Kitabı oku: «Zu Keynes passt das nicht», sayfa 2

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Das ist zunächst einmal effizient: Zwar ist es unmöglich, alle Gefangenen gleichzeitig zu beobachten, aber die sollten sich klugerweise trotzdem so verhalten, als würde jeder permanent beaufsichtigt. Vor allem aber knüpfte Bentham große Erwartungen an die Wirkung auf die Kriminellen: »Verbesserung der Moral – Erhaltung der Gesundheit – Belebung des Arbeitseifers – Verringerung der Belastungen für die Allgemeinheit (…) – und all dies durch eine simple architektonische Idee!«

Das Panoptikum war Anlass für eine Fülle von scharfsinnigen Analysen durch professionelle Bentham-Interpreten. Manche meinten, in der psychologischen Naivität Benthams, der sich schon als Herr über zahlreiche Gefängnisse wähnte, die nach seinen Vorstellungen gebaut werden und viele Häftlinge bessern sollten, ein Anzeichen für das Asperger-Syndrom zu erkennen. Andere sahen den Reformer, der die Zellen gut lüften und mit fließendem Wasser versehen wollte. Oder den kühlen Kalkulierer, der die Gefangenen nur deshalb ausreichend und gesund ernähren wollte, damit sie zu sechzehn Stunden Arbeit am Tag in der Lage waren. Oder den intelligenten Ökonomen, der den Gefängnisdirektoren Anreize setzen wollte – ihre Bezahlung sollte davon abhängen, wie viele Sträflinge die Haft überleben.

Man kann das Skurrile herauspicken, etwa Benthams Idee, dass in dem Wachturm nicht nur der Inspektor wohnen sollte, sondern auch seine Familie, denn Frau und Kinder würden ja sonst nutzlos aus dem Fenster schauen, während das im Wachturm einen produktiven Sinn hätte. Oder man kann Bentham zum Bannerträger einer philosophischen Rechtfertigung des überwachenden und strafenden Staates machen. Die undurchdringliche Menge von Literatur zum Panoptikum verstellt uns den Blick auf den Menschen Bentham; an anderen Stellen seiner Biografie sehen wir ihn wieder deutlicher.

Bentham liebte Tiere, genauer: alles, was vier Beine hat, und das schloss die Mäuse ein, die er unbehelligt durch sein Arbeitszimmer tanzen ließ. Allerdings hielt er sich auch The Reverend Sir John Langbourne und – ohne dass die Namen überliefert wären – weitere Katzen, ein Umstand, der, wie sein Biograf Leslie Stephen bemerkte, schwer mit dem Prinzip vom größten Glück der größten Zahl in Einklang zu bringen war. Einen wichtigeren Grundgedanken des Utilitarismus aber wandte Bentham in der Tat auf Tiere an: Da sie Glück und Leid empfänden, sei es wichtig, wie gut es ihnen gehe.

Einer der bekanntesten utilitaristischen Philosophen unserer Zeit, Yew-Kwang Ng, führt Benthams Gedanken zum Tierschutz weiter, wenn er nach einer Antwort auf die Frage sucht, ob Fleischkonsum moralisch zu vertreten ist. Würden wir Hühner, Schweine und Rinder nicht essen, dann gäbe es die meisten von ihnen einfach nicht, denn nur wenige Menschen kämen auf die Idee, ein Angusrind bis zu seinem Tod durch Altersschwäche als Haustier zu halten. Ist es nun gut, dass es die vielen Nutztiere gibt, die wir schließlich schlachten und essen? Wenn wir von Gesundheits- und Umweltproblemen absehen, dann hängt das, meint Ng, davon ab, ob das Glück der Tiere während ihrer Lebenszeit ihr Leid überwiegt. Schlachtvieh zu halten ist aus utilitaristischer Sicht vertretbar, wenn es den Tieren gut geht, bevor wir sie essen.

