Beispiel John von Neumann, sind Jahrhundertgenies, andere sind Initiatoren eines ganzen Forschungszweiges, wie Joseph Alois Schumpeter. Oder sie sind als Namensgeber von Gesetzen oder Phänomenen – wie dem Cantillon-Effekt – unvergessen.

Beim Schreiben musste ich öfter daran denken, wie wir jugendliche Tennisspieler uns Anfang der achtziger Jahre lächerlich gemacht haben, wenn wir beim Aufschlag die Füße hintereinander, aber beide parallel zur Grundlinie stellten: Jeder konnte sehen, dass wir John McEnroe nacheiferten. Mein Vorbild für dieses Buch ist vielleicht nicht so leicht zu erkennen, es ist der McEnroe des biografischen Schreibens, Lytton Strachey. Beide sind zweifellos genial, in den Augen ihrer Zeitgenossen Enfants terribles, und es ist unmöglich, sie zu imitieren. In einem der folgenden Kapitel kommt Strachey ganz kurz als Liebhaber eines sehr bekannten Ökonomen vor, aber viel wichtiger ist etwas anderes: Er hat gezeigt, dass der Grundton einer Biografie nicht feierlich sein muss, sondern ironisch sein kann. Das gilt selbst im Angesicht der Tragödie, und sei es die eigene – die letzten Worte des an Magenkrebs erkrankten Strachey waren: »Wenn das Sterben ist, halte ich nicht viel davon.« Seine Lebensgefährtin, die Malerin Dora Carrington, verkraftete seinen Tod nicht und erschoss sich, sie wurde 38, er wurde 51 Jahre alt. Statistisch gesehen sind sie beide Ausreißer, besonders Carrington, denn im Durchschnitt sterben Autoren deutlich früher als Maler oder andere Künstler, was vermutlich daran liegt, dass Autoren nur selten Kontakt mit dem Publikum haben; jahrelang schreiben sie an einem Buch und dürfen ausgesprochen selten die Befriedigung erfahren, etwas Herzeigbares fertiggestellt zu haben. Auch der Produktionsprozess bei Autoren ist freudlos im Vergleich zu Schauspielern und Musikern, die auf Proben mit anderen Kreativen zusammenarbeiten dürfen, und selbst die einsame Malerei spricht wenigstens verschiedene Sinne an und kann sich an wechselnden Orten abspielen. Gleicht man die triste Tätigkeit am Schreibtisch durch extremes Verhalten in der Freizeit aus, ist das der Gesundheit und Lebenserwartung auch nicht zuträglich.

Ich habe versucht, diese Erkenntnisse ernst zu nehmen. Keines der Kapitel ist länger als nötig. Dicke Biografien gibt es sowieso genug. Außerdem habe ich versucht, nicht allein vor mich hin zu schreiben, zum Beispiel habe ich viele Kapitel dieses Buches so früh wie möglich vorgelesen und verschickt. Die Zahl derer, die mir schon vor Jahren das Gefühl gegeben haben, ein Produkt in den Händen zu halten, obwohl es eigentlich erst ein Fünftel eines Buches war, ist so groß, dass ich hier unmöglich eine Liste von Namen einfügen kann.

Besonders dankbar bin ich für die Ermutigung durch jene, die mit Wirtschaftswissenschaft eigentlich nicht viel am Hut haben und die sonst nichts über Ökonomie lesen; für sie ist dieses Buch geschrieben.

Cantillons letztes Problem
RICHARD CANTILLON (CA. 1680–1734)

Was soll man nur mit seiner Zeit anfangen, wenn man gestorben ist, wenn man sich aus der Welt, in der zu leben man gewohnt war, verabschieden musste? Noch etwas Neues beginnen, etwas Versäumtes nachholen? Richard Cantillon jedenfalls, das wissen wir sicher, schrieb ein Buch über die Wirtschaft, ein richtiges Buch, kein Hauch im Friedhofsnebel, sondern ein Werk, das 1755 gedruckt wurde.