Nun könnte man auch argumentieren, Tiere hätten »natürliche Rechte«, aber das hielt Bentham, ob es nun Tiere oder Menschen betraf, für »Unsinn auf Stelzen«. Rechte waren für ihn nie naturgegeben, alle Regeln hatten nützlich zu sein, alle Rechte waren damit zu begründen, dass sie Glück mehren und Leid mindern konnten. Ein Beispiel sind Benthams Argumente für das Frauenwahlrecht: Männer kennen manche Leiden von Frauen nicht (etwa die Mühen der Schwangerschaft und Geburtsschmerzen), so dass ihnen das Urteilsvermögen in Fragen fehlt, die Frauen betreffen. Oder sie haben gar Interessen, die denen der Frauen entgegengesetzt sind, zumindest gilt das für die Männer, die Freude daran haben, ihre Frauen zu schlagen. Es ist daher gut, wenn Frauen ihre Interessen selbst vertreten.

Und so argumentiert Bentham auch gegen den Kolonialismus, den er nicht etwa ablehnte, weil die Völker in den Kolonien ein natürliches Recht auf Unabhängigkeit hätten, sondern weil sie besser als die Kolonialherren in der Lage seien, ihre eigenen Interessen zu erkennen und ihr Glück zu mehren. Er war gegen die Bestrafung von Homosexuellen, denen ihre Handlungen ja offensichtlich Freude bereiteten, während sie niemandem schadeten. Er war gegen die Todesstrafe, für Bankenregulierung, für Pressefreiheit, für eine aktive Rolle des Staates im Bildungs- und Gesundheitswesen und schlug einen internationalen Gerichtshof vor.

Oft versuchte er, es nicht bei der Theorie zu belassen, sondern die Politik direkt zu beeinflussen. So bot er sich dem vierten US-Präsidenten James Madison ebenso als Autor fortschrittlicher Gesetzeswerke an wie dem russischen Zaren Alexander I.; Portugal schließlich zeigte sich interessiert, aber dort war, als er sein Werk endlich fertig hatte, die liberale Revolution schon wieder Geschichte.

Mehr Erfolg sollte einer seiner letzten Initiativen beschieden sein. In den 1820er Jahren wurden im Vereinigten Königreich pro Jahr etwa 75 Verbrecher hingerichtet – viel zu wenig für die Ausbildung der Ärzte. Die Institute kauften die meisten Leichen den finsteren »Auferstehungsmännern« ab und stellten keine Fragen, denn sie ahnten ja doch, dass ihnen frisch Beerdigte geliefert wurden, die man nachts ausgegraben hatte. Die Angehörigen wussten davon natürlich nichts, allenfalls die bestochenen Friedhofswärter.

1826 schickte Bentham dem britischen Innenminister einen Gesetzentwurf, der an die aktuelle Diskussion über Organspenden erinnert. Heute schlagen einige Ökonomen vor, das Ausfüllen eines Spenderausweises so zu belohnen: Wer bereit ist, postmortal zu spenden, der soll bevorzugt werden, falls er selbst eine Organspende benötigt. Bentham meinte, in Krankenhäusern sollten nur Patienten behandelt werden, die einverstanden waren, sich im Todesfall sezieren zu lassen. Er vergaß nicht, bei der Gelegenheit sein eigenes Testament zu erwähnen:

Wie gering auch die Dienste gewesen sein mögen, die meine Kräfte mir erlaubten, der Menschheit zu meinen Lebzeiten zu leisten, so bleibe ich doch nach meinem Tode nicht völlig nutzlos.

Der Minister antwortete höflich, zog es allerdings vor, nicht an dem Tabu zu rühren und eine öffentliche Diskussion zu vermeiden.

Doch damit blieben Leichen knapp, und 1828 kamen zwei besonders durchtriebene Gesellen in Edinburgh, William Burke und William Hare, auf die Idee, sich das Bestechungsgeld und das mühevolle Graben zu sparen. Sie töteten sechzehn Menschen, bevor sie aufflogen und selbst auf dem Seziertisch landeten (Burkes Skelett wird bis heute im Anatomischen Museum der Edinburgh Medical School aufbewahrt). Dies und einige Nachahmer, die nun ebenfalls »Burking« betrieben, erhöhten die Bereitschaft, auf Benthams Gesetzentwurf zurückzukommen, unterstützt von einflussreichen Bentham-Anhängern im Parlament. Die Einverständniserklärung von Krankenhauspatienten fiel allerdings unter den Tisch; der »Anatomy Act« erlaubte das Sezieren von Leichen aus Armenhäusern, auf die Angehörige, die ein Begräbnis hätten bezahlen können, binnen 48 Stunden nach dem Tod keinen Anspruch erhoben.