Das alles wäre fast in Vergessenheit geraten, hätte der britische Ökonom und Philosoph William Stanley Jevons das Buch nicht wiederentdeckt und 1881 in der Contemporary Review gewürdigt – was dadurch sehr erleichtert wurde, bemerkte Jevons in einer Fußnote, dass er eines der wenigen erhaltenen Exemplare in seiner privaten Bibliothek »gefunden« hatte, nachdem er es viele Jahre zuvor in Paris »zufällig gekauft hatte«.

Man kann Jevons nicht nur zu seinem Fund gratulieren, sondern auch zu seiner disziplinierten Lektüre – ein Lesevergnügen ist das Buch nicht. Die drei Kapitel, die den bedeutendsten Beitrag zur Geldtheorie leisten, heißen

Über die Vermehrung und die Verminderung der Bargeldmenge in einem Staat – Weiteres über den gleichen Gegenstand, die Vermehrung und die Verminderung der Bargeldmenge in einem Staat – Eine andere Überlegung über die Vermehrung und die Verminderung der Bargeldmenge in einem Staat.

Was der Autor auf diesen Seiten beschreibt, wird heute Cantillon-Effekt genannt und ist keineswegs nur von historischem Interesse. Der Effekt tritt immer mal wieder auf, so auch heute als Folge der Griechenland- oder Euro-Krise.

Die Europäische Zentralbank (EZB) kann die Geldmenge nur erhöhen, indem sie Banken dazu bringt, sich bei ihr, der EZB, mehr Geld zu leihen, um mehr Kredite zu vergeben. Nachfrager nehmen die zusätzlichen Kredite auf, um mehr Produkte zu kaufen als zuvor. Was aber passiert, wenn die Hersteller dieser Produkte nicht ohne weiteres mehr produzieren können als bisher? Und wenn sie nicht gerade einen großen Lagerbestand haben? Dann bleibt ihnen nur eine vernünftige Reaktion auf die gestiegene Nachfrage: Sie erhöhen die Preise.

Davon war lange Zeit wenig zu spüren. Es war ein Rätsel, weshalb die lockere Geldpolitik der EZB seit 2008 nicht zu spürbarer Inflation führte. Cantillons Analyse hilft, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Er schrieb sein Buch zu einer Zeit, als die Bargeldmenge stieg, wenn neue Gold- oder Silberminen erschlossen wurden. Aber das geschieht nicht plötzlich. Die Mine wird entdeckt, dann stellen die Minenbesitzer Arbeiter ein, beauftragen Schmelzbetriebe und behalten selbst einen schönen Gewinn. All diese Leute geben nun mehr Geld aus als vorher und sind wirklich wohlhabender geworden – weil die Preise noch die alten sind, konnten sie sich mehr leisten. Aber, wie Cantillon schreibt: »Alle diese Vermehrungen der Ausgaben für Fleisch, Wein, Wolle usw. vermindern notwendig den Anteil der anderen Bewohner des Staates, die zunächst nicht an den Reichtümern der fraglichen Minen teilnehmen.« Denn nun steigen die Preise für diese Güter durch die zusätzliche Nachfrage der Minenbesitzer. Eine allgemeine Version dieser Geschichte bezeichnet man heute als Cantillon-Effekt:

Wird die Geldmenge so erhöht, dass sie zunächst einer speziellen Gruppe zugutekommt, dann wird diese Gruppe tatsächlich reicher, zu Lasten der anderen Mitglieder der Volkswirtschaft. Das heißt, es steigen nicht einfach die Preise, sondern es kommt gleichzeitig zu Umverteilung.

Und dieser Prozess braucht Zeit, das Geld geht ja nicht unendlich schnell von Hand zu Hand, sondern mit einer gewissen Geschwindigkeit (die Cantillon nicht anders analysiert, als moderne Geldtheoretiker es heute tun). Es steigen auch nicht alle Preise gleichmäßig, sondern zuerst die Preise der Güter, die von den Minenbesitzern und -arbeitern nachgefragt werden.