Wenige Wochen bevor dieses Gesetz in Kraft trat, starb Bentham im Alter von 84 Jahren. Zwei Tage später, am 8. Juni 1832, erhielten Freunde und ausgewählte Bentham-Bewunderer die Einladung zu seiner Leichenöffnung, vorgenommen und von einem Vortrag begleitet durch seinen Freund Dr. Thomas Southwood Smith. Jeder der Eingeladenen durfte zwei weitere Personen mitbringen.

Gut möglich, dass sich Benthams Freunde zum ersten Mal begegneten, denn Bentham pflegte sie nur einzeln zu empfangen. Dabei war er ausgesprochen wählerisch – als die berühmte Madame de Staël England besuchte, ließ sie ihm ausrichten, sie werde niemanden aufsuchen, solange sie nicht Bentham getroffen habe. Er bedaure, ließ Bentham antworten, in dem Fall würde sie eben niemanden treffen.

Die Leiche zu sezieren war nicht die einzige Aufgabe, die Dr. Southwood Smith zu erledigen hatte. Bentham hatte sein Testament um einen wichtigen Punkt erweitert: Das Skelett sollte mit Benthams ausgestopftem Sonntagsanzug bekleidet auf einen Stuhl gesetzt werden; darauf war der vorher vom Leib getrennte und mumifizierte Kopf zu setzen. Bentham hatte das lange vorbereitet: Er hatte seinen Ofen für Mumifizierungs-Experimente zur Verfügung gestellt, und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens trug er die Glasaugen mit sich herum, die in seinen getrockneten Kopf eingesetzt werden sollten.

In einem nachgelassenen Manuskript, das erst 1995 veröffentlicht wurde, wirbt Bentham für die allgemeine Übernahme dieses Verfahrens: den Körper sinnvollen Verwertungen zu überlassen, aus dem Kopf dagegen eine »Auto-Ikone« zu machen, ein Wort, das Bentham erfunden hatte: So wie der Autor in der Autobiografie sein eigenes Leben beschreibt, so sei die Auto-Ikone »ein Mensch, der sein eigenes Ebenbild ist«. Wohin aber mit den Köpfen? Er erwähnt die platzsparende Anhäufung von Kanonenkugeln in Munitionsarsenalen, spricht sich dann jedoch gegen diese Pyramidenform aus, da man so nur einen Teil der Auto-Ikonen sehen könne, im Gegensatz zu einer Unterbringung in Wandregalen, oder sogar im Freien, wenn man sie mit einer Schicht Kopalharz vor dem Regen schützt. Wie auch immer, anstelle von Gräbern könnten die Hinterbliebenen dann die Auto-Ikonen besuchen. Die Gelehrten sind sich nicht einig, ob es sich bei dieser Schrift um eine Satire handelt oder nicht.

Benthams letzter Wille jedenfalls wurde getreulich erfüllt. Die Knochen sind mit Kupferdraht verbunden, mit Stroh und diversen anderen Materialien umhüllt, zum Schutz vor Ungeziefer dienten Lavendel und Naphthalin. Wunschgemäß behielt Bentham auch seinen Spazierstock »Dapple« (nicht der einzige Gegenstand, den Bentham liebevoll benannte, von seiner Teekanne ist überliefert, dass er sie »Dickey« taufte). Dr. Southwood Smith war ein seriöser Arzt, aber ein stümperhafter Konservator. Mit einer durch Schwefelsäure verstümmelten Nase, viel zu schnell mit einer Luftpumpe dehydriert und erbärmlich geschrumpft, hatte der Kopf jede Ähnlichkeit mit Bentham verloren – bevor ich ein Foto davon in Vorlesungen zeige, gebe ich zarten Gemütern die Gelegenheit, sich die Hand vor die Augen zu halten (was natürlich keiner macht). Schon bald wurde ein ansehnlicher Wachskopf auf den Körper gesetzt.

Benthams Schädel aber diente 72 Jahre nach seinem Tod noch einmal der Wissenschaft: Der Statistiker Karl Pearson und seine Mitarbeiterin Marie A. Lewenz begründeten 1904 ausführlich, warum an der Vermutung, zwischen Intelligenz und Schädelvolumen bestehe ein Zusammenhang, nichts dran ist. Sie stützen sich auf umfangreiche Datensammlungen, aber um der Anschaulichkeit willen stellen sie Bentham als prominenten Fall besonders heraus. Sie berichten detailliert über Benthams Schädel, der sich als ziemlich durchschnittlich entpuppte.

1992 besuchte Bentham Deutschland. Er war Teil der Ausstellung »Metropole London. Macht und Glanz einer Weltstadt 1800–1840«, unter der Schirmherrschaft von Königin Elizabeth II. Zu den anderen 704 Exponaten, die in Essen zu sehen waren, gehörten die Galionsfigur der H. M. S. London, einige Modelle der ersten Dampfmaschinen und Lokomotiven, ein Modell der ersten Rechenmaschine von Charles Babbage, ein mechanischer Schrittzähler für Pferde sowie eine Medaille, die an das Ende der Sklaverei in den britischen Kolonien 1834 erinnerte.

Damals lag Benthams mumifizierter Kopf noch zwischen seinen Füßen. Danach wurde er eine Zeitlang separat in einer Kiste aufbewahrt, die kürzlich für eine DNA-Analyse geöffnet wurde. (Hatte er wirklich Asperger? Das Ergebnis steht noch aus.) Eine Journalistin beschrieb den Geruch des Kopfes als Mischung aus Essig, Füßen, verdorbenem Trockenfleisch und feuchtem Staub.

Lists letzter ökonomischer Triumph
FRIEDRICH LIST (1789–1846)

GEGENWÄRTIGE:

Herr Landgerichtsarzt Dr. Wieser

Herr Dr. Pfretschner

Chirurg Engelhart

BEISITZER:

Josef Walter und Peter Schürle

Nachdem sich die Kommission versammelt hatte, wurde der Kadaver mit aller Vorsicht entkleidet, auf das Sektionsbrett gelegt und dann vorgenommen folgender

GERICHTLICHER LEICHENBESCHAU

Die Leiche ist aufgedunsen und von Kälte etwas erstarrt, jedoch ohne gefroren zu sein. Sämtliche Gelenke der Gliedmaßen sind steif, am Rücken an den Seiten der Brust und an den äußern Flächen der Arme zeigen sich rotblaue Totenflecke. Der Körper des Verunglückten mißt fünf Schuh und vier Zoll, ist fett, die Statur gedrungen, die Schultern breit, der Hals ist kurz. Der Schädel ist voluminös, die Stirne ist hoch und gewölbt, die Physiognomie, so viel man jetzt noch erkennen kann, geistreich und ausdrucksvoll, die Regenbogenhaut der Augen ist lichtbraun, die Haare sind schütter, lichtbraun mit einigen grauen untermischt, der Backenbart ist auffallend grau, der Schnurrbart jedoch rötlich. An der Mitte des Scheitels, an welcher Stelle das Haupt von Haaren entblößt ist, ist eine dreischenklige gerissene Wunde, deren Ränder nach außen gewendet sind; zwei Schenkel dieser Wunde sind ¾ Zoll lang, der dritte, nach vorne gerichtet, bemißt ½ Zoll. – Die Finger der linken Hand sind um den Lauf der Pistole krampfhaft zusammengedrückt, so daß letztere nur mit Mühe losgewunden werden kann.

GUTACHTEN

die auffallende Schädelbildung, der pathologische Zustand der Leber und der Milz, die ungeheure, den Kreislauf notwendig störende Ansammlung von verdichtetem Fett im Innern der Bauchhöhle und des Thorax tun dar, daß eine offenbare Anlage zu Geisteskrankheiten, namentlich zur Schwermut vorhanden gewesen sei.

Im letzten Absatz dieses Sektionsbefundes spiegelt sich erstens das medizinische Wissen des Jahres 1846 und zweitens hört es sich nicht gerade nach einer Nettigkeit dem Toten gegenüber an, auch wenn es durchaus so gemeint ist. Denn Selbstmördern stand eigentlich kein christliches Begräbnis zu. Aber, wie das kaiserlich-königliche Landgericht Kufstein an das fürstbischöfliche Pfarramt schrieb: »Aus dem Sektionsbefunde geht hervor, daß das obgenannte Individuum an einem solchen Grade von Melancholie gelitten habe, daß ein freies Denken und Handeln unmöglich war und daß er somit nicht als Selbstmörder zu betrachten sei. Es wird nun ersucht, den Kadaver dieses Herrn morgen auf die gewöhnliche Art auf dem Gottesacker beerdigen zu lassen.«