Und heute? Wer gibt mehr aus, nachdem die EZB die Geldmenge erhöht hat? Eine wichtige Gruppe von Nachfragern, die ihre Anschaffungen mit Krediten finanzieren, sind Immobilienkäufer. Wer noch zu den »alten« Preisen ein Haus bauen konnte, aber schon von den niedrigen Zinsen profitiert, ist ein echter Krisengewinnler. Wer heute ein Haus in einer guten Lage kauft, muss viel mehr zahlen als zu Beginn der Krise – Ökonomen sprechen von einer Vermögenspreisinflation. Für einen Teil der Güter, nämlich für solche, die als Geldanlage taugen, sind die Preise schon gestiegen, für andere noch nicht. Das ist die von Cantillon erzählte Geschichte in einem neuen Gewand.

Man kann bei Cantillon aber noch mehr entdecken. Besonders interessant ist seine Bevölkerungstheorie. Er kritisiert naive Versuche seiner Zeitgenossen, das Bevölkerungswachstum als einfaches exponentielles Wachstum »seit dem Urvater Adam« zu beschreiben. »Die Menschen vermehren sich«, schreibt er zwar, »wie die Mäuse in einer Scheune, wenn sie unbeschränkte Mittel für den Lebensunterhalt haben«, aber die Mittel sind eben nicht unbegrenzt. Und so wird das Bevölkerungswachstum auch davon abhängen, wie viel die Grundbesitzer für sich beanspruchen. Je mehr das ist, desto weniger bleibt für die unteren Klassen, und desto weniger Einwohner wird der Staat haben können.

Dies sind Gedanken, die der Engländer Thomas Robert Malthus später noch einmal und mit noch größerer Konsequenz aufschrieb, was ihm einigen Nachruhm als Entdecker des »Bevölkerungsgesetzes« einbrachte. Das ist jene pessimistische Theorie, nach der aller Fortschritt im Ackerbau, jede zeitweilige Vermehrung des Wohlstands immer wieder dazu führt, dass die Leute mehr Kinder bekommen, so dass pro Kopf gerechnet gar nichts gewonnen wird. Während weite Teile der Bevölkerung somit wenig Chancen hätten, dem Elend zu entrinnen, brachte es Malthus 1805 immerhin zur ersten Professur für Volkswirtschaftslehre überhaupt.

Davor war Ökonomie eine Wissenschaft, die nicht an den Universitäten betrieben wurde, sondern von Leuten, die die nötige Zeit und die nötige Bildung dafür hatten. Malthus begann als anglikanischer Pfarrer, Adam Smith, der 1776 mit »Wohlstand der Nationen« den ökonomischen Klassiker überhaupt veröffentlichte, war Philosoph und verdiente sein Geld später als Privatlehrer und Zollkommissar; Cantillons Zeitgenosse François Quesnay war Leibarzt von Madame Pompadour, der Mätresse Ludwig XV.

Und Cantillon? Sein Weg zum Ökonomen war ein naheliegender, er begann als Banker. Zwar wurde er in eine Familie irischer Landwirte geboren, zwischen 1680 und 1690, genauer weiß man es nicht. Aber ein Großonkel war ein bedeutender Bankier in London, und ein Cousin zweiten Grades nahm ihn in seine Bank in Paris auf, wo er 1708 die französische Staatsbürgerschaft beantragte. Acht Jahre später war dieser Cousin knapp dem Konkurs entgangen und übertrug Cantillon, der nebenbei im Weinhandel gut verdient hatte, die nun fast wertlose Bank gegen eine kleine jährliche Rente.

1720 wandelte Cantillon seine Bank in eine Kommanditgesellschaft namens Cantillon & Hughes um. John Hughes war sein Geschäftsführer, hinter dem Namen Cantillon steckte allerdings sein vierjähriger Neffe. Möglicherweise wollte Cantillon mit dieser Konstruktion verhindern, im Fall einer Pleite mehr zu verlieren als das Kapital, das er als Kommanditist schon in die Bank gesteckt hatte.

Die Geschäfte, die er bald darauf machte, waren ja auch nicht ohne Risiko. Zu der Zeit erlebte Europa eine der aufsehenerregendsten Spekulationsblasen aller Zeiten, es ging um Aktien der sagenumwobenen Compagnie du Mississippi. Cantillon selbst erwarb keine dieser Aktien, denn er sah ein baldiges Platzen der Blase voraus. Aber er lieh Anlegern, meist englischen Adligen, Geld, um welche zu kaufen. Die Aktien nahm er als Sicherheit für den Kredit entgegen, ließ sie jedoch nicht in seiner Bank liegen, sondern verkaufte die meisten sogleich. Wären die Kurse dieser Aktien weiter gestiegen und hätten die Schuldner ihre Kredite zurückgezahlt und ihre Aktien zurückgefordert, dann wäre Cantillon in Schwierigkeiten gewesen, denn er hätte die Aktien ja nun teuer wieder kaufen müssen.

Doch zunächst kam es anders. Die Kurse stürzten ab, Cantillon kaufte die Aktien billig zurück. Die gehörten zwar den Schuldnern, aber sie waren fast nichts mehr wert. Trotzdem mussten sie natürlich Cantillon das geliehene Geld zurückzahlen – und dazu Zinsen, die sich schon mal auf 55 Prozent belaufen konnten. Nicht alle nahmen dies hin, ohne Cantillon hartnäckig jahrelang mit Klagen wegen Wucher und Betrug zu überziehen. Als der besagte Hughes 1723 starb, klagte außerdem dessen Witwe, denn sie glaubte, einen Anspruch auf einen Teil der Bank zu haben, die Cantillon nun auflöste. Die Rechtsstreitigkeiten zogen sich mehr als zehn Jahre hin, und Cantillon war noch in einige mehr verwickelt.

Damit war es erst vorbei, als in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1734 sein Haus in London in Flammen aufging. Es wurde eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche gefunden. Zunächst wurde vermutet, dass er nach seiner Gewohnheit mit einer Kerze ins Bett gegangen sei, um noch zu lesen, aber dann wurde ein Diener, den Cantillon einige Tage zuvor entlassen hatte, der Ermordung beschuldigt, allerdings wurde er nie gefasst.

Hier endet die Geschichte – oder sie endet nicht. Der Mann, der wenig später mit einigen Papieren Cantillons in der holländischen Kolonie Surinam auftauchte und sich Chevalier de Louvigny nannte, kann Cantillons Mörder gewesen sein. Dass in der Nacht seines Todes Frau und Tochter nicht in London, sondern in Paris waren, kann Zufall gewesen sein, ebenso wie die Tatsache, dass er vor seinem Tod einen ungewöhnlich hohen Betrag in bar von seinem Konto abgehoben hatte. Und es kann sein, dass sein Buch nach dem englischen Manuskript ins Französische übersetzt wurde, dass das englische Original dann verlorenging und dass auch die französische Version für rund zwanzig Jahre unveröffentlicht blieb, bis jemand auf die Idee kam, sie zu drucken. Es kann aber auch sein, dass sich hinter dem Chevalier in Wahrheit Cantillon selbst verbarg und dass Baron Friedrich Melchior von Grimm recht hatte, als er 1755 an Denis Diderot schrieb:

Seit einem Monat haben wir ein neues Werk über den Handel, betitelt ›Essai sur la nature du commerce en général, traduit de l’anglois‹ (…). Das Buch ist nicht aus dem Englischen übersetzt, wie dies zweifellos mit Absicht im Titel angegeben wird; es ist ein ursprünglich französisch von einem Engländer, M. de Cantillon, verfaßtes Werk, einem Mann von Ansehen, der seine Tage in der Languedoc beschloß, wohin er sich zurückgezogen und wo er viele Jahre gelebt hatte.