Und so geschah es. Allen Beteiligten mag beim Gedanken, dass der Tote anonym außerhalb der Friedhofsmauern verscharrt werden könnte, mulmig gewesen sein angesichts seiner Prominenz: Der »Totgefundene«, so hatte das Landgericht festgestellt, sei »unzweifelhaft der sehr bekannte deutsche Patriot Friedrich List von Augsburg«. Hinter dem Gutachten der Ärzte und dem guten Willen des Landgerichts steckte eine Vorahnung des Nachruhms von Friedrich List. Diesen Nachruhm gibt es zweifellos: 25 Schulen, 114 Straßen und drei Plätze sind in Deutschland nach List benannt, außerdem eine Straße in Reading (Pennsylvania), wir werden noch sehen warum.

Schwermut, von den Ärzten gutmütig dem Leichnam angesehen, ist auch nicht die einzige mögliche Ursache dafür, dass List sich erschoss. Und das Leben eines Melancholikers hatte er ohnehin nicht geführt, ganz im Gegenteil.

Geboren wurde er 1789, im Jahr der Französischen Revolution, wie kein Biograf zu bemerken vergisst. Schon nach dem Abgang vom Lyzeum im Alter von fünfzehn Jahren brachte er die Kraft auf, den einfachen Weg abzulehnen und nicht Weißgerber im väterlichen Handwerksbetrieb zu werden. Lists Vater war ein angesehener Bürger, der einige Ehrenämter in der Stadt Reutlingen bekleidete und es bis zum Vizebürgermeister brachte; die Weißgerber belieferten mit ihrem feinen Leder nicht die Sattler und Schuster, sondern die Buchbinder und Handschuhmacher, und keinesfalls nutzten sie Urin zum Enthaaren. Aber auch sie hatten die stinkenden Fleisch- und Fettreste von den gründlich in Wasser eingeweichten Tierhäuten zu schaben, und wer weiß, ob Friedrich List, wenn er es wirklich gewollt und mit mehr Fleiß versucht hätte, sich geschickter hätte anstellen können bei seinen ersten Versuchen im Handwerk. Jedenfalls begann er mit sechzehn eine Ausbildung in einem Bereich, der ihn wirklich interessierte, in der Staatsverwaltung.

List lernte rasch, kam auf der mittleren Beamtenlaufbahn als »Schreiber« so schnell voran, wie es ging, und als er für eine Prüfung bloß das erforderliche Mindestalter noch nicht erreicht hatte, überbrückte er die Zeit als Gasthörer einiger juristischer Vorlesungen an der Universität Tübingen. Er hatte erlebt, wie die Verwaltung das Land lähmte: Die Schreiber waren mächtig, und sie wurden nach der Zahl der Seiten bezahlt, die sie schrieben – ein frühes Beispiel dafür, wie vermeintliche Leistungsanreize nach hinten losgehen, denn die Beamten blähten die Vorgänge mächtig auf. List warb für Reformen und für eine bessere Ausbildung der Beamten. Aber nicht einmal die Universität bot alles, was ihm dafür nötig erschien. Lists Bemühungen mündeten in die Einrichtung einer neuen staatswissenschaftlichen Fakultät; wenig später schlug er sich selbst als einen der fünf Professoren dieser Fakultät vor. Mit Erfolg. Für die Ernennung bedankte sich der gerade 28-Jährige gehörig beim Württembergischen König:

Tief gerührt durch diese große Gnade wage ich es, Eurer Königlichen Majestät die alleruntertänigste Versicherung zu Füßen zu legen, daß mein Dankgefühl gegen Allerhöchstselbigen der tiefen Verehrung gleichkommt, womit ich gegen den besten Vater des Vaterlandes durchdrungen bin.

Geruhen Eure Königliche Majestät, die aufrichtige Versicherung aufzunehmen, daß mein Bestreben, auf dieser Stelle Gutes zu wirken, nicht geringer sein wird, als gegenwärtig meine Besorgnis ist, ob meine schwachen Kräfte reichen werden, das allerhöchste Vertrauen in vollem Maß zu rechtfertigen und die Hindernisse zu bekämpfen, welche jeder guten Sache entgegenstehen.