In einem späteren Brief allerdings widerruft Grimm diese Darstellung und schließt sich der offiziellen Version an. Wir werden nie sicher wissen, wie es sich abgespielt hat. Doch wenn Cantillon seine Ermordung vorgetäuscht hat, dann ist er mit einem Schlag alle Kläger und Gerichte losgeworden, dann war das ein Geniestreich – nur eben keiner, von dem man wissen durfte, keiner, für den er sich hätte bewundern lassen dürfen. Wie aber sollte er zurückgezogen leben und gleichzeitig den Namen Richard Cantillon in Glanz erstrahlen lassen? Das mit dem Buch, wohl dem bedeutendsten ökonomischen Werk vor Adam Smith, hat dann ja ganz gut geklappt.

Bentham: Keine schöne Leiche (aber nützlich)
JEREMY BENTHAM (1748–1832)

Dass die sterblichen Überreste von Jeremy Bentham, auf einem Stuhl sitzend, gut anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tod immer noch jährlich an den Sitzungen des Senats des University College of London teilnehmen und dass im Protokoll steht: »Jeremy Bentham, present but not voting«, ist eine Erfindung. Es gibt diesen Protokolleintrag nicht, und verlässlich dokumentiert ist nur, dass Bentham 2013 teilnahm. Warum etwas Erfundenes hinzugefügt wurde, ist schwer zu verstehen. Sein Leben und Nachleben waren auch ohne Ausschmückungen romanhaft genug.

Es war bloß keiner jener abgeschmackten, vorhersehbaren Romane, in denen Kindheitserlebnisse alles, was später kommt, in die Spur setzen. 1760, im zarten Alter von zwölf Jahren, kam Jeremy Bentham als eine Art Wunderkind an das Queen’s College in Oxford und wurde in eine Stube mit Blick auf den Friedhof einquartiert. Albträume und Angst vor Gespenstern verfolgten ihn fast sein Leben lang. Was wurde aus dem traumatisierten Kind, das mit 16 Jahren das College als Bachelor of Arts verließ und dann noch Rechtswissenschaften studierte? Wurde er zum Spiritisten, der mit allerlei Hokuspokus die Geister zu beschwören versuchte? Keineswegs. Sein Verstand übernahm das Kommando in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Dass er sich vor Gespenstern fürchtete, ohne an Gespenster zu glauben, fand er mit nüchternem Blick interessant. Und 1769, mit 21 gerade volljährig und als Anwalt zugelassen, wagte er etwas Unglaubliches. Er setzte ein Testament auf und vermachte seinen Körper der medizinischen Ausbildung und Forschung. Das war vollkommen neu in einer Zeit, als die einzigen Leichen, an die man legal kommen konnte, um zu forschen und angehende Ärzte üben zu lassen, die von hingerichteten Verbrechern waren. Allerdings musste die Wissenschaft noch lange auf Benthams Leiche warten.

Benthams Familie war so vermögend, dass er kaum zu praktizieren brauchte, stattdessen machte er sich bald als Autor juristischer und rechtsphilosophischer Werke einen Namen. Dabei kannten seine Zeitgenossen nur einen Bruchteil dessen, was er schrieb. Bentham überließ seine Manuskripte häufig zu früh ihrem Schicksal, vieles wirkt unrund und ungeordnet. Manchmal mag er beim Schreiben an die britische Tagespolitik gedacht haben, nicht an die Nachwelt; manchmal mag es an dem Tempo gelegen haben, mit dem er sich immer neuen Ideen zuwandte und halbfertige Bücher hinter sich ließ wie Don Juan Frauen mit gebrochenem Herzen. Die meisten seiner ökonomischen Werke erschienen erst über hundert Jahre nach seinem Tod in einer dreibändigen Ausgabe.

Es hat immerhin dafür gereicht, unangefochten als Gründer einer philosophischen Schule zu gelten – des Utilitarismus –, aber ausgerechnet sein bekanntester Satz ist weder von ihm (sondern geht auf den italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria zurück), noch handelt es sich um eine brauchbare Maxime. »Das größte Glück der größten Zahl« sei der Maßstab guten Regierens. Ja, was denn nun? Sollen möglichst viele Leute ein bisschen glücklich sein? Oder dürfen ein paar Menschen unglücklich sein, wenn dafür zum Ausgleich viele sehr glücklich sind? Ist »das größte Glück der größten Zahl« nicht so sinnvoll wie ein Sportwettbewerb, bei dem man gleichzeitig »so hoch und so weit wie möglich« springen soll? Weder Bentham noch der Utilitarismus haben verdient, dass ausgerechnet dieser verunglückte Slogan an ihnen klebengeblieben ist.

Später drückte Bentham es anders aus: Die Politik soll das Glück der Bürger mehren und nicht mindern. Das hört sich heute nach einer selbstverständlichen Forderung an, aber zu Benthams Zeit war es das noch nicht – gerade eben war damals der Merkantilismus überwunden, dessen Vertreter sich besonders für den Zufluss von Edelmetallen in Volkswirtschaften interessierten, und neu war auch der Gedanke, dass das Glück aller gleichermaßen zählen sollte. Bis »gestern«, schrieb Bentham 1821, seien überall auf der Welt nur Tyrannen an der Macht gewesen, die sich bloß um ihr eignes Glück geschert hätten.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Wirtschaftswissenschaft im Fahrwasser von Benthams Utilitarismus. Erstens haben Ökonomen die Vorstellung übernommen, dass das Wohlergehen einer Gesellschaft nichts anderes ist als die Summe des Wohlergehens ihrer Mitglieder. (Dagegen mag es Ziele geben, die ein Gebilde wie eine »Nation« zum Beispiel militärisch erreichen könnte, ohne dass die Bürger davon etwas haben, ja vielleicht sogar zu ihren Lasten. So etwas mutet für Ökonomen seltsam an.) Zweitens schwebt Benthams Geist über fast jedem ökonomischen Modell, denn er meinte, Menschen würden ständig berechnen, wie sie ihre Freude mehren und ihr Leid verringern könnten. Das hört sich nach einem reichlich simplen Menschenbild an, ist es aber nicht. Bentham sieht, dass es viele verschiedene Quellen von Freude und Leid gibt: nicht nur Sinnesfreuden, sondern auch Freuden der Freundschaft, Freuden der Macht, Freuden der Einbildungskraft oder Freuden der Frömmigkeit. Ferner Leiden der Sinne, Leiden des schlechten Rufs, Leiden der Erinnerung, Leiden der Frömmigkeit und so weiter.

Reichtum kann direkt Freude bereiten, kann aber auch Mittel sein, um andere Freuden zu erlangen. So wie viele moderne Ökonomen stellte schon Bentham die Frage, wie sich materieller Wohlstand auf das Glück auswirkt. Solange besondere Umstände wie Krankheit oder anderes persönliches Unglück keine Rolle spielen, sollte von zwei Personen die reichere die glücklichere sein. Allerdings unterscheiden sich die Glücksniveaus der beiden weniger als ihr Reichtum, denn je reicher jemand schon ist, desto weniger wächst das Glück mit einem zusätzlichen Taler, Pfund, Dollar oder Euro. Für heutige Ökonomen ist das eine Selbstverständlichkeit (und heißt »abnehmender Grenznutzen des Geldes«), Bentham aber musste viel Mühe darauf verwenden, diesen damals neuen Gedanken zu erklären. Der Leser, schrieb er, solle sich tausend Bauern vorstellen, deren Einkommen zum Überleben reicht und für ein bisschen mehr. Und dazu einen König, der so reich ist wie die tausend Bauern zusammen, oder besser noch einen Prinzen anstelle des Königs, damit er die Mühe des Regierens nicht hat, sondern seinen Reichtum genießen kann. Dieser Prinz sei nun sicherlich glücklicher als ein durchschnittlicher Bauer – aber nicht tausendmal glücklicher. Selbst wenn er nur fünf- oder zehnmal glücklicher sei, wäre das schon bemerkenswert, meinte Bentham.