Ich ersterbe in tiefster Ehrerbietung

Euer Königlichen Majestät

alleruntertänigster treu gehorsamster

F. List, Professor

Lists Dankbarkeit war echt – er hatte unbedingt Professor werden wollen. Dafür nahm er sogar in Kauf, schlechter bezahlt zu werden als zuvor in der Verwaltung. Auch sonst hatte es der junge Professor List nicht leicht. Er hatte kein abgeschlossenes Studium, nicht einmal einen Schulabschluss, der zum Studium berechtigt hätte, geschweige denn eine Promotion; der Senat der Universität, der an der Berufung de facto nicht beteiligt war, sah in ihm einen homo illiteratus. Er hatte noch nie vor Publikum gesprochen, und besonders schwer fiel ihm die öffentliche Antrittsvorlesung, denn sie war auf Latein zu halten, eine Sprache, von der List als mittelmäßiger Schüler zweifellos gehofft hatte, sie würde in seinem Leben keine Rolle mehr spielen. Und die Studenten witterten einen »Ministerknecht«, nicht ahnend, dass sie von einem künftigen politischen Gefangenen des Königreichs sprachen.

Der Professor der Staatsverwaltungspraxis hielt es für seine Pflicht, sich nicht nur über Verwaltungsreform, sondern auch über die Verfassung Gedanken zu machen. Er hatte nichts Revolutionäres im Sinn, sondern eine konstitutionelle Monarchie, aber er trat doch einer Reihe von Leuten auf die Füße, und die sahen bald die Chance, List einer Pflichtverletzung zu beschuldigen. List hatte nämlich nach der lähmenden Staatsverwaltung ein weiteres ökonomisches Problem entdeckt, dem er mit Leidenschaft entgegenzutreten bereit war, und zwar die Zollgrenzen, die Deutschland durchzogen.

Württemberg hatte gerade einmal 1,4 Millionen Einwohner, von den 39 Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes waren nur drei größer, nämlich Bayern, Preußen und Österreich; die Herzog- und Fürstentümer erreichten allenfalls sechsstellige Einwohnerzahlen, das Fürstentum Hohenzollern-Hechingen bloß zwanzigtausend. Man darf sich das Verhältnis zwischen diesen Staaten nicht wie das zwischen den deutschen Bundesländern heute vorstellen. Als List eine Frau im benachbarten Baden heiraten wollte, musste er den Württembergischen König um die Erlaubnis für eine Heirat im Ausland ersuchen. Und dann gab es da die Zölle, die den Warenaustausch über die Grenzen der kleinen Staaten hinweg hemmten.

Ohne königliche Erlaubnis nutzte er die Ostermesse 1819 in Frankfurt am Main, also wohlgemerkt im Ausland, um mit einigen Kaufleuten den Deutschen Handels- und Gewerbeverein zu gründen. List wurde zum Geschäftsführer gewählt. Wortgewaltig formulierte er die Bittschrift des Vereins an die Bundesversammlung. Darin heißt es zum Beispiel: »Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen. Wer aber das Unglück hat, auf einer Grenze zu wohnen, wo drei oder vier Staaten zusammenstoßen, der verlebt sein ganzes Leben mitten unter feindlich gesinnten Zöllnern und Mautnern; der hat kein Vaterland.«

Die Aktivitäten im Handels- und Gewerbeverein kosteten List die Professur; er kam dem Rauswurf durch Rücktritt zuvor. Mundtot war er damit nicht. Als Politiker – die Reutlinger hatten ihn 1820 in den Württembergischen Landtag gewählt – bekam er mit, was die Wähler in seiner Heimatstadt bedrückte. 1821 fasste er das mit einigem Furor in einer Petition zusammen: »Eine von dem Volk ausgeschiedene, über das ganze Land ausgegossene, in den Ministerien sich konzentrierende Beamtenwelt, unbekannt mit den Bedürfnissen des Volkes und den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens, in endlosem Formenwesen kreisend, behauptet das Monopol der öffentlichen Verwaltung, jeder Einwirkung des Bürgers, gleich als wäre sie staatsgefährlich, entgegenkämpfend, ihre Formenlehren und Kastenvorteile zur höchsten Staatsweisheit erhebend, eng unter sich verbündet durch die Bande der Verwandtschaft, der Interessen, gleicher Erziehung und gleicher Vorurteile. Wo man hinsieht, nichts als Räte, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab.«