Wenn Geld nun aber den Armen mehr Glück bringt als den Reichen, dann müsste man konsequenterweise folgern, dass das Glück insgesamt am größten wäre, wenn alle gleich viel hätten. Und Bentham tat das auch. Was nicht heißt, dass er meinte, man solle den Reichen ihr Geld so lang wegnehmen, bis alle Unterschiede zwischen Armen und Reichen verschwunden seien.

Zum einen würde das dazu führen, dass niemand sich noch Mühe gäbe, seinen Besitz zu vermehren – was er sich erarbeitet, würde ihm ja sogleich wieder genommen. Zum anderen ist für das Glück nicht nur wichtig, wie viel Geld man hat, sondern auch, wie der Besitz zustande gekommen ist. Hinzugewonnenes Geld erhöht das Glück, verliert man aber dieselbe Summe, dann ist der Einfluss auf das Glück stärker (und natürlich negativ).

Wie bei allen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts ist die Quelle solcher psychologischer Einsichten die Introspektion, bestenfalls Alltagsbeobachtung. Seit den 1980er Jahren aber zeigen auch zahlreiche Experimente, dass Bentham recht hatte. Beispielsweise schenkten die Ökonomen Jack Knetsch und Jack Sinden einigen Studenten Lotterielose und boten ihnen an, sie für zwei Dollar zurückzukaufen. Genau die Hälfte der Studenten ging auf dieses Angebot ein, die andere Hälfte wollte die Lose lieber behalten. Andere Studenten bekamen keine Lose geschenkt, konnten sie aber für zwei Dollar kaufen. Das wollte nur ein knappes Viertel aus dieser Gruppe. Offensichtlich erschien das Los also denen attraktiver, die es schon in ihrem Besitz hatten, und es fiel ihnen schwer, sich davon zu trennen. Anders formuliert: Im Durchschnitt müssen die Gefühle derer, die das Los haben und weggeben, schwerer wiegen als die Gefühle derer, die das Los bekommen. Verlust beeinflusst das Glück stärker als Gewinn.

Ein ähnliches Experiment führte Jack Knetsch zusammen mit zwei späteren Ökonomie-Nobelpreisträgern durch: mit Daniel Kahneman, einem Psychologen, der 2002 ausgezeichnet wurde, und Richard Thaler, dem Preisträger von 2017. Die drei Forscher gaben einigen Studenten eine Kaffeetasse mit Universitätslogo, die sie nach Gutdünken behalten oder verkaufen konnten. Die Teilnehmer, die den Preis der Tasse nicht kannten, sollten zu einer Vielzahl von Beträgen jeweils angeben, ob sie für diesen Preis verkaufen würden oder nicht. Andere Studenten erhielten keine Tasse, hatten aber die Möglichkeit, eine zu kaufen. Der Betrag, den die Käufer gerade noch bereit waren zu zahlen, lag im Durchschnitt bei 2,45 Dollar, die Wertschätzung der Becherbesitzer für ihr Eigentum lag aber viel höher, bei 5,50 Dollar. Besitzen wir Dinge, erscheinen sie uns allein deshalb wertvoller: Das ist ein inzwischen oft bestätigtes Phänomen und bekannt als »endowment effect« (Besitztumseffekt).