Die Schimpftirade ging noch eine Weile so weiter, dann folgten vierzig Vorschläge zur Reform der Gemeindeverwaltung. Dass List dafür den Landtag als Plattform haben sollte, passte der Regierung gar nicht, sie bearbeitete die Abgeordneten, bis eine Mehrheit Friedrich List ausschloss. Damit nicht genug – es fand sich ein Richter, der urteilte, List habe das Pressegesetz verletzt, denn List hatte die Petition in einer Druckerei vervielfältigen lassen und war von einem Drucker, der sich eine Belohnung erhoffte, angezeigt worden. Ferner beleidige die Petition Beamte, Richter und auch den König. Mit zehn Monaten Festungshaft sollte das alles gesühnt werden. Der Verurteilte floh aus Württemberg, aber er scheiterte mit seinen Versuchen, in Straßburg und der Schweiz eine bürgerliche Existenz aufzubauen oder wenigstens wieder Professor zu werden.

1824, gut zwei Jahre nach seiner Flucht, kehrte List freiwillig nach Württemberg zurück. Er hoffte, dass dies den König gnädig stimmen würde, aber er hatte umgehend seine Strafe in der Festung Hohenasperg anzutreten. Nach fünf Monaten wurde er vorzeitig entlassen, musste aber zusagen, die württembergische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Diesmal wählte er ein Exil in Übersee: die Vereinigten Staaten von Amerika, ein junges, kaum fünfzig Jahre unabhängiges Land. »Auf! Heraus aus dem alten Quark 500jähriger Verruchtheit in die Neue Welt«, notierte er. Ohne die Jahre in den USA würden vielleicht ein paar verstreute Württemberger Regionalgeschichtler noch den Namen List kennen, aber gewiss kein einziger Ökonom. Dabei fing List dort denkbar unakademisch und unpolitisch an: Er kaufte eine Farm und zwölf Kühe. Kein Jahr hielt er durch; viel Kapital bräuchte man, klagte er, um von der Landwirtschaft leben zu können, oder man müsse an harte Arbeit gewöhnt sein. Aber er hatte Glück, im August 1826 konnte er die Redaktionsleitung des Readinger Adler übernehmen, einer deutschsprachigen Wochenzeitung mit 2500 Abonnenten.

Diese ordentlich bezahlte Tätigkeit füllte List bald nicht mehr aus. Ein neuer Kanal, der die Blue Mountains mit Reading und Philadelphia verband, weckte seine unternehmerische Phantasie. Er entdeckte eine neue Kohle-Lagerstätte und konnte das Land günstig erwerben. Aber wie sollte die Kohle zum Kanal transportiert werden? List und sein Kompagnon sammelten genug Kapital, um mit der Little Schuylkill Navigation, Railroad and Coal Company eine der ersten Eisenbahnstrecken in den USA bauen zu können.

Der zeitweilige Erfolg als Unternehmer hielt ihn nicht davon ab, weiter publizistisch aktiv zu sein. Er schrieb über wirtschaftspolitische Fragen und plante ein Lehrbuch, The American Economist. Daraus wurde zunächst nichts, aber immerhin hatte er reichlich Material, auf das er zehn Jahre später, beim zweiten Anlauf zu einem Buch, zurückgreifen konnte. Er mischte sich auch in den amerikanischen Wahlkampf ein und unterstützte 1828 den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Andrew Jackson. Die Stimmen der deutschen Einwanderer trugen zu dessen Wahl bei, und Jackson sollte bald Gelegenheit haben, sich zu revanchieren. Denn nach fünf Jahren in Amerika packte List das Heimweh. Jackson war bereit, ihm zu einem Posten als Konsul in einem der deutschen Staaten zu verhelfen.

Dass er nun als amerikanischer Staatsbürger und Repräsentant nach Deutschland zurückkehrte, hinderte seine alten Gegner aus Württemberg nicht daran, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen: Sie erreichten, dass der Hamburger Senat ihn als Konsul ablehnte. Die Sachsen aber waren durch Märchen über den gefürchteten Liberalen weniger leicht zu beeindrucken, List wurde schließlich zum amerikanischen Konsul im Königreich Sachsen ernannt. Ein Gehalt wurde ihm dafür nicht gezahlt, doch List hatte schon einen Plan, wie er seinem deutschen Vaterland etwas Gutes tun und gleichzeitig Geld verdienen konnte.

Was die Zollgrenzen betraf, war Deutschland schon auf einem guten Weg, ab 1834 sollte dafür der Deutsche Zollverein sorgen. Aber etwas fehlte noch, um die Staaten wirklich zusammenrücken zu lassen und den innerdeutschen Handel zu fördern: eine gute Infrastruktur.

»Der Staat Pennsylvanien hat im Verlaufe der verflossenen acht Jahre nicht weniger als 30 Millionen Taler Schulden gemacht, um Kanäle und Eisenbahnen anzulegen, und er hält sich darum nicht für ärmer, sondern für reicher«, schrieb List. Und so trommelte er nun für Eisenbahnlinien wie die zwischen seinem Wohnort Leipzig und Dresden. Die wurde im April 1837 eröffnet, aber seine Hoffnungen auf einen Direktorenposten zerschlugen sich, es blieb bei einer einmaligen Vergütung und einem vergoldeten Silberpokal, den ihm Leipziger Kaufleute stifteten. So zieht er 1838 mit seiner Familie nach Paris, verdient sein Geld als Journalist, versucht ein französisches Eisenbahnnetz zu initiieren und findet Zeit, endlich sein großes Buch zu schreiben: Das nationale System der politischen Ökonomie.

Wenn dieses Buch immer noch gelegentlich zitiert wird, dann weil List darin eine protektionistische Handelspolitik fordert, eine Politik, die junge heimische Industrien gegen übermächtige ausländische Konkurrenz schützt. Das macht List heute in Ländern wie China ausgesprochen populär. Aber wie passen Lists Forderungen zu seinem alten Kampf gegen die Zollgrenzen, die Deutschland durchschnitten? Die Antwort darauf ist, dass List den Freihandel zwischen solchen Ländern will, die ungefähr gleich entwickelt sind. Dann ist es gut für alle, wenn sie sich spezialisieren und unbehindert miteinander handeln. In seiner typischen Art beschrieb List das Beispiel dreier Regionen, von denen jede ein Gut herstellt und die durch Zölle nicht gehindert werden sollten, sie miteinander zu tauschen: »Hier ist Kornland, dort wächst nichts als Holz, in jenem Tale kann man nur Wein mit Erfolg pflanzen. Sehen Sie sich um, mein Freund, in Ihrer nächsten Umgebung und beantworten Sie mir dann die Frage: ob Gewinn zu hoffen wäre, wenn die Leute in der Korngegend sich verabreden würden, dem Weinländer seinen Wein und dem Waldeigentümer sein Holz liegen zu lassen? Die ganz natürliche Folge hiervon wäre die, daß ein Teil des Kornlands zu Wald und Weinberg, ein Teil der Waldungen und Weinberge aber zu Kornland umgeschaffen würde, der Natur zum Trotz und zum höchsten Schaden einer jeden Gegend.«

Doch dieses Argument ist zu einfach in einer dynamischen Welt, in der nicht unverrückbar feststeht, in welchem Land welche Güter produziert werden können. Denn wie kann sich in einem Agrarland eine Industrie entwickeln, wenn die Unternehmer stets gezwungen sind, nur das zu produzieren, was sie gerade am besten können? Sollte auf ewig die Hälfte der europäischen Industrieproduktion auf England entfallen wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts? Das wäre nach Lists Überzeugung nur zu ändern, wenn junge Industrien durch einen Zoll geschützt werden; »Erziehungszoll« nennt man das heute. Das war keine ganz neue Idee; sie geht auf Alexander Hamilton zurück, den ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten. Das war damals – wie Deutschland – ein Land, dessen Industrie es schwer hatte gegen die übermächtige englische Konkurrenz. Was die USA exportierten, waren die Produkte eines Entwicklungslandes: Baumwolle und Tabak. 1791 prägte Hamilton den Begriff »infant industry« für jene Wirtschaftszweige, die dagegen noch des Schutzes bedürfen. List erweiterte diese Idee um eine historische Analyse, in der er ausführlich beschreibt, wie viele Nationen ihre erfolgreichen Wirtschaftszweige zunächst unter dem Schutz von Zöllen entwickelten. Wenn dieselben Länder nun für Freihandel eintreten, so List, dann verwehren sie den weniger entwickelten Staaten den Weg, den sie selbst erfolgreich gegangen sind.

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