Dass Bentham intuitiv erfasste, was Ökonomen fast zweihundert Jahre später experimentell nachwiesen, half ihm, diese Frage zu beantworten: Was ist eigentlich der Schaden, den ein Dieb anrichtet? Genauer gesagt: Was ist der volkswirtschaftliche Schaden? Das Opfer ist ärmer, aber der Dieb ist um denselben Betrag reicher. Heißt das nicht, dass bloß Einkommen innerhalb einer Volkswirtschaft umverteilt wird? Zugegeben, handelte sich um einen Einbruch, bei dem eine Scheibe eingeschlagen, ein Tresor gesprengt oder ein Wachhund vergiftet wird, dann ist klar, dass das Opfer mehr verliert, als der Dieb gewinnt. Aber Bentham war der erste Ökonom, der klar erkennen konnte, dass auch durch Taschendiebstahl ein Schaden entsteht – kein materieller Schaden für die Volkswirtschaft, aber doch ein Verlust an Glück, denn der Verlust schmerzt das Opfer mehr, als der Gewinn den Dieb erfreut.

Was also tun, damit weniger gestohlen wird? Benthams Antwort ist charakteristisch für sein ganzes Denken: Ganz offensichtlich, meinte er, wiegen beim Dieb die Freuden des Diebstahls schwerer als seine Leiden. Also muss man die Freuden verringern und die Leiden vermehren. Dies ist die Rechtfertigung dafür, Diebe zu bestrafen.

Nun handelte es sich zu Benthams Zeiten bei Gefängnissen wahrlich um Orte des Leidens: In feuchten und kalten Verließen waren die Häftlinge inkompetenten, teilweise grausamen Wärtern ausgeliefert, vegetierten schlecht ernährt und mitunter angekettet vor sich hin, kaum imstande zu der Zwangsarbeit, die ihnen auferlegt war. Das war nicht die Art von Strafe, die Bentham sich vorstellte. Wenn es schon Gefängnisse geben musste, dann sollten sie viel nützlicher sein!

Benthams jahrzehntelanger Traum von einer großen Gefängnisreform begann im Jahr 1786. Er unternahm die größte Reise seines Lebens und besuchte in Russland seinen Bruder Samuel, der damals im Dienst des Fürsten Potemkin stand (ja, eben jenes Beraters und Ex-Liebhabers von Katharina der Großen, nach dem die Potemkin’schen Dörfer benannt sind). Samuel Bentham war Ingenieur; er half Potemkin, große Territorien im Zarenreich wirtschaftlich zu erschließen und militärisch zu sichern. Als Jeremy bei ihm eintraf, beschäftigte ihn gerade der Bau von Binnenschiffen, die Baumaterial von Potemkins Besitz im weißrussischen Kritschew über die Sosch und den Dnjepr zu Werften am Schwarzen Meer bringen sollten.

An Geld mangelte es nicht, aber die Fachkräfte, die Samuel brauchte, gab es vor Ort einfach nicht. Also ließ er Engländer kommen, die die russischen Arbeiter anlernen und beaufsichtigen sollten. Doch bald stellte sich heraus, dass unter denjenigen, die England verließen, um in Weißrussland ihr Glück zu suchen, einige problematische Charaktere waren, die selbst der Aufsicht bedurften.

Daher plante Samuel eine zentrale Aussichtsplattform, um die herum die verschiedenen Gewerke, durch Holzzäune voneinander getrennt, tortenstückartig angeordnet sein sollten. Auf der Plattform sollte sich eine Art Pavillon befinden, der von außen nicht gut einzusehen war. Diese Anlage wurde nie gebaut, weil Potemkin seinen Besitz verkaufte und Samuel für andere Aufgaben einsetzte. Jeremy aber war Feuer und Flamme und begann, Samuels Idee zu einem völlig neuartigen Gefängnis, dem »Panoptikum«, weiterzuentwickeln: kreisförmig mit einem Turm in der Mitte, von dem aus ein Inspektor alle Zellen im Blick haben konnte, ohne dass die Gefangenen – und die Wärter, die dem Inspektor unterstellt waren – wissen konnten, ob sie gerade überwacht wurden.

